LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong><br />
I Konstitutive Faktoren der Winterreisethematik ....................................................................... 2<br />
1 „Der epochale Winter“ - Bestimmungen zur Diskursbreite................................................. 2<br />
2 Überlegungen zur Überzeitlichkeit ...................................................................................... 6<br />
3 Von aufkeimendem Subjekt- zum Selbst-bewusstsein ........................................................ 7<br />
II Wenn die Heimat zur Fremde wird - Müllers „Winterreise“ ................................................. 9<br />
1 Die real lokale Entfremdung .............................................................................................. 10<br />
a Die Provenienz des Unheimlichen aus heimatlichen Strukturen .................................... 10<br />
2 Die Selbstentfremdung ....................................................................................................... 12<br />
3 Sinn- und Zielkonfiguration ............................................................................................... 13<br />
B Teleologie ...................................................................................................................... 13<br />
C Zyklische Geschlossenheit ............................................................................................. 14<br />
D Spiralbewegung ............................................................................................................. 15<br />
4 Kommunikation in der Isolation ........................................................................................ 19<br />
V Thomas Mann „Zauberberg“ ................................................................................................ 20<br />
IV Gerhard Roths „Winterreise“ .............................................................................................. 31<br />
V Das „Experiment“ Rühms .................................................................................................... 39
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I Konstitutive Faktoren der Winterreisethematik<br />
1 „Der epochale Winter“ - Bestimmungen zur Diskursbreite<br />
„Der Mensch lebt überall noch in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der<br />
Welt, als einer Rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende und sie beginnt<br />
erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die<br />
Wurzel der Geschichte aber ist der [...] schaffende, die Gegebenheiten überholende Mensch. Hat er sich<br />
erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung [...] begründet, so entsteht in der Welt etwas,<br />
das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war, Heimat.“ 1<br />
Ernst Bloch thematisiert in seinem Hauptwerk „Prinzip Hoffnung“ die Vorstellung, dass die Menschheit erst<br />
nach Krisenerfahrung und Durchleben einer aus ihr resultierenden Entwicklung einen Zustand erreicht, der sich<br />
als wahrhaftige Heimat erweist. Heimat muss erarbeitet werden. In diesem Prozess offenbaren sich wesentliche<br />
Gesichtspunkte, die im Sujet der „Winterreisen“ verankert sind und sich auf ihre überzeitliche Verbreitung und<br />
ihren allgemein anthropologischen Grundgedanken beziehen. Die Entfremdung des Menschen, die<br />
Dezentrierung des Subjekts, die Solipsie 2 , die Heimatlosigkeit als grundlegende Eigenschaften der menschlichen<br />
Gesellschaft. All diese Faktoren, die für Bloch der Überwindung bedürfen, der Transformation ihrer negativen<br />
Vorzeichen in die konstruktive Formierung eines neuen heimatlichen Gefüges, erscheinen als zentrale<br />
Botschaften der „Winterreise“ und begründen gerade auch ihre fortwährende Rezeption.<br />
Entfremdung und Dezentrierung des menschlichen Subjekts stellen sich also als Kernaussage<br />
der winterlichen Wanderung dar. Wie aber trägt sich diese Fremdheitserfahrung als<br />
überzeitliches Kontinuum und subjektives wie kollektives Erfahren bis in die Gegenwart?<br />
Um diese Bestimmungen in dem Sinn zu konkretisieren, sollen im Folgenden wesentlich die<br />
Ausführungen Hanspeter Padrutts nachgezeichnet werden. Padrutt arbeitet in seinem Essay<br />
die „paradigmatische Qualität von Schuberts „Winterreise“ neu heraus.“ 3 Er leitet die<br />
„alarmierenden Krisensymptome, die fundamentalen Erschütterungen sowohl unserer ästhetischen, als<br />
auch unserer wissenschaftlichen Erfahrungsweise, aus der anscheinend unaufhaltsamen<br />
Verabsolutierung des neuzeitlichen Subjektbegriffs her. Das in diesem Begriff gewissermaßen<br />
systemimmanent umhergeisternde der-Welt-abhanden-kommen findet in Schuberts „Winterreise“, in der<br />
zunächst schleichenden, schließlich manifest werdenden Krankheit zum Tode des Wanderers seinen<br />
gültigsten künstlerischen Ausdruck.“ 4<br />
1 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 1628.<br />
2 Solipsie: Vereinsamung des Subjekts, dadurch, dass das Ich seine eigenen Bewusstseinsinhalte als einzig<br />
Wirkliche gelten lässt und alle Erscheinungen der Außenwelt nur als dessen Projektionen betrachtet.<br />
