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Info-Brief - bvkm.

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Entscheidungen blieben durch die Realität rassistischer und sexistischer Vorurteile, sowie einer<br />

stereotypen Bewertung von Krankheit und Behinderung bestimmt. Im Namen der Selbstbestimmung<br />

würden diskriminierende Praktiken ungefiltert obsiegen.<br />

Eine derartige Freiheit würde zudem in ihren sozialen Konsequenzen das Selbstbestimmungsrecht jener<br />

beschneiden, die sich für ein krankes Kind entscheiden: Schon heute beklagen Eltern, dass sie sich für die<br />

Existenz ihres behinderten Kindes rechtfertigen müssen. Ist dies eine Folge der routinemäßigen<br />

Anwendung pränataler Diagnostik und der „wrongful birth“-Rechtsprechung ? Oder reiht sich das „Muss<br />

das heute noch sein ?“-Gezischel in eine Kette verbreiteter Diffamierungen ein, die beispielsweise auch<br />

über alleinstehende oder sozialhilfeabhängige Mütter geäußert werden ? Eine neue Qualität in Richtung<br />

auf eine Eugenik wäre zweifellos dann gegeben, wenn die Sozialpolitik diese Stigmatisierung befördert,<br />

indem sie postuliert: Wer sich trotz der Option vorgeburtlicher Diagnostik für ein behindertes Kind<br />

entscheidet, soll auch selber die Kosten tragen. Eine solche Intention ist nicht erkennbar. Im Gegenteil.<br />

Das grundgesetzlich garantierte Diskriminierungsverbot, ein neues Gleichstellungsgesetz und der<br />

diskutierte zivilrechtliche Diskriminierungsschutz lassen manche gar von einer Politikwende im Umgang<br />

mit Menschen mit Handicaps schwärmen: weg vom Objekt der Fürsorge hin zum Subjekt eigenen Lebens.<br />

Warum ist dann aber die panische Angst vor einem behinderten Kind ungebrochen? Sicher wünschen<br />

sich alle Eltern ein gesundes Kind. Ein schwerwiegendes Handicap bewirkt einen Schock. Dennoch ist die<br />

Gleichsetzung von einem Leben mit einem behinderten Kind mit Leiden und Entbehrungen problematisch.<br />

Viele Familien entwickeln Bewältigungsstrategien, die einen veränderten Lebensentwurf auch als eine<br />

persönliche Herausforderung erscheinen lassen. Doch ein solches Sicheinlassen braucht Zeit, - und<br />

daran fehlt es in der Schwangerschaft. Schon die Dringlichkeit von Entscheidungen muss deshalb<br />

überstürztes Handeln fördern: Während mit mehr <strong>Info</strong>rmationen über Gentests bei Erwachsenen die Zahl<br />

von Absagen steigt, gibt es hierfür bei der vorgeburtlichen Diagnostik keine Belege. Die überwältigende<br />

Mehrzahl der Schwangeren verbindet mit der vorgeburtlichen Diagnostik ohnehin nicht deren in der<br />

Feststellung von Anomalien beruhenden medizinischen Sinn. Sie erwarten vielmehr eine Beruhigung<br />

durch die Auskunft, dass mit dem Nachwuchs alles in Ordnung sei. (Diese psychologische Funktion<br />

begründet mit die wachsende Akzeptanz und hohe Nachfrage, da bei neun von zehn pränatalen<br />

Untersuchungen keine Anomalien registriert werden.)<br />

Zugleich hat die Angst vor einem Leben mit einem behinderten Kind auch rationale Gründe: Während für<br />

die Betreuung von Menschen mit Handicaps in Einrichtungen erkleckliche staatliche Transfers<br />

aufgewendet werden, gelten behinderte Kinder und Jugendliche noch immer allein als<br />

Privatangelegenheit ihrer Eltern. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind auf ihren spezifischen<br />

Betreuungsbedarf nicht zugeschnitten. Auch das ab Beginn kommenden Jahres geltende<br />

Grundsicherungsgesetz gewährt nur dauerhaft voll erwerbsgeminderten Erwachsenen eigenständige<br />

Leistungen. Zugleich zieht der neue Anspruch auf Selbständigkeit neue elterliche Förderzwänge für<br />

behinderte Kinder nach sich. Eingekesselt zwischen Terminen bei der Frühförderung und bei Logo- oder<br />

Motopäden repräsentiert ein Leben mit einem Kind mit Behinderung gerade für Mütter all das, wogegen<br />

viele Frauen ankämpfen: Unbezahlte Mehrarbeit in der Familie, Verzicht auf Erwerbstätigkeit und Verlust<br />

an Freizeit und persönlichen Entfaltungschancen. Diese ungenügende ökonomische und gesellschaftliche<br />

Unterstützung bildet eine Realität, die der elterliche Wahlfreiheit einschnürt. Auch deshalb schneiden sich<br />

die meisten Eltern bei einem problematischen Diagnosebefund mit der Maxime ‘Lieber ein Ende mit<br />

Schrecken als ein Schrecken ohne Ende’ von der Suche nach einem für ihr Leben angemessenen<br />

Entscheidung ab. Von einem souveränen Umgang mit dem von der pränatalen Diagnostik repräsentierten<br />

Wissen sind wir weit entfernt.

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