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Einige Bemerkungen zur poststrukturalistischen ... - Roger Behrens

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Seite 1<br />

<strong>Einige</strong> <strong>Bemerkungen</strong> <strong>zur</strong> <strong>poststrukturalistischen</strong> Theoriemode am<br />

Anmerkung 1:<br />

Beispiel von Gilles Deleuze<br />

<strong>Roger</strong> <strong>Behrens</strong><br />

Freibaduniversität, gesendet am 1. August 2007, 14.00 bis 15.00 Uhr; Sprechzeit:<br />

44:00 Minuten; Musik: Stan Getz und João Gilberto, ›Vivo sonhando‹; Herbie<br />

Hancock, ›Water Torture‹.<br />

Anmerkung 2:<br />

Dieser Text ist in seinen Ausführungen vorläufig. Er ist in den Hauptabschnitten<br />

identisch mit einem im März 2005 für eine Hamburger Lesegruppe verfassten Papier.<br />

Geplant ist eine vollkommen überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags.<br />

* * *<br />

Der französische Philosoph Gilles Deleuze gehört zusammen mit seinem<br />

Freunden und Kollegen Michel Foucault und Félix Guattari zu den<br />

einflussreichsten Vertretern des so genannten Poststrukturalismus,<br />

einer Theorie, die sich – wie der Name unschwer erahnen lässt – aus dem<br />

Strukturalismus heraus entwickelt hat. Grundlegend für den<br />

Strukturalismus ist – auch das verrät freilich das Wort – die Struktur,<br />

und das heißt die Annahme, dass gesellschaftliche Beziehungen<br />

wesentlich durch Strukturen geprägt und definiert werden, wobei etwa<br />

für die Ethnologie Strukturähnlichkeiten zwischen gesellschaftlichen<br />

oder kulturellen Zusammenhängen auffällig waren, die auf den ersten<br />

Blick vollkommen unterschiedlich organisiert schienen (etwa in Bezug<br />

auf Sitten, Geschlechterverhältnisse, Politik, Recht, Ökonomie etc.). Als<br />

Begründer des Poststrukturalismus gilt Roland Barthes (1915 bis 1980),<br />

der Ende der sechziger Jahre mit seinem Essay ›Der Tod des Autors‹<br />

Aufsehen erregte. Seine These in diesem Essay: Es gebe überhaupt keine<br />

Autorität im Sinne eines schöpferischen, originale Werke<br />

hervorbringenden Autors als autonomer Urheber, sondern jede<br />

Textproduktion sei eine Verkettung von Zitaten und zitierten Zitaten,<br />

von Anspielungen und Verweisen auf bereits bestehende Texte.


Seite 2<br />

Diese, zunächst in der Literaturwissenschaft kursierende These wurde<br />

alsbald auch von der Philosophie und Gesellschaftstheorie dort<br />

aufgegriffen, wo ohnehin schon der Einfluss der Linguistik und darüber<br />

hinaus die Sprachwissenschaft für einen so genannten<br />

Paradigmenwechsel sorgten – der dann später als ›linguistic turn‹<br />

bezeichnet werden sollte. Ausgeweitet wurde die These vom Tod des<br />

Autors in der Rede vom Tod des Subjekts, womit mindestens ein<br />

Verschwinden des Subjekts gemeint war. Sofern die Strukturen, mit<br />

denen sich der Strukturalismus beschäftigte, vorrangig als sprachliche<br />

gedeutet und beschrieben wurden, indem man die Welt in einen Text<br />

übersetzte, erschienen auch alle praktischen, konkreten und materialen<br />

Verhältnisse der Menschen untereinander und zu sich selbst als<br />

Strukturen von Sprache oder Zeichen; alles, was wir ›Mensch‹,<br />

›Subjekt‹, ›Ich‹ und so weiter nennen, ist strukturell eine Verkettung<br />

von linguistischen Zeichen und Operationen. Der Mensch ist eine<br />

Definition, und agiert nicht nur innerhalb der Grenzen dieser Definition,<br />

sondern seine menschlichen Aktivitäten, sein Aktionsradius<br />

gewissermaßen sind durch die Sprache und als Sprache definiert. Das<br />

bedeutet für die Anthropologie: Sofern der Mensch, griechisch<br />

Anthropos, wesentlich durch das Wort, griechisch Logos, bestimmt ist,<br />

forderten die Poststrukturalisten nicht nur eine Kritik des<br />

Anthropozentrismus, sondern eine Kritik des logozentrischen<br />

Weltbildes und Wissenschaftsverständnisses. Die den Menschen<br />

strukturierende Ordnung der Sprache sowie die daraus resultierende<br />

von der Sprache abhängige Ordnung sollte grundsätzlich hinterfragt<br />

werden: Man könne nicht länger philosophisch vom Menschen<br />

ausgehen …<br />

Michel Foucault – er lebte von 1926 bis 1984 – hat diese Forderung mit<br />

seiner Archäologie und Genealogie moderner Machtpraktiken der<br />

Normierung und Disziplinierung präzisiert; er untersuchte die<br />

»Erfindung des Menschen« durch die so genannten<br />

Humanwissenschaften (also Medizin, Rechtswissenschaft, Pädagogik)<br />

sowie Diskurse und Techniken der Einschließung (also Gefängnisse,<br />

Irrenanstalten, Arbeitshäuser, Kasernen, Schulen und dergleichen).<br />

Gilles Deleuze – er lebte von 1925 bis 1995 – gab dem eine<br />

philosophische Grundlage, allein schon dadurch, dass er den üblichen


Seite 3<br />

philosophiegeschichtlichen Kanon von Autoren verwarf: Er ging vor<br />

allem <strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Barockphilosophie und ignorierte den philosophischen<br />

Fortschritt der Linie Kant, Hegel, Marx: Dialektik und eine Theorie des<br />

historischen Materialismus lehnte er entschieden ab und verteidigte ein<br />

unsystematisches, bewusst inkonsistentes Denken, welches eine<br />

Weltphilosophie verwarf und statt dessen auf ein ›theatrum<br />

philosophicum‹, ein philosophisches Theater hinauslief. Die von Deleuze<br />

bevorzugten Philosophen sind neben Spinoza vor allem Henri Bergson<br />

und Friedrich Nietzsche – also Denker, die eigentlich gegen die<br />

Philosophie oder nach der Philosophie philosophieren. In diesem Sinne<br />

vertritt auch Deleuze eine postphilosophische Position, ohne sich aber<br />

aus dem akademischen Rahmen der Philosophie zu lösen. Damit läuft<br />

seine Kritik der Philosophie auf etwas diametral anderes hinaus als Marx’<br />

Kritik der Philosophie, die in einer revolutionären Theorie der Praxis<br />

mündet: Deleuze unternimmt den Versuch, mit der Philosophie den<br />

philosophischen Essentialismus, mit dem Denken den Idealismus<br />

aufzulösen. Was bei ihm »Begriff« heißt, ist das Gegenteil von dem<br />

Hegelschen Konzept der Begriffslogik: Deleuze geht es um Neuschöpfung<br />

von Begriffen, die sich jeder Idee oder idealen Prägung, jeder<br />

essentialistischen Struktur widersetzen – das in diesem Sinne<br />

antihierarchische Denken vollzöge sich in Fluchtlinien und fände sich in<br />

Rhizomen ausgebreitet.<br />

Zusammen mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari – er lebte von 1930<br />