3 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 224.<br />
4 Fink, Wolfgang: Hans Zenders Winterreise. S. 8-9.
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„Der-Welt-abhanden-kommen“, ein Terminus aus einem Gedicht Friedrich Rückerts, welches<br />
im Volkston von Gustav Mahler vertont wurde und in Thomas Manns „Zauberberg“ als<br />
Beschreibung der Gemütshaltung Castorps wieder aufgegriffen wird, scheint sich als eine<br />
anthropologische Grundgestimmtheit herauszukristalisieren, welche die Winterreise Thematik<br />
entscheidend zu konstituieren scheint. Der Beginn einer solch solipsistischen Haltung beginnt<br />
sich in einer Zeit abzuzeichnen, in der die Menschen ihren politischen Aktionswillen, welchen<br />
sie in den revolutionären Wirren artikulierten, gelähmt und niedergestreckt finden und sich als<br />
vereinzeltes, sprachloses Subjekt begreifen <strong>–</strong> in der Zeit der Romantik, der Verinnerlichung,<br />
die gegen die politische Restauration gesetzt wird. Das Individuum wird entgegen seinem<br />
Willen in die Passivität zurückgeworfen. Es geht hier folglich um ein zeitbedingtes<br />
Grundphänomen, welches im Werk Müllers/Schuberts seinen ersten expliziten Ausdruck fand<br />
und aufgrund seiner Fortsetzung bis in die heutige Zeit immer noch findet.<br />
Padrutt beschreibt diese Grundgestimmtheit als „pessimistische, depressive Stimmungslage.“ 5<br />
Entscheidend ist für ihn, dass gerade in der gegenwärtigen Zeit häufig nur die Symptome<br />
einer solchen Depression, nicht aber das ihr zugrundeliegende Trauma, behandelt würden.<br />
„`Schmerzlos sind wir...` sagte Hölderlin in einem seiner Gedichte. Er erkannte [...] die<br />
Schmerzlosigkeit als Mangel. Der Schmerz wird nicht zugelassen, sondern mit allen Mitteln<br />
und um jeden Preis bekämpft. Und so wird er am Ende auch nicht verwunden.“ 6 Um diese<br />
notwendige Trauerarbeit leisten zu können, muss also die Wurzel des Schmerzes gefunden<br />
werden. Padrutt sieht den Grund für Schmerz im Entzug. Er folgt dabei der Blickrichtung<br />
Heideggers, der in seiner Schrift „Unterwegs zur Sprache“ betont, die Trauer sei „in den<br />
Bezug zum Freudigsten gestimmt, aber zu diesem, insofern es sich entzieht, im Entzug zögert<br />
und sich spart.“ 7<br />
Die Trauer ist hier also Reaktion auf einen entzogenen Zustand, „ein<br />
unbestimmbares Heimweh, Schmerz über das verlorene Paradies, Sehnsucht nach einer<br />
anderen Welt.“ 8<br />
So zeigt sich Schmerz auch immer wieder als Grundkonstante der<br />
Winterreisethematik und tritt besonders signifikant auch im Werk Roths zutage, der seinen<br />
Protagonisten Schmerz und Welterfahrung verbinden lässt und erst im Schmerz die<br />
Gegenwärtigkeit der Welt überhaupt noch zu spüren scheint. Wie sich dies genau darstellt<br />
wird im Folgenden noch zu erörtern sein. Dabei werden sich im Werk Roths auch die<br />
epochale Faktor der Winterreise zeigen, die Padrutt in der Entfremdung des Menschen von<br />
seiner Arbeit beschreibt. Ausgehend von dem marxistischen Gedanken der Entfremdung des<br />
5 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter. S. 224.<br />
6 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 228.<br />
7 Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, S.169.<br />
8 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 234.
