Juli 2002 - Der Fels
Juli 2002 - Der Fels
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<strong>Der</strong> archimedische Punkt der Gesellschaft<br />
Ein Berliner Kongress über Demographie, Bildung und Wirtschaft weist<br />
auf den Kern der Krise: Den Verlust an Humankapital<br />
Bildung ist zurzeit das Megathema<br />
des politischen Diskurses.<br />
Zu einem „Bildungsgipfel“<br />
eigener Art kamen in diesen<br />
Tagen Wissenschaftler, Politiker<br />
und Unternehmer unter der deutschfranzösischen<br />
Schirmherrschaft der<br />
Präsidenten Jacques Chirac und<br />
Johannes Rau zusammen, um dieses<br />
Thema nicht nur als Ergebnis<br />
von Wissensvermittlung, sondern<br />
auch in seinem umfassenden Sinn<br />
als Menschenbildung zu erörtern.<br />
Anlass bieten die diversen Resultate<br />
der Pisa-Studie, aber auch die Voraussetzungen<br />
für das Lernen, die<br />
von der Pisa-Organisation, der<br />
OECD, bereits in früheren Studien<br />
aufgelistet und länderweise verglichen<br />
wurden. Starting strong heißt<br />
die entsprechende Untersuchung,<br />
an der Deutschland übrigens nicht<br />
teilnehmen wollte, und der Kopf der<br />
Pisa-Studie, der deutsche Statistik-<br />
Experte Andreas Schleicher, stellte<br />
sie auf dem Expertengipfel im Haus<br />
der deutschen Wirtschaft in Berlin<br />
vor. Er nahm teil an einer von vier<br />
Podiumsdiskussionen des Fachkongresses<br />
„Demographie und<br />
Wohlstand“.<br />
<strong>Der</strong> Untertitel dieser europäischen<br />
Fachtagung mit rund 200<br />
Teilnehmern aus zehn Ländern, veranstaltet<br />
von einer europäischen<br />
Bürgerbewegung unter Federführung<br />
des Deutschen Arbeitskreises<br />
für Familienhilfe e.V., der Internationalen<br />
Stiftung Humanum und der<br />
französischen Frauenorganisation<br />
Femmes de Demain, ließ erkennen,<br />
wo nach Meinung der Experten der<br />
Ausweg aus der Misere im Problemfeld<br />
zwischen Demographie, Wirtschaft<br />
und Bildung liegen könnte.<br />
Er lautete: Neuer Stellenwert für Familie<br />
in Wirtschaft und Gesellschaft.<br />
Dieser Stellenwert leitet seine<br />
Begründung aus der von namhaf-<br />
Von Jürgen Liminski<br />
ten Wissenschaftlern dargestellten<br />
Tatsache ab, dass vor allem die Familie<br />
der Ort ist, an dem das Humanvermögen<br />
gebildet wird, das Wirtschaft<br />
und Gesellschaft brauchen,<br />
erstere zur Produktion, letztere<br />
zum Leben. Weniger Menschen bedeutet<br />
weniger Chancen für einsetzbares<br />
Humanvermögen und<br />
wenn dann noch die vorhandenen<br />
Kinder nicht die Kompetenzen zur<br />
W er Schweine erzieht ist<br />
ein produktives, wer<br />
Menschen erzieht, ein unproduktives<br />
Mitglied der Gesellschaft.<br />
Friedrich List<br />
Lösung von Alltagsproblemen sowie<br />
die Fähigkeit zum Lernen und<br />
zur Anwendung des Gelernten erhalten,<br />
sprich wenn sie nicht entsprechend<br />
erzogen und ausgebildet<br />
werden, dann wird das Humanvermögen<br />
zur Mangelware. <strong>Der</strong><br />
amerikanische Nobelpreisträger<br />
Garry Becker, der den Begriff des<br />
Humankapitals in die Wirtschaftswissenschaft<br />
eingeführt hat, plädierte<br />
deshalb für eine Aufwertung<br />
der Erziehungsarbeit durch ein Erziehungseinkommen<br />
- aus dem<br />
Mund eines weltweit bekannten liberalen<br />
Ökonomen eine kleine Sensation.<br />
Becker sieht den Grund für<br />
diese Forderung in den Bedürfnissen<br />
der Wirtschaft nicht nur nach<br />
gut ausgebildeten, sondern auch<br />
teamfähigen, lernwilligen, flexiblen,<br />
selbständig denkenden und<br />
hilfsbereiten Mitarbeitern. Solche<br />
sozialen Kompetenzen erwerbe der<br />
Mensch vor allem in der Familie<br />
und deshalb „können Schulen die<br />
Familie nicht ersetzen“.<br />
<strong>Der</strong> frühere Verfassungsrichter<br />
Paul Kirchhof ergänzte: Diese Staatsleistung<br />
müsse im Interesse des Staates<br />
erfolgen, der verfassungsrechtliche<br />
Schutz gelte auch für das Kind<br />
und diese Leistung sei auf das Kind<br />
auszurichten. Dem habe die Politik<br />
sich bisher versagt. Die familienpolitisch<br />
relevanten Urteile aus<br />
Karlsruhe seien „bis heute ein unerfüllter<br />
Verfassungsauftrag“. Die Leistung<br />
rechne sich außerdem. Ein<br />
Kindergartenplatz kostet den Staat<br />
heute bereits mehr, als jedes Modell<br />
für ein Erziehungsgehalt, und die<br />
persönliche Beziehung erübrige die<br />
psychologische Betreuung. Ein Kind<br />
zu erziehen sei eine zentrale Kulturleistung,<br />
von der der Staat lebe. Die<br />
Verfassung sei „das Gedächtnis der<br />
Demokratie, das Werte verstetigt“.<br />
Selten sei der Zusammenhang zwischen<br />
Honor und Honorar dagegen<br />
so deutlich in seiner Negativform zu<br />
sehen wie bei der Arbeit der Mütter.<br />
Ihre Arbeit werde der Schattenwirtschaft<br />
zugerechnet, Mütter<br />
sozusagen nur noch als Schatten<br />
wahrgenommen. Wo Familienarbeit<br />
und Erziehung aber gering geschätzt<br />
werden und umsonst zu haben sind,<br />
da verfährt die Gesellschaft mit ihr<br />
nach dem Bonmot, das der Nationalökonom<br />
Friedrich List schon vor<br />
mehr als 150 Jahren aussprach: „Wer<br />
Schweine erzieht ist ein produktives,<br />
wer Menschen erzieht, ein unproduktives<br />
Mitglied der Gesellschaft.“<br />
<strong>Der</strong> Faktor Familie, ein veritables<br />
Unternehmen wie der französische<br />
Professor Jean Didier Lecaillon<br />
aus Paris ausführte, war von Anfang<br />
an, seit Adam Smith, aus der<br />
Wirtschaftswissenschaft ausgeklammert<br />
worden. Die Korrektur heute<br />
verlangt ein Umdenken, das der<br />
Wende eines Tankers im Strom eines<br />
Flusses gleicht. Aber es ist nötig,<br />
meinen Becker und die ande-<br />
204 DER FELS 7/<strong>2002</strong>