bis 1992 – verfasste er einige Schriften, wobei ›Anti-Ödipus‹ von 1972,<br />

Untertitel ›Kapitalismus und Schizophrenie I‹, und ›Tausend Plateaus‹<br />

von 1980, Obertitel ›Kapitalismus und Schizophrenie II‹, heute als<br />

Schlüsselwerke des Poststrukturalismus gelten. In ›Tausend Plateaus‹<br />

wird der Begriff des Rhizoms beziehungsweise der Ansatz der<br />

Rhizomatik eingeführt: Das Rhizom ist ein Pilzgeflecht, welches der nach<br />

Ansicht von Deleuze und Guattari ansonsten in der abendländischen<br />

Geschichte üblichen Baumstruktur entgegengestellt wird. Zumindest<br />

ihrem Selbstanspruch nach beabsichtigten Deleuze und Guattari mit den<br />

›Tausend Plateaus‹ eine Fortsetzung des ›Kapitals‹ von Marx zu liefern –<br />

ein Plateau ist nicht nur eine Ebene, sondern auch ein Kapitel; die Zahl<br />

Tausend ist dürfte allerdings wohl nur metaphorisch für »Viele« gemeint


Seite 4<br />

sein, denn tatsächlich finden sich in dem 645 Seiten umfassenden Buch<br />

»nur« fünfzehn Kapitel …<br />

Mithin hatte und hat Deleuze, ebenso wie Guattari und vor allem<br />

Foucault, Einfluss auf die Theoriedebatten der linken Bewegung.<br />

Insbesondere die verschiedenen Fraktionen der postpolitischen und<br />

liberaldemokratischen Kulturlinken orientierten sich in den neunziger<br />

Jahren maßgeblich an Deleuze, Foucault und Guattari, beziehungsweise<br />

deren Denkfiguren: mit den Schlagworten »Macht«, »Kontrolle«,<br />

»Rhizomatik«, »Nomadologie« und dergleichen wurden so nach und<br />

nach die kritische Theorie der Gesellschaft und damit die materialistische<br />

Kritik der politischen Ökonomie, die dialektische Kritik der Kultur und<br />

die historische Kritik der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse im Sinne<br />

einer konkreten Totalität abgedrängt und schließlich als veraltet oder gar<br />

widerlegt <strong>zur</strong>ückgewiesen. – Gerade die suggestive Sprache und die<br />

gedanklichen Assoziationen von Deleuze scheinen für die modische<br />

Attraktivität des Poststrukturalismus nicht unwesentlich zu sein. Der<br />

nachfolgende Text versucht, diese Attraktivität kritisch zu hinterfragen.<br />

* * *<br />

Der Komponist Hanns Eisler antwortet 1958 in einem Rundfunkgespräch<br />

während einer Probe auf die Frage, wie sich die Dummheit in der Musik<br />

äußert: »Dummheit in der Musik kann sich in Tönen ausdrücken,<br />

Tonverbindungen können als dumm bezeichnet werden. Aber auch die<br />

allgemeine menschliche Dummheit kann in der Musik verbreitet sein. Bei<br />

Vokalwerken ist es das Verhältnis der Musik zum Text. Ein Beispiel: Ein<br />

Komponist komponierte das Gedicht Goethes ›Ich ging im Walde so für<br />

mich hin‹ polyphon, motettenartig. Er hat nicht begriffen, dass die<br />

volkstümliche Lyrik Goethes ein Fortschritt war in ihrer Subjektivität.<br />

Das war kein Schäfergedicht mehr, kein höfisches Liebesgedicht,<br />

sondern hier hat Goethe subjektive Innerlichkeit ausgebildet. Diese nun<br />

durch die Methode der Komposition ins Barock <strong>zur</strong>ückzuzerren, halte<br />