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Menschen von sich durch die Entäußerung seiner Arbeitskraft und die Entfremdung seiner<br />
Selbst vom Produkt seiner Arbeit, zeigt sich ihm der Mensch als entwurzeltes, vereinzeltes<br />
Individuum. Wenn jedes Ding „zum gleichgültigen Rad im großen Räderwerk geworden ist,<br />
dann ist die Natur, die Erde überhaupt, dem Menschen fremd geworden.“ 9 Er wird aber nicht<br />
nur sich und der ihn umgebenden Natur fremd, sondern erlebt auch die anderen Menschen nur<br />
noch als abgekapselte Subjekte, deren Kommunikation und Interaktion immer mehr zu<br />
scheitern drohen. Die Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation<br />
führt zur Vereinzelung und Solipsie. Der Mensch wird zum „l´étranger“ (Albert Camus).<br />
Zwischen dem Ich und der Welt hat sich eine unüberbrückbare Kluft des Absurden<br />
manifestiert. „Das Bewusstsein des Absurden kann den Menschen plötzlich ergreifen, wenn<br />
die Kulissen des Alltags zusammenbrechen und er nun der Fremdheit und Feindseligkeit der<br />
Welt unvermittelt gegenüber steht.“ 10 Der Mensch kreist nun als heimatloses Subjekt um sich<br />
selbst. Der Mensch ist, wie der Wanderer in der „Winterreise“ auf die eigene Mut- und<br />
Willenskraft verwiesen. „Muss selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit“ 11 (Gute<br />
Nacht), diagnostiziert der Wanderer bereits zu Beginn seiner Reise, um schließlich<br />
festzustellen: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter“ 12 (Mut). Zur<br />
Entfremdung und Isolation tritt also gleichsam der Entzug des Göttlichen hinzu.<br />
Interessant ist, dass der von Müller/Schubert angeregte Diskurskreis der Winterreise im<br />
Folgenden im literarischen, musikalischen und gestalterischen Bereich auf fruchtbaren Boden<br />
fällt. „Eine allgemeine Verdüsterung und Abkühlung scheint dieses Jahrhundert<br />
auszuzeichnen.“ 13 Padrutt sieht die Grundbestimmungen einer solchen Entwicklung in den<br />
politischen Gegebenheiten: Restauration nach den revolutionären Wirren, Metternich Regime<br />
und Polizeistaat mit Zensursystem, welches als Produkt der Karlsbader Beschlüsse gerade das<br />
Bürgertum schwer unter seinen Repressionen leiden ließ. Dennoch, und so stellte es sich auch<br />
für das lyrische Ich in Müllers „Winterreise“ dar, können einzig Revolution und<br />
Aufbruchstimmung als genuin subjektive Tätigkeiten gegen die äußeren, das Individuum<br />
negativ bestimmenden Faktoren stehen. („Als noch die Stürme tobten, / War ich so elend<br />
nicht.“ 14 - Einsamkeit). Nach Padrutt gibt es nun zwei Möglichkeiten der Reaktion auf einen<br />
solchen epochalen Winter. Zum einen die Akzeptanz der Situation, die sich im passiven<br />
9 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 240.<br />
10 Kunzmann, Peter: DTV-Atlas Philosophie, S. 205.<br />
11 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 18.<br />
12 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40.<br />
13 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 256.<br />
14 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 32.