ich für dumm. Solche Gedichte sollte man heute nicht komponieren. Es<br />

gibt herrliche Vertonungen von Schubert, Schumann und kleineren<br />

Meistern, und das genügt. Aber gewisse Komponisten versuchen,


Seite 5<br />

abstraktes ›Kollektivgefühl‹, das sie zu empfinden glauben, oder wie es<br />

dumpf heißt: das Gemeinschaftserlebnis, im Barock zu finden. Wobei<br />

aber endlich einmal festgestellt werden muss, dass es nichts<br />

Langweiligeres und Geistloseres gibt als zweit- und drittklassige<br />

Barockmusik. Barockstil heute ist die Flucht in die Musikgeschichte.<br />

Komponisten dieses Stils glauben, damit die verfeinerte, allerdings auch<br />

überhitzte Subjektivität der alten Avantgarde überwunden zu haben<br />

und sich sozial zu benehmen. Ich halte das für dumm, weil sie die<br />

Wirklichkeit, die viel komplizierter ist und die man nicht weg-<br />

eskamotieren kann, durch Barock-Sequenzen zu verkleistern<br />

versuchen.« 1<br />

Eisler stirbt 1962; 1966 referiert sein schwieriger Freund und Kollege<br />

Theodor W. Adorno in Berlin zum Thema ›Der missbrauchte Barock‹:<br />

»Barock ist ein Prestigebegriff. Durch den Namen hielt wie durch ein Tor<br />

die Kulturindustrie, spätestens seit dem Rosenkavalier, Einzug in die<br />

Kultur … Nur das Unspezifische und Vage, wozu der Barock dem<br />

gegenwärtigen Bewusstsein sich verdünnte, erlaubt den universalen<br />

Gebrauch des Namens … Dies Bewusstsein passt gut zu der Kultur, auf<br />

die es schwört. Bequem vermag einer als Anhänger der Barockmusik<br />

sich zu bekennen, ohne in deren Vorrat viel zwischen den einzelnen<br />

Autoren und Werken zu unterscheiden.« 2<br />

Die Barockmode gab es damals nicht nur in der Musik. In der Sehnsucht<br />

nach dem Ornament und einem Verspielten, das von dem ökonomischen<br />

Regime der abstrakten Arbeit noch weit entfernt ist, spiegelt sich die<br />

Ideologie des Spätkapitalismus, die fortgeschrittene Gesellschaft, die den<br />

geschichtlichen Takt des Fortschritts gerade zu überwinden trachtet: Die<br />

postindustrielle Gesellschaft, die Nachgeschichte, der Umschlag des<br />

Fordismus in Post-Fordismus. In dieser Zeit erfährt aber auch das<br />

idealistische System Hegels, durch den Nationalsozialismus ohnehin<br />

desavouiert, seine materialistische Korrektur: Herbert Marcuse<br />

1 Hanns Eisler, ›Über die Dummheit in der Musik‹, in: Ders., ›Materialien zu<br />

einer Dialektik der Musik‹, Leipzig 1976, S. 251.<br />

2 Theodor W. Adorno, ›Der missbrauchte Barock‹, in: GS Bd. 10·1, S. 401 f.


Seite 6<br />

veröffentlicht 1964 ›Der eindimensionale Mensch‹, Adorno 1966 die<br />

›Negative Dialektik‹.<br />

1968, also zehn Jahre nach Eislers Rundfunkgespräch über die<br />

Dummheit in der Musik, veröffentlicht Gilles Deleuze sein<br />

philosophisches Hauptwerk ›Differenz und Wiederholung‹, das – wenn<br />

man so will – schon im Titel Marcuses Eindimensionalitätsthese und<br />

Adornos Dialektik verwirft: Deleuze reiht sich ein in den<br />

»verallgemeinerten Antihegelianismus …« Und er erläutert: »Die<br />

Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und<br />

des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten.« 3<br />

Ein nicht unwesentlicher Zeuge des philosophischen Unterfangens<br />

Deleuze’ ist der Barockphilosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis<br />

1716). Deleuze’ Antihegelianismus ist philosophischgeschichtlich eine<br />

Regression, ein Rückschritt auf den Mechanismus der Barockzeit. In dem<br />

Maße, wie Deleuze aber die Philosophiegeschichte »wie die Collage in<br />

einem Gemälde« versteht, wie eine »Kopie …, die der Kopie<br />

entsprechende Modifikationen« enthält, ist der Zugriff auf Leibniz<br />

lediglich eine beliebige Bastelei. In seinem Buch ›Die Falte. Leibniz und<br />

der Barock‹ beantwortet Deleuze im dritten Kapitel die Frage »Was ist<br />

barock?« mit der Monadologie Leibniz’. Leibniz denkt die Welt in<br />

Monaden (von ›monas‹ = Einheit), die fensterlos sind, keine Türen und<br />

Löcher haben (hieran schließt das ganze Leibnizsche System der<br />

›prästablierten Harmonie‹ und der ›repraesentatio mundi‹ an). Deleuze<br />

warnt, das Bild der fensterlosen Monaden zu abstrakt zu verstehen. Er<br />

konkretisiert mit a) dem Film, b) Jackson Pollock und Robert<br />

Rauschenberg. Dann kommt die barocke Stadt, dann Le Corbusier, Régis<br />

Debray, dann Mallarmé und schließlich Heidegger …, die ›Zwiefalt‹. 4 –<br />

Was soll das bedeuten? Deleuze’ Konkretion der Leibnizschen Monade<br />

scheint nicht mehr zu sein als eine absurde Banalisierug, assoziative<br />

Beliebigkeit des manierierten Gedankens.<br />

3 Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 11.<br />

4 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995,<br />

S. 53 ff.


Seite 7<br />

Heidegger steht am Anfang von ›Differenz und Wiederholung‹: »Die<br />

immer schärfere Ausrichtung Heideggers auf eine Philosophie der<br />

ontologischen Differenz.« 5 (Ontologische Differenz = bei Heidegger die<br />

Annahme, dass Sein und Seiendes nicht zusammenfallen, sondern<br />

ontologisch geschieden sind; Heideggers Frage: ›cogito ergo sum‹ – was<br />

ist das »Bin«?) Heidegger und die ontologische Differenz, schließlich die<br />

Explikation der Frage nach dem Sinn des Seins – das Selbe, das<br />

Identische – bilden auch den Schluss von ›Differenz und<br />

Wiederholung‹ 6 (wobei die letzte Figur der »schwankenden Spitze« auf<br />

Nietzsches Zarathustra <strong>zur</strong>ückgehen dürfte …) 7 .<br />

»Heute Abend findet ein Konzert statt. Das ist das Ereignis,<br />

Klangschwingungen breiten sich aus, periodische Bewegungen<br />

durchqueren die Ausdehnung mit ihren Obertönen oder den in ihnen<br />

enthaltenen Vielfachen.« 8 Die Frage, was Barock ist, 9 führt weiter <strong>zur</strong><br />

Musik: Pierre Boulez. Deleuze hat seine Philosophie oft und immer<br />

wieder mit der Musik in Zusammenhang gebracht: Mit der Barockmusik,<br />

aber auch mit der seriellen Moderne (die sich auf die Barockmusik<br />

bezieht), schließlich mit der Popmusik, der elektronischen Musik. Mit<br />

einem Buch sollte genauso umgegangen werden wie mit einer<br />

Schallplatte. Deleuze möchte so gelesen werden, wie man eine Platte hört.<br />

Die ›Tausend Plateaus‹ postulieren »RHIZOMATIK = POP-ANALYSE«, 10<br />

5 Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 11.<br />

6 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 373 ff.<br />

7 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 377.<br />

8 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995,<br />

S. 133.<br />

9 Die Antworten: a) Die Falte, b) Das Innere und das Äußere, c) das Oben und<br />

das Unten, d) Das Entfalten, e) Die Texturen, f) Das Paradigma. Vgl. Gilles Deleuze,<br />

›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995, S. 61 ff.<br />

10 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 40.


Seite 8<br />

immer wieder geht es um Musik, – so philosophieren, wie Bob »Dylan …<br />

einen Song komponiert«. 11 – Die Prinzip der Collage wurde mit Sampling<br />

gleichgesetzt. Diedrich Diederichsen hatte beim Lesen vom ›Anti-Ödipus‹<br />

und von ›Tausend Plateaus‹ gleich das »Gefühl, dass hier zwei Leute das<br />

Buch geschrieben haben, das jeder schon immer schreiben wollte,<br />

nämlich: was in allen meinen Büchern steht und auf allen Platten drauf ist,<br />

die ich je gehört habe, nebst dem, was ich alles dazu denken kann«. 12 Und<br />

Martin Büsser entdeckt in Deleuze’ »Pseudo-Dilletantismus und sein[em]<br />

hybride[n] Eklektizismus im Umgang mit Zitaten und Querverbindung<br />

sowie sein Hass auf alles kulturell Tradierte … einen ganz speziellen<br />

Sound.« 13 Dieser »Sound« etabliert sich im Barock; es ist der Sound der<br />

Wiederholung, was Deleuze und Guattari später als das »Ritornell«<br />

bezeichnen. 14 Ritornell: in der Musik mit verschiedenen Bedeutungen,<br />

aber immer als Wiederkehr, Wiederholung, Refrain. Die Entdeckung,<br />

dass es sich bei der Musik um Wiederholung (von Tönen) handelt, ist so<br />

banal wie die Feststellung, dass die Musik aus Sound (Klang, Geräusch)<br />

besteht. Pop ist per definitionem immer ein Ritornell. Die philosophische<br />

Zwitschermaschine (dem Kapitel vorangestellt ist Paul Klees<br />

›Zwitschermaschine‹ – so wie beim Rhizom-Kapitel ein Auszug aus einer<br />

Partitur Sylvano Bussotis …): »Auch in der Philosophie haben wir der<br />

traditionellen Paarbildung zwischen einer indifferenzierten bedenkbaren<br />

Materie und den Denkformen des Typs Kategorien oder Großbegriffe<br />

den Rücken gekehrt. Wir versuchen mit sehr elaborierten<br />

Denkmaterialien zu arbeiten, um Kräfte denkbar zu machen, die an sich<br />

11 Gilles Deleuze und Claire Parnet, ›Dialoge‹, Frankfurt am Main 1980, S. 15.<br />

12 Diedrich Diederichsen, ›Aus dem Zusammenhang reißen / In den<br />

Zusammenhang schmeißen‹, in: Ders.: ›Freiheit macht arm. Das Leben nach<br />

Rock’n’Roll 1990–1993‹, Köln 1993, S. 175.<br />

13 Martin Büsser, ›Wissen um der Lust willen. Deleuze und die Pop-<br />

Intellektuellen‹, in: Marvin Chlada (Hg.), ›Das Universum des Gilles Deleuze. Eine<br />