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Ausharren, welches wohl auch mit einer gewissen Verdrängung einhergeht, darstellt. Zum<br />
anderen die Möglichkeit, sich mit dem Wanderer zu identifizieren, mit einem Träumer, der<br />
nicht schläft, standhält trotz Kälte und Einsamkeit, sich seinen Weg selbst durch die<br />
Dunkelheit sucht. Auch wenn er in tiefster Entfremdung und Vereinzelung steht, so zeichnet<br />
ihn doch das Streben nach einer wie auch immer gearteten Veränderung aus. Eine Welt, die<br />
das Subjekt mit ihren Entwicklungen überfordert, mit der stetig anwachsenden<br />
Informationsflut überlastet. All dies führt das neuzeitliche Individuum „zu einer<br />
lebenslänglichen Irrfahrt“ 15 . Noch nicht einmal mehr „Zugang zu einem kleinen Spezialgebiet<br />
der Welt-Datenbank“ 16 zu finden, „wächst sich zu kafkaesken Konsequenzen“ aus, wie den<br />
von diesem beschriebenen Bemühungen „des Landvermessers K., der vergeblich zu den<br />
maßgebenden Instanzen im Schloss vorzudringen versucht.“ 17<br />
Sprachkrise und Sprachskepsis resultieren aus dem Verlust von Welt. Der Überforderung des<br />
Subjekts in einer immer komplexer werdenden Umgebung und seine Angst vor der<br />
Unfähigkeit zur Kommunikation und solipsistischer Apartheid, wird durch die Auflösung von<br />
Sprache begegnet. Die Dekonstruktion eines vormals „deutlichen“ Sinnangebots, der<br />
Übergang von der Ein- in die Vieldeutigkeit und die bewusste Produktion von<br />
Sinnüberschüssen verweist auf eine sich in ihrer Komplexität entziehende Welt. Dem<br />
Schöpfenden wird bewusst, dass arbiträre Zeichen eine individuelle Mitteilbarkeit<br />
verunmöglichen. Sind Texte überhaupt noch in einer gewissen Weise aussagefähig und<br />
verständlich? Lösungsansätze zeigen sich zum einen im Verzicht auf Sprache, d.h. einer<br />
abnehmenden Kommunikationsfähigkeit, in der Sprache zum „Strandgut“ wird und<br />
schließlich im Schweigen endet (z. B. Beckett „Endspiel“), zum anderen die Möglichkeit,<br />
Welt aus Sprache entstehen zu lassen, ohne reale Rückbindung an die Welt zu knüpfen (z.B.<br />
Proust; Joyce), aber auch in der Generierung einer neuen Sprache (z.B. Dadaismus). Auch die<br />
Verbindung von Musik und Sprache, welche die Möglichkeit bietet, Sprache mit Emotionen<br />
und Gefühlen aufzuladen und so eine neue Art der Verständlichkeit hervorzubringen, scheint<br />
einen Lösungsweg anzubieten. In diesem Zusammenhang kann beispielsweise die<br />
„Winterreise“ Wolfgang Rühms gesehen werden, die zu einem späteren Zeitpunkt genauer<br />
reflektiert werden soll.<br />
15 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279.<br />
16 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279.<br />
17 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279.
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2 Überlegungen zur Überzeitlichkeit<br />
„Ein geistiger Gegenstand ist eben dadurch >bedeutend
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Folgenden ebenso entwickelt werden wie die signifikanten Merkmale einer solchen Reise und<br />
ihre Überzeitlichkeit.<br />
3 Von aufkeimendem Subjekt- zum Selbst-bewusstsein<br />
Die „Winterreisen“ nehmen literarisch betrachtet ihren Ausgangspunkt mit dem Gedicht<br />
„Galathee“ von Martin Opitz, das 1625 in dem Buch der „Oden und Gesänge“ seiner<br />
Deutschen Poemata erschien. Dieses poetische Regelwerk leitet er mit jenem Gedicht ein. Es<br />
handelt sich dabei inhaltlich um die Liebesklage des Hirten Coridon. Von besonderem<br />
Interesse ist hier jedoch nicht jenes Sujet, sondern die Art und Weise, wie dieses exponiert<br />
wird. Schon in den ersten Versen, in denen Ort und Gegenstand seiner Betrübnis exponiert<br />
werden, zeigen sich Merkmale, die für spätere Winterreisen grundlegend sein werden:<br />
„Coridon, der ging betrübet / An der kalten Cimbersee / Wegen seiner Galathee“ 21 . Dieses<br />
Zitat weist bereits auf zwei konstitutive Merkmale hin: zum einen auf den Zustand des<br />
Wanderns eines lyrischen Ichs, zum anderen auf die kalte und unwirtliche Landschaft. Hinzu<br />
tritt noch eine weitere Besonderheit, welche sich in späteren Versen offenbart: „Also sang er /<br />
dass die Wellen / Und das Ufer an der See / Galathee / O Galathee / Sämptlich [sic!] muste<br />
wiederschellen“ 22<br />
Hier zeigt sich, dass der Schmerz des Hirten einen Konterpart in der Natur findet. Die triste<br />
Landschaft spiegelt seine Gefühlslage. War es besonders in der mittelalterlichen Dichtung<br />
üblich, Erquickung und Ruhe mit dem Topos des Locus Amoenus zu verknüpfen, so scheint<br />
sich hier jener Ort in sein Gegenteil verkehrt zu haben, zum Locus Desertus geworden zu<br />
sein. Für diese Konfiguration lassen sich jedoch Vorbilder finden. „Der rhetorische Rahmen,<br />
die Topothesie einer Landschaft, die zur Gemütslage des Sängers passt, und die<br />
Schäfernamen der beteiligten Personen sind der Tradition der bukolischen Liebesklage<br />
entnommen.“ 23<br />
Ungewöhnlich erscheinen hingegen „die recht genauen geographischen<br />
Angaben, die dem Leser den Nachvollzug der winterlichen Reise ermöglichen; wie die lokale<br />
und jahreszeitliche Situation sind sie nur aus biographischen Umständen verständlich.“ 24<br />
Diese Umstände sollen hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Ziel ist es, nicht Opitz´<br />
individuelle Motivationen zur Entstehung einer Winterreisesituation zu klären, sondern<br />
festzustellen, dass „die Produktion literarischer Winterreisen von den Empfindungen eines<br />
21 Opitz, Martin: Gesammelte Werke. Bd.II, 2, S. 654-659.<br />
22 Opitz, Martin: Gesammelte Werke. Bd.II, 2, S. 654-659.<br />
23 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 231.<br />
24 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 231.