Einführung‹, Aschaffenburg 2000, S. 85.<br />

14 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 424 ff.


Seite 9<br />

nicht denkbar sind. Das ist dieselbe Geschichte wie in der Musik, wenn<br />

sie ein Klangmaterial ausarbeitet, um Kräfte hörbar zu machen, die es an<br />

sich nicht sind. In der Musik geht es nicht mehr um ein absolutes Ohr,<br />

sondern um ein unmögliches Ohr, das sich auf jemand legen kann,<br />

kurzzeitig jemand überkommen kann. In der Philosophie geht es nicht<br />

mehr um ein absolutes Denken, sondern um ein unmögliches Denken,<br />

d.h. um die Ausarbeitung eines Materials, das Kräfte denkbar macht, die<br />

es nicht durch sich selbst sind.« 15<br />

Das Zentrum: Heidegger und der Barock. Und jetzt: Die Öffnung »auf<br />

eine Wegstrecke oder Spirale hin, die sich immer weiter von einem<br />

Zentrum entfernt.« 16 Die Peripherie, und der Wunsch des dezentrierten<br />

Subjekts wenigstens am Rande (politische) Bedeutung zu bekommen. Die<br />

Krise des Kapitalismus und die Krise der Linken, die sich ohne<br />

Wissbegehren, ohne Interesse, ohne Utopie und ohne Materialismus<br />

begeistert: Das Theatrum philosophicum ist ein Guckkastentheater, ein<br />

Puppentheater, nicht einmal eine Schaubühne als moralische (politische)<br />

Anstalt. Es geht ums Außen, ohne die fundamentalontologische<br />

Innerlichkeit zu verlassen; man versteht Heidegger hier sehr genau 17 : Es<br />

gibt wieder einen Grund; und wieder ist dieser Grund scheinbar<br />

konkret. 18 Zur Philosophie Leibniz’ gehört der brillante Satz, dass wir in<br />

der besten aller denk-möglichen Welten lebten. Wie im kritischen<br />

Rationalismus wird das kleine Präfix ›Denk‹ weggestrichen, im Glauben,<br />

damit den idealistischen Rationalismus in materialistische Kritik<br />

überführt zu haben – das heißt bei Popper wird es weggestrichen, bei<br />

Deleuze und Guattari müsste freilich stehen: Wir leben in der besten aller<br />

begehrens-möglichen Welten. Die kritische Theorie postuliert: Dieses ist<br />

15 Gilles Deleuze, ›Die musikalische Zeit‹, http://www.webdeleuze.com/php.<br />

16 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995,<br />

S. 226.<br />

17 Anders als Sartre, der Heidegger in produktiver Weise missverstand …<br />

18 Vgl. Günther Anders, ›On the Pseudo-Concreteness of Heidegger’s<br />

Philosophy‹, in: Philosophy and Phenomenological Research, New York (März 1948)


Seite 10<br />

nicht die beste aller möglichen Welten. Die Wiederholung und die<br />

Differenz des Barock »möchte mit jener Welt sich abfinden: sie blieb als<br />

entzauberte die dinghafte, eine von Waren. Der Barock steht … ein fürs<br />

verdrängte und ersehnte Ornament, und macht … dabei als Stil, der das<br />

Ornament gestatte und erheische, das gute Gewissen. Aber das<br />

vermeintlich unbeschädigte Ornament, zu dem sie flüchten, ist<br />

Ausdruck des gleichen Prinzips, vor dem sie die Flucht ergreifen. Die<br />

Einheit des Bürgerlichen und Absolutistischen, die sie zum Barock zieht,<br />

steht ihnen als Gleichnis jener tödlichen Ordnung vor Augen, in der die<br />

Verflechtung der bürgerlichen Gesellschaft umschlägt in totale<br />

Unterdrückung.« 19 Das Ornament ist die Differenz, die Reihe, die<br />

Verzierung, das Parergon, jenseits von Ergon und Energeia.<br />

Was ist die Dummheit in der Philosophie? Die Methode der Philosophie<br />

wird ins Barock <strong>zur</strong>ückgezerrt, in den Pop verzerrt (der Jargon der<br />

Eigentlichkeit der Fünfziger passt vortrefflich <strong>zur</strong> Kulturalisierung der<br />

Linken in den Neunzigern). Im Anschluss an Deleuze: die Multitude –<br />

ein Begriff, den Negri, der sich wesentlich auf den frühen Deleuze<br />

bezieht, bereits Anfang der Achtziger von Spinoza übernimmt. Deleuze<br />

verwandelt die Monadologie in eine Nomadologie, auch hier mit dem<br />

Soundtrack Barock und Pop: »Das Problem ist immer noch, die Welt zu<br />

bewohnen, aber die musikalische Behausung Stockhausens, die<br />

plastische Behausung Jean Dubuffets lassen den Unterschied des<br />

Inneren und des Äußeren, des Privaten und des Öffentlichen nicht<br />

bestehen: sie identifizieren Variation und Trajektorie und überbieten die<br />

Monadologie durch eine ›Nomadologie‹. Die Musik ist das Haus<br />

geblieben, was sich aber verändert hat, ist die Organisation des Hauses<br />

und seine Natur. Wir bleiben Leibnizianer, obwohl es nicht mehr die<br />

Zusammenklänge sind, die unsere Welt oder unseren Text ausdrücken.<br />

Wir entdecken neue Weisen zu falten und neue Hüllen, wir bleiben aber<br />

Leibnizianer, weil es immerzu darum geht zu falten, zu entfalten, wieder<br />

19 Theodor W. Adorno, ›Der missbrauchte Barock‹, in: GS Bd. 10·1, S. 422.


Seite 11<br />

zu falten.« 20 – Das Nomadische oder die Multitude können als der<br />

Versuch verstanden werden, jenseits der »Identität« und<br />

»Repräsentation« das Kollektivgefühl <strong>zur</strong>ück zu gewinnen: das<br />