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autonomen Subjekts und der Fähigkeit zu ihrer Artikulation abhängig ist. [...] Innerlichkeit<br />
und Rückbezug auf die eigene psychische Verfassung erscheinen als notwendige<br />
Prämissen.“ 25<br />
Individualität und subjektives Bewusstsein aber sind basale Merkmale der<br />
Neuzeit. Im Mittelalter wäre eine subjektive Zentrierung undenkbar gewesen, da sich Künstler<br />
als Werkzeuge Gottes betrachteten und kein Verständnis individueller Einzigartigkeit<br />
ausbildeten. Erst in der Renaissance entwickelte sich ein solches, auf den schaffenden<br />
einzelnen Menschen hin konzentriertes Weltbild. Doch auch diese Vorstellung von<br />
Individualität greift in Bezug auf Selbstbild und Selbstverständnis von Winterreiseautoren zu<br />
kurz. Das Subjekt muss erst den Weg durch die Selbsterkenntnis des Ichs, als denkendem<br />
Wesen descartesischer Provenienz 26 nehmen. Es muss sich seiner selbst bewusst werden, zu<br />
sich kommen, „selbst-bewusst“ sein. Die in sich gefestigte Persönlichkeit drängt euphorisch<br />
vorwärts in Revolution, Sturm und Drang, erhebt sich gegen Grundfesten, die das neue<br />
subjektive Selbstbewusstsein determinieren.<br />
Zeigte sich bereits 1625 bei Opitz ein aufkeimendes individuelles Bewusstsein mit subjektiver<br />
Ausdrucksfähigkeit, so nehmen die „Winterreisen“ im Folgenden mit der Autonomisierung<br />
und Individualisierung zu.<br />
1777 schreibt Goethe seine „Harzreise im Winter“. Es handelt sich hierbei um die winterliche<br />
Besteigung des Brockens, die zur Zeit Goethes durchaus, gerade unter winterlichen<br />
Bedingungen, abenteuerliche Züge aufwies. Das Subjekt als gegen die unwirtliche Natur<br />
agierendes Vereinzeltes. Wenngleich auch hier wieder Bilder des Locus Desertus auftreten<br />
und die kalte winterliche Natur den unterschwelligen Gemütsregungen des Subjekts Ausdruck<br />
verleiht, so differenziert sich Goethes „Winterreise“ doch von jenen, die in den nachfolgenden<br />
Jahren geschrieben werden sollen. Goethes Wanderer nämlich erklimmt den Brocken,<br />
bezwingt die unwirtliche Natur und steht göttergleich - wie Prometheus - am Ende der Reise<br />
siegreich da. Der beschwerliche Weg hat das Subjekt schließlich in seinen persönlichen<br />
Fähigkeiten bestärkt. Der Wanderer trägt einen individuellen Gewinn davon. Dieses Sturm<br />
und Drang - Denken, dieses unerschütterliche Selbstbewusstsein aber schwindet mit<br />
verlustreichen Revolutionen, Restaurationssystemen und der erneuten staatlichen<br />
Zurückdrängung persönlicher Individualität.<br />
Entstand die Winterreisethematik grundlegend aus der Emanzipation des Individuums<br />
gegenüber Kirche und Staat als den bisherigen Ordnungssystemen, so zeigen sich nun auch<br />
die negativen Faktoren, die mit einem solchen Individualisierungsprozess einhergehen. Zum<br />