Gemeinschaftserlebnis. (»Wobei aber endlich einmal festgestellt werden<br />

muss, dass es nichts Langweiligeres und Geistloseres gibt als Bob Dylan,<br />

Patti Smith, Pierre Boulez, Sonic Youth ff.«). Barock ist Flucht in die<br />

Kulturgeschichte; man glaubt, damit den Subjektivismus zu überwinden,<br />

indem man ihn stärkt.<br />

* * *<br />

Wir räumen Gilles Deleuze zahlreiche Vorteile ein. Wir nehmen ihn als<br />

Autor ernst, obwohl nicht nur die Autorschaft in Frage steht (zumindest<br />

im postmodernen Diskurs), sondern auch zahlreiche andere<br />

Theorieansätze in ihrer Autorität in Frage stehen. Die kritische Theorie,<br />

die ihre Hauptwerke <strong>zur</strong> selben Zeit fertig stellte wie Deleuze ›Differenz<br />

und Wiederholung‹ – Adornos ›Negative Dialektik‹ von 1966, Marcuses<br />

›Der eindimensionale Mensch‹ von 1964 –, erscheint nachgerade obsolet,<br />

unbedeutend, für eine Linke nicht mehr brauchbar, sogar widerlegt (wer<br />

hat eigentlich jemals Adorno oder Marcuse widerlegt?).<br />

Kritische Theorie ist durch vier Bereiche zu bestimmen:<br />

Erkenntniskritik, Kritik der Geschichte, Kritik des Unbewussten und<br />

des Bewusstseins (Ideologiekritik versus Psychoanalyse) und Kritik der<br />

politischen Ökonomie. Schlüsselbegriffe: Konkrete Totalität, Gesellschaft,<br />

Dialektik, Praxis, strukturelle Dynamik, Krise, historischer<br />

Materialismus, Utopie und Befreiung. Das Zentrum: die Emanzipation des<br />

Subjekts. Dass die Revolution bisher ausblieb, ist kein Problem der<br />

Theorie, sondern ein Problem der Praxis (Löwenthal : »Wir haben nicht<br />

20 Gilles Deleuze, ›Die Falte. Leibniz und der Barock‹, Frankfurt am Main 1995,<br />

S. 226. Die Musik – die alte Universalsprache – ist das Haus; eine<br />

Heideggeranspielung sicherlich, der die Sprache das Haus des Seins nannte.<br />

Übrigens: der Heideggertext, der zum Schluss von ›Differenz und Wiederholung‹<br />

zitiert wird, ist ›Dichterisch wohnet der Mensch …‹.


Seite 12<br />

die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen.« 21 ).<br />

Gleichwohl vermag die Theorie zu erklären, warum die Praxis scheiterte,<br />

bisher. Kritische Theorie hat das erklärt. Kritische Theorie hat nicht das<br />

Interesse, bestehendes Unrecht, die Erniedrigung des Menschen anders<br />

zu denken. Keine Umwege. »Félix Guattari und Gilles Deleuze gehen viele<br />

Umwege, um den Lauf dessen, was passiert, anders zu denken, nicht als<br />

Philosophie eines erkennenden autonomen Subjekts, keine Story von<br />

Ich und Nicht-Ich, nicht als Dialektik, keine schöpferische Kraft der<br />

Negation bemühen, die noch das Nicht-Identische einer höheren<br />

Identität zuschlagen. Sie gehen nicht vom Gesetz der Struktur oder des<br />

Systems aus … Deleuze’ und Guattaris Versuch, den Kapitalismus zu<br />

verstehen, führt in ein Feld interessanter theoretischer Einsätze,<br />

darunter ein Denken ohne Subjekt, ein Primat des Begehrens von der<br />

Macht, eine relative Unwichtigkeit von Ideologie und die Veränderung<br />

des kapitalistischen Kontrollregimes.« 22 – Abgesehen davon, dass ohne<br />

Subjekt kein Denken denkbar ist, abgesehen davon, dass es kein<br />

theoretischer Einsatz ist, Unsinn zu konstatieren, abgesehen davon, dass<br />

hier ein Popanz nach dem anderen aufgebaut wird, fragt sich: Wozu<br />

werden diese Umwege gegangen? Was ist das politische Problem?<br />

Weshalb muss das bisherige Denken des Systems und der Struktur<br />

verworfen werden? – Es wird behauptet, »in einer Reihe<br />

unterschiedlicher linker Praktiken [wurde] zuwenig bedacht …, warum<br />

die Leute ›für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil‹.«<br />

Erstaunlich ist es, ausgerechnet diese Frage ins Zentrum zu setzen und so<br />

zu tun, als sei sie von der kritischen Theorie völlig vernachlässigt<br />

worden: Auf ihre Beantwortung hat sich nämlich seit 1932 (seit Erich<br />

Fromms Studie ›Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten<br />

Reichs‹) die kritische Theorie konzentriert.<br />

21 Vgl. Leo Löwenthal, ›Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiografisches<br />

Gespräch mit Helmut Dubiel‹, Frankfurt am Main 1980, S. 77 ff.<br />

22 Katja Diefenbach, ›[The crack up:] Kapitalismus verstehen‹, in: jour-fixe-<br />

initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999,<br />

S. 79 und S. 85.


Seite 13<br />

Die Frage stammt von Spinoza. 23 Es geht um das politische Mittel des<br />

Aberglaubens, mit dem die Menge (Multitude) getäuscht wird – eine<br />

Ideologiekritik, die Spinoza hier im ›Tractatus theologico-politicus‹<br />

entwirft (anonym 1670 in Hamburg veröffentlicht): »Wenn es in<br />

monarchischen Staaten als das wichtigste Geheimmittel gilt, und es da<br />

vor Allem darauf ankommt, die Menschen im Irrthum zu erhalten und<br />

die Furcht, mit der man sie bändigt, unter dem glänzenden Namen der<br />

Religion zu verhüllen, damit sie für ihre Sklaverei, als wäre es ihr Glück,<br />

kämpfen und es nicht für schmählich, sondern für höchstehrenvoll<br />

halten, ihr Blut und Leben für den Uebermuth eines Menschen<br />

einzusetzen: so kann doch für Freistaaten nichts Unglücklicheres als dies<br />

erdacht und versucht werden, da es der allgemeinen Freiheit geradezu<br />

widerspricht, wenn das freie Urtheil des Einzelnen durch Vorurtheile<br />

beengt oder sonst gehemmt wird. Jene Aufstände aber, die unter dem<br />

Schein der Religion erregt werden, entspringen nur daraus, dass man<br />

über spekulative Fragen Gesetze erlässt, und dass blosse Meinungen wie<br />

Verbrechen für strafbar erklärt und verfolgt werden. Die Vertheidiger<br />

und Anhänger solcher Meinungen werden nicht dem Wohle des Staats,<br />

sondern nur der Wuth und dem Hasse der Gegner geopfert. Wenn nach<br />

dem Rechte eines Staates nur Handlungen verfolgt würden, Worte aber<br />

für straflos gälten, so könnten solche Aufstände mit keinem<br />

Rechtsvorwande beschönigt werden, und blosse Streitfragen würden<br />

sich in keine Aufstände verwandeln.« Eine Verteidigung des Freistaates,<br />

die der vom Antisemitismus und politisch verfolgte Spinoza auch im<br />

eigenen Interesse formuliert.<br />

Deleuze und Guattari übersetzen die Frage, warum die Menschen für<br />

ihre Unterdrückung kämpfen als sei es für ihr Wohl, transformieren<br />

aber auch die Verteidigung des bürgerlichen Rechtsstaates in die<br />

assoziative Politik der Selbstanklage: »Nur der Mikro-Faschismus gibt<br />

eine Antwort auf die allgemeine Frage: Warum begehrt das Begehren<br />

23 Zitiert von: Katja Diefenbach, ›[The crack up:] Kapitalismus verstehen‹, in:<br />

jour-fixe-initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹,<br />

Hamburg 1999, S. 82. Auch, ohne Zitatangabe, von: Elfriede Müller, ›Die<br />

Fluchtlinien des Gilles Deleuze‹, in: Ebd., S. 100.


Seite 14<br />

seine eigene Unterdrückung, wie kann es seine eigene Unterdrückung<br />

wünschen? … Die Organisationen der Linken sind nicht die letzten, die<br />

ihre Mikro-Faschismen absondern. Es ist allzu leicht, auf molarer Ebene<br />

ein Antifaschist zu sein, ohne den Faschisten zu sehen, der man selber<br />

ist, den man unterstützt und nährt und an dem man selber mit<br />

persönlichen und kollektiven Molekülen liebevoll hängt.« 24 – Der<br />

Poststrukturalismus weist die Kategorie der Totalität <strong>zur</strong>ück, so wie er<br />

jede Kategorie <strong>zur</strong>ückweist, um den Totalitarismus sodann kategorial<br />

vollkommen unterbestimmt mit dem Faschismus in eins zu setzen:<br />

Faschismus ist das Begehren, die Bewegung, die »komplizierte Montage«,<br />

die »undifferenzierte Triebenergie«, das »engineering«, das<br />

»Experiment«, 25 die »Verkehrung der Fluchtlinie in eine<br />

Destruktionslinie« 26 . Es ist eben keine Dialektik der Aufklärung, kein<br />

Immanenzzusammenhang, keine Ideologie, keine Verdinglichung und<br />

kein universeller Verblendungszusammenhang. Keine Entfremdung und<br />

kein Antisemitismus, kein Rassismus und kein Konformismus; keine<br />

»zynische Sachlichkeit« (Marcuse) und keine Volksgemeinschaft,<br />

sondern eine ›more geometrico‹ in die Politik gehobene bloße<br />

Assoziation … »An einer Fluchtlinie ist nichts Imaginäres oder<br />

Symbolisches.« 27 Wie auch? Die Fluchtlinie ist das Symbol der<br />

politischen Imagination selbst.<br />

24 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 293.<br />

25 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 292 f.<br />

26 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 316.<br />

27 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 279.


Seite 15<br />

Diefenbach will mit Deleuze »neue Waffen … suchen«. 28 Müller will mit<br />

Deleuze und Guattari auf die Fluchtlinie setzen. 29 Deleuze und Guattari<br />

schreiben: »Auf den Fluchtlinien werden neue Waffen erfunden, um sie<br />

gegen die schweren Waffen des Staates zu wenden.« 30 Mikro-Politik:<br />

diese Theorie steht nicht außerhalb der Macht des Staates, sondern ist<br />

integraler Bestandteil der Herrschaft. Das Risiko der radikalen Praxis<br />

wird verlagert in die Sicherheitszone, wo nur noch mit entschärften<br />

Waffen gekämpft wird. Die größte Gefahr ist schlimmstenfalls: man<br />

selbst, der Faschist in uns: Jeder Versuch der Negation, der<br />

Identifikation kann dieses Ungetüm wecken. Und nur die rücksichtlose<br />

Affirmation verhindert die rücksichtslose Kritik des Bestehenden. – Das<br />

scheint die Quintessenz von dem zu sein, was hier Mikro-Politik geannnt<br />

wird.<br />

* * *<br />

Wir räumen Deleuze ein, ein politisches, interventionistisches Ziel zu<br />

verfolgen. Wir räumen Deleuze ein, ein kluger, und zwar nicht nur im<br />

elitären französischen oder allgemein bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb<br />

anerkannter Philosoph zu sein. Wir räumen Deleuze ein – der größte<br />

Vorteil, dem man einen Autor verschaffen kann –, dass Unverständnis,<br />

Schwierigkeiten, Sperrigkeiten auf unser Unvermögen <strong>zur</strong>ückzuführen<br />

sind. Unsere Kritik muss sich herantasten; die richtige Kritik bleibt den<br />

richtigen Philosophen überlassen (Alain Badiou). Gleichwohl kann<br />

gezeigt werden, dass Deleuze in vielen Punkten nicht nur Unrecht hat,<br />

28 Vgl. Katja Diefenbach, ›[The crack up:] Kapitalismus verstehen‹, in: jour-fixe-<br />

initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999,<br />

S. 95<br />

29 Vgl. Elfriede Müller, ›Die Fluchtlinien des Gilles Deleuze‹, in: jour-fixe-<br />

initiative berlin (Hg.), ›Kritische Theorie und Poststrukturalismus‹, Hamburg 1999,<br />

S. 107.<br />

30 Gilles Deleuze und Félix Guattari, ›Tausend Plateaus. Kapitalismus und<br />

Schizophrenie‹, Berlin 1992, S. 279.


Seite 16<br />

sondern Unfug ist. Eine Philosophie kann die immanente Kritik<br />

<strong>zur</strong>ückweisen, klärt damit aber nicht ihre Unstimmigkeiten. Was tun?<br />

[Anmerkung: Der nachfolgende Absatz entfiel in der Radiosendung, weil er sich<br />

unmittelbar auf den Umgang mit Deleuze in der Lesegruppe bezieht, für die dieser<br />

Text ursprünglich verfasst wurde.]<br />

Ein ganz einfacher Einwand gegen Deleuze’ Zurückweisung der systematischen<br />

Totalität von Allgemeinem und Besonderem ergibt sich durch den Umstand, dass wir<br />

eine Lesegruppe sind, in der wir alle dasselbe Buch lesen, alle den gleichen Text<br />

haben: Ein allgemeiner Zusammenhang mit einem besonderen Interesse (Deleuze, die<br />

Linke, Lesen, Verstehen, Diskutieren etc.). Meinethalben kann man die Denkfigur<br />

durchspielen, dass dieses Buch aber nur eine Wiederholung einer Singularität sei, ein<br />

Urtext etc. Aber das macht a) keinen Sinn, weil wir uns alle zum Beispiel auf die<br />

Allgemeinheiten von Sprache (ein übersetzter Text; manche haben<br />

Französischkenntnisse, andere kennen philosophische Fachbegriffe, können<br />

Anspielungen nachvollziehen …) und auf die Allgemeinheit der Diskutierbarkeit,<br />