25 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 230.<br />
26 Vgl.: Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. S. 40-61.
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einen bedeutet die Absage an die Orientierungseinheiten Kirche und Staat individuelle<br />
Autonomie und neue künstlerische Freiheit, wodurch eine normative Ethik als Abbild<br />
staatlicher Ordnung an Relevanz verliert, zum anderen aber bedingen die gleichen Faktoren<br />
den Verlust eines zentrierten Weltbildes. Die Absage an norm- und orientierungstiftende<br />
Systeme wirft das Subjekt in eine Welt, in der es sich seine individuelle Daseinsberechtigung<br />
erst selbst setzen muss, sich seinen Sinn von Welt erschließen und konstituieren muss. Umso<br />
schwieriger erscheint eine solche Konfiguration unter dem Gesichtspunkt einer gescheiterten<br />
Revolution und eines restaurativen Systems, wie es sich für Müller und Schubert in der<br />
Metternich Ära darstellt. Das Bürgertum sucht seine Daseinsberechtigung und Bestätigung in<br />
der Ausbildung wirtschaftlicher Macht als Pendant zu verwehrter politischer Aktivität.<br />
Andererseits strebt es nach Zuflucht in Intellektuellenkreisen, die, getroffen von der ihnen<br />
verweigerten politischen Macht und der zensurbedingten Unfähigkeit zur Artikulation,<br />
Bildung und Rückzug in die Innerlichkeit als einzig mögliche Antwort auf die Gegebenheiten<br />
der zeitpolitischen Umstände begreifen. Folge eines Rückzugs in und auf die eigene Person<br />
kann zu Resignation, Isolation, Vereinzelung und dem Gefühl von Fremdheit führen. Diese<br />
Konfiguration, das Überfordertsein und Fremdsein, welches das Ich von der Welt separiert,<br />
findet in entscheidendem Maße Niederschlag in der Winterreisethematik.<br />
Der einsame Wanderer in der öden, kargen und unwirtlichen winterlichen Landschaft, der<br />
sich nicht artikulieren kann (oder auch nicht darf, wie im restaurativen Zensursystem).<br />
Kommunikationsloses Umherirren, das sein Pendant in Naturphänomenen findet.<br />
Zurückgeworfen auf sich, krankt das Individuum an solipsistischer Gemütshaltung.<br />
II Wenn die Heimat zur Fremde wird - Müllers „Winterreise“<br />
Konstitutiv für die „Winterreise“ von Wilhelm Müller ist die Divergenz von Heimat und<br />
Fremdsein. Es ist ein spezifisch dichotomisches Verhältnis, das sich nicht nur auf einer<br />
äußeren Ebene, sondern auch in der Konstitution des lyrischen, wandernden Ichs zeigt. Zum<br />
einen also entfernt sich der Wanderer real von einem Ort, der ihm vielleicht (doch auch dies<br />
scheint unsicher) einmal Heimat und Zufluchtstätte gewesen ist. Zum anderen wird der<br />
Wanderer sich selbst fremd, es kommt zur Selbstentfremdung des Subjekts. Die „Winterreise“<br />
Müllers offenbart folglich wesentlich existentiellere Züge, als dies den vorangehenden<br />
„Winterreisen“ zuzuschreiben gewesen wäre.
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1 Die real lokale Entfremdung<br />
Der Wanderer zieht durch eine kalte, unwirtliche Winterlandschaft, durch einen Locus<br />
Desertus, vielleicht auch einen Locus Terribilis, einen schrecklichen oder gar unheimlichen<br />
Ort. Unheimlich auch deshalb, weil ihm die einzelnen Naturphänomene keinen verbindlichen<br />
Sinnzusammenhang erschließen. Was sagt ihm die Stimme der Natur, die sich ihm „im<br />
heulenden Sturm, im Rauschen des Lindenbaums, im krachenden Eis, im Flackern des<br />
Irrlichts“ 27 und anderen onomatopoetischen Bildern zeigt? Interessant ist, dass<br />
Unheimlichkeit und Fremdsein für Freud in einem engen semantischen Bezug stehen. In<br />
seinem Aufsatz über das „Unheimliche“ legt er diese Beobachtung dar.<br />
a Die Provenienz des Unheimlichen aus heimatlichen Strukturen<br />
Zunächst klärt Freud die volksläufige Bedeutung des Begriffs „unheimlich“ auf. Er stellt fest,<br />
das Wort „unheimlich“ stehe offenbar dem Heimlichen, Heimischen und Vertrauten divergent<br />
gegenüber und der Schluss liege nahe, etwas habe eben darum eine unheimliche Wirkung,<br />
weil es nicht bekannt und vertraut sei. 28 Von dieser Begriffsdefinition nimmt Freud jedoch im<br />
Folgenden Abstand. Er bestimmt die Konnotation des Wortes schließlich mehr im<br />
Schlegelschen Sinn als all Jenes, das geheim oder verborgen bleiben solle, aber dennoch<br />
hervorgetreten sei. Der Begriff des „Unheimlichen“ stelle nämlich keinen Gegensatz zum<br />
„Heimischen“ dar, sondern gehe vielmehr aus diesem hervor. 29 Daher folgert Freud, dass<br />
„heimlich ein Wort [ist], das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es<br />
endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art<br />
von heimlich.“ 30<br />
Dieser Ansatz der Ambivalenz des Heimatbegriffes, der gleichzeitig „Unheimlichkeit“<br />
respektive „Un-Heimischkeit“ zum Ausdruck bringt, lässt sich auch auf der Hegelschen<br />
Ästhetik basierend aufbauen. „Das Fremde tritt in seinem verhüllenden Dunkel der<br />
aufgehellten und normativen Schönheit [...] als etwas Bedrohliches, sie in ihren Grenzen<br />
irritierendes gegenüber. Zugleich differiert es von der verlockenden Ferne: der<br />
Verunendlichung des Fremden im Fernen, wo das Fremde seinen Schrecken verliert und sich<br />
mit dem Absoluten berührt,“ 31 sich Fremdes und Bekanntes assimilieren. Diese Vorstellungen<br />
27 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.<br />
28 Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 231.<br />
29 Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 236.<br />
30 Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 237.<br />
31 Zitiert nach: Zenck, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 141.
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Hegels basieren auf jener dialektischen Konzeption, welche er auch in der „Phänomenologie<br />
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des Geistes“, sowie in der „Wissenschaft der Logik“ darlegt. Sein und Wesen, Ich und Nicht-<br />
Ich werden dadurch vermittelt, dass sie sich vom jeweils anderen durch ihre Andersartigkeit<br />
unterscheiden und gerade durch dieses Abstoßen und Differenzieren ihre eigene Identität<br />
finden. Durch das bewusste Setzen der eigenen Negativität entsteht zunächst eine scheinbar<br />
unüberwindbare Divergenz. Es zeigt sich aber, dass gerade der Gang durch die Negativität,<br />
durch das Anderswerden überhaupt erst Identität und Selbstgewissheit entstehen können. Die<br />
eine Seite bedingt ihr negatives Gegenüber ebenso wie sich dies auch von der anderen Seite<br />
zeigt. So kann „Heimischkeit“ nicht ohne Fremde gedacht werden, da Heimat sich durch die<br />
bewusste Abwesenheit des Fremden setzt. Diese notwendige Konfiguration des sich<br />
immerwährenden Fügens von An- und Abwesendem zeigt die Dichotomie von Divergenz und<br />
Konvergenz. Dennoch muss eingeräumt werden, dass es sich hier nicht um ein<br />
selbstreflektiertes, bewusstes Verhältnis der divergenten Seiten handelt. Eher stehen sich die<br />
gegenseitig bedingten Verhältnisse unvermittelt gegenüber. Sie sind sich der gegenseitigen<br />
Bedingtheit nicht bewusst, empfinden sich nicht als aus dem jeweilig anderen entsprungen<br />
und stehen sich somit als Negativa gegenüber. Daher erscheint die Fremde in Müllers<br />
Gedichten nicht in der Nähe zur Heimat, sondern zeigt sich gerade als deren Gegenteil,<br />
welches unvermittelbar mit dem positiven