Disputierbarkeit und Lesbarkeit von Ideen beziehen (in jedem Buch steht dasselbe,<br />

dieselben Buchstaben …, Treffen – wir hatten eine schöne, Deleuze widerlegende<br />

Unstimmigkeit über den Termin –, soziales Verhalten, pädagogisches Verhalten etc.).<br />

Als Ereignis, als Wiederholung der Singularitäten wäre die Lesegruppe gar nicht<br />

möglich, ja: wir hätten wahrscheinlich nicht einmal Bücher, Texte, Schrift <strong>zur</strong><br />

Verfügung. Allein die Annahme, dass der Philosoph sein Philosophieren in<br />

Singularitäten preisgibt, ist widersinnig: nicht ein anderer Nietzsche zu zitieren wäre<br />

denkbar, die Streit um die Bedeutung seiner Figur der Wiederkunft, sondern<br />

Nietzsche, Zarathustra und all die anderen könnten gar nicht benannt werden. Da<br />

aber kaum vorstellbar ist (auch wenn die bürgerliche Ideologie durchaus<br />

spektakuläre Widersinnigkeiten kennt), dass Deleuze vorsätzlich solche, sagen wir<br />

mal, groben Fehler in der zugegeben schwierigen Arbeit am Begriff unterlaufen, kann<br />

nur ein anderes, nicht rein wissenschaftliches Interesse unterstellt werden. Aber:<br />

Kann überhaupt ein Interesse unterstellt werden? Immer wieder die Frage: Was ist<br />

Deleuze’ Problem?<br />

Es wurde mehrfach darauf insistiert, dass Deleuze politisch sei, Marxist<br />

sei (sich selber so nenne), als Kommunist eingreife in die Ereignisse des<br />

Mai 68, die KP kritisiere etc. Man mag sich streiten, ob <strong>zur</strong> marxistischen<br />

Theorie die Dialektik gehört oder nicht. Und der erste, der die Dialektik<br />

zumindest entmachtete, sie <strong>zur</strong> Denkweise, <strong>zur</strong> Widerspiegelung, zum<br />

schlechten Positivismus degradierte und enthistorisierte, war: Stalin


Seite 17<br />

(dagegen zum Beispiel auch Sartres ›Kritik der dialektischen Vernunft‹).<br />

Was aber von der Marxschen Theorie gewiss nicht zu trennen ist, ist ihr<br />

Materialismus. Und zwar ihr spezifischer Materialismus, der die<br />

»sinnliche Anschauung« (Theorie) in der materiellen Praxis, in der<br />

Tätigkeit des Menschen fundiert: Weil der Mensch ein praktisches<br />

Wesen ist. Die Praxis ist in ihrer dynamischen Gestalt das, was im<br />

emphatischen Sinne »Wirklichkeit« (i.e. das Wirkende, das Durchwirkte,<br />

Erwirkte etc.) heißt, das ist die Dialektik von Allgemeinen und<br />

Besonderen: die Realität. Ein Reich neben der Realität ist ein Reich ohne<br />

Realität. Zum Beispiel das Reich der mathematischen Ideen. Ereignisse, die<br />

in der »n-ten Potenz« auftreten. Deleuze behauptet die Potenz, kann<br />

aber »n« nicht bestimmen, außer in der Unendlichkeit der<br />

Wiederholung. Jedes Ereignis ist in seiner Potenz, seiner Wiederholung<br />

mit sich selbst das singuläre Ereignis (das bedeutet ja Potenz: 2 2 = 2 x 2,<br />

und 2 n = 2 x 2 x 2 …); die Potenz gibt dem Ereignis nichts zu, ist eben<br />

keine Addition. Macht oder Kraft erlangt das Ereignis in seiner<br />

Potenzierung, nicht in seiner Potenzialität (bei Deleuze sind diese beiden<br />

Worte auch unterschieden: Potenz = puissance, potenzieren = élever à<br />

une puissance, aber Potenzialität = potentialité). Aber das Ereignis selbst<br />

hat keine Macht oder Kraft (0 n = 0). Das Ereignis Einkaufen n ist, zynisch<br />

gesagt, von keiner anderen unendlichen Potenz als das Ereignis<br />

Auschwitz n . Wenn es einen wesentlichen Unterschied zwischen den<br />

Ereignissen gibt, dann eben in ihrem Verhältnis als Besonderheiten zum<br />

Allgemeinen. Hegel führt das übrigens alles in der Logik aus. Deleuze hat<br />

aber mit diesem Zynismus kein Problem, weil genau das die Ironie<br />

bestimmt: die Ironie gegenüber einer Welt, die als Realität verneint wird<br />

(also: es ist logisch für Deleuze gar nicht möglich, an dieser Stelle sich<br />

doch auf das Reale als das Allgemeine zu beziehen). Deleuze’ Theorie ist<br />

mit dem Materialismus, mit einer kritischen Theorie der Praxis nicht<br />

vereinbar. Deleuze’ Anschauung ist insofern auch mit der Kritik der<br />

Geschichte nichtvereinbar. (Marx, ›Der achtzehnte Brumaire des Louis<br />

Bonaparte‹ – wird mit Hinblick auf »Wiederholung und Geschichte«<br />

zitiert. 31 Marx wird »philosophisch kahlrasiert« 32 ; so bekommt der<br />

31 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 389.


Seite 18<br />

historische Materialismus bei Deleuze sein Gesicht verpasst: als die<br />

Wiederholung der Geschichte – wie Marx es schon darstellte: das erste<br />

Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. 33 – Auch Deleuze’<br />

Interpretation von Nietzsches ewiger Wiederkehr folgt zwar nicht der<br />

reaktionären und defätistischen Interpretation, bleibt aber gleichwohl<br />

mythisch. 34 ) Deleuze’ Realität ist Mythos, bloße, nämlich »leere«<br />

Wiederholung.<br />

Es gibt in der materialistischen Theorie, und zwar seit Aristoteles, einen<br />

anderen Begriff von Potenz, nämlich den der Potenzialität: als<br />

Möglichkeit. Deleuze’ Ereignisse sind »Unmöglichkeiten«, verweisen auf<br />

nichts Potenzielles. Sie sind aber auch »Unwirklichkeiten«, weil sie keine<br />

Wirkung haben, aus keiner Ursache resultieren. Für die Dialektik des<br />

Materialismus, nämlich für den revolutionären Entwurf der Geschichte,<br />

ganz wichtig: Dass wirklich ist, was auch möglich ist. Noch einmal: die<br />

»n-te« Potenz ist allerdings nur mathematisch möglich und eben nicht<br />

wirklich. Als reale Unmöglichkeit ist diese Denkfigur unwirklich.<br />

Deleuze kann kein Marxist sein, wenn er kein Materialist ist.<br />

Materialismus ist aber für eine Kritik der Moderne nicht akzidentiell. Der<br />

Materialismus bezeichnet das materielle Interesse an der materiellen Welt<br />

und erweitert damit den Idealismus, der in seiner höchsten Form ein<br />

ideelles Interesse an der materiellen Welt hatte. Wenn aber der<br />

Materialismus das Interesse an der Welt begründet (vgl. Marxens<br />

kategorischer Imperativ, der ja nicht gegen Kants ist, sondern diesen um<br />

genau die praktische Dimension der Revolution erweitert, um die<br />

Nietzsche ihn formalistisch verengt …), was ist dann das Interesse von<br />

Deleuze, wenn er kein Interesse an der Wirklichkeit der Welt hat?<br />

Deleuze ist Idealist. Er hat keinen Begriff von Realität und auch keinen<br />

realen Begriff von Praxis, sondern behandelt sein Thema als rein<br />

32 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 14.<br />

33 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 125.<br />

34 Vgl. Gilles Deleuze, ›Differenz und Wiederholung‹, München 1997, S. 368 ff.


Seite 19<br />

theoretisches, abstraktes Problem. Er ist nicht konkret – deshalb seine<br />

Nähe zu den Empiristen, auf die er sich mehrfach positiv bezieht.<br />

Deleuze ist schlechter Idealist; deshalb steht er dem Materialismus nicht<br />

einmal nahe. Deleuze hat ein ideales, wenn nicht sogar ein ideologisches<br />

Interesse an der ideellen Welt, an der idealisierten Welt. Ideologisch<br />

deshalb, weil vermutet werden kann, dass Deleuze gar kein Interesse hat.<br />

Streng genommen dürfte er auch gar kein Interesse formulieren können,<br />

denn Inter-esse, Zwischen-Sein, bezeichnet ja ein allgemeines Verhältnis<br />

zu Besonderheiten (selbst wenn man hier von Singularitäten spricht,<br />

deren Inter-esse eben in Differenz und Wiederholung bestünde, also<br />

selbst, wenn man die Singularitäten ontologisiert, ist der<br />

Allgemeinbegriff des Seins notwendig).<br />

Im Gegensatz zu Adorno: Deleuze beruft sich zwar auf Kritik (was bei<br />

ihm nicht mehr heißt als Entscheidung, Scheidung, Teilung, Differenz<br />

…), aber nicht auf immanente Kritik. Weder setzt er sich mit zum Beispiel<br />

Hegel immanent auseinander, indem er die Hegelsche Logik<br />

nachvollzieht, noch lässt er es zu, dass man sich mit ihm selbst immanent<br />

auseinander setzt. (Man kann sagen: in Deleuze’ Welt ist immer schon<br />

alles auseinandergesetzt, entschieden, entfaltet.)<br />

Deleuze ist ungenau. Er arbeitet mit dieser theoretischen, begrifflichen,<br />

reflexiven Unschärfe allerdings als Genauigkeit. Das kann er machen,<br />

weil seine ›Begriffe‹ nicht Reflexionsbegriffe sind – ihnen liegt keine, im<br />

strengen Sinne, Begriffsarbeit zugrunde –, sondern eine Reihe<br />

Behauptungen. Zum Beispiel die Hegellektüre: Differenz und<br />

Wiederholung sind bei Hegel nichts, was jenseits vom Allgemeinen und<br />

Besonderen besteht. Nichts jenseits der Logik. Bei Deleuze werden die<br />

Differenz und die Wiederholung zu einem metaphysischen Reiche<br />

jenseits dieser Welt erklärt. Schlechte Metaphysik. Es ist Metaphysik<br />

genau in dem Punkt, wo dieser Kosmos von Ereignis, Singularität und<br />

Universalität Alles, nur keine Metaphysik, zu sein behauptet. Es gibt bei<br />

Deleuze keine Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes.<br />

Auch vor diesem Hintergrund (da es nicht einmal Immanenz im eigenen<br />

Kosmos Deleuze’ gibt, bleibt dieser merkwürdige Ereignishimmel, das<br />

Reich des Einzigartigen, Singulären: Hintergrund, Projektionsfläche,


Seite 20<br />

Oberfläche) ist die Frage von ›Differenz und Wiederholung‹ offen,<br />

nämlich un<strong>zur</strong>eichend geklärt.<br />

Was es bei Deleuze nicht gibt: das Absolute. Das Absolute kann es nicht<br />

geben, weil System, Totalität, Einheit und Widerspruch ausgeschlossen<br />

werden. Ohne Allgemeinheit kein Absolutes. Dennoch: Deleuze setzt die<br />

Differenz absolut. Das heißt, weil es ja nicht im Hegelschen Sinne das<br />

Absolute sein kann, ontologisiert er sie. Damit setzt er die Differenz aber<br />

aus der Geschichte heraus. Als ontologisierte Differenz ist sie zeitlos,<br />

ewig, universal und singulär (gleichzeitig, zeitgleich, das heißt: für das<br />

Singuläre ist die Zeit immer gleich). Auch hier ist der Zeitbegriff von<br />

Bergson: heterogene Zeit – im Gegensatz zum homogenen Raum. 35 Es ist<br />

immer eine Innenwelt, eine monadische Welt (siehe oben <strong>zur</strong> Frage, was<br />

barock ist). Zu Deleuze’ Zeitbegriff gehört das Ereignis, das das<br />

Kontinuum unterbricht. Es ist aber keine Dialektik im Stillstand, wie bei<br />

Benjamin. Die Probleme der Erinnerung und der Verdrängung bleiben<br />

ausgespart. Gerade am Zeitbegriff kann die prekäre Notwendigkeit von<br />

Allgemeinheit und Besonderheit dargestellt werden: zum Beispiel in der<br />

Reihentechnik der Musik, der Fuge ebenso wie der Zwölftonmusik: Hier<br />

geht es ganz explizit nicht um Singuläres. Selbst die indische Râga-<br />

Technik setzt den singulären Ton ins Verhältnis zu anderen Tönen, auch<br />

wenn sie sich auf das Singuläre konzentriert. – Die musikalische Figur,<br />

die sich ästhetisch im Barock findet und im Pop <strong>zur</strong> ökonomischen<br />

Signatur wurde, ist offenbar für eine utopie- und praxislose Kulturlinke<br />

höchst attraktiv. Die Philosophie von ›Differenz und Wiederholung‹<br />

entspricht einem spätbürgerlichen Bewusstsein, welches vor der<br />

Wirklichkeit in einen Konservatismus flüchtet, ohne reaktionär<br />

erscheinen zu wollen. Deshalb wählt man einen Weg des Fortschritts, der<br />

nicht den Prozess der Geschichte vorantreibt, sondern der aus der<br />

Geschichte geradewegs herausführt.<br />

35 Es wäre zu diskutieren, ob die Vermutung stimmt, dass man derart die<br />

Singularität des zeitlichen Ereignisses behaupten kann, weil es das Allgemeine des<br />

umgebenden Raums gibt; und weil es umgekehrt genauso geht. Heidegger hatte mit<br />

›Sein und Zeit‹ ein ähnliches Problem; Deleuze schreibt vielleicht deshalb auch zwei<br />

Kino-Bücher …

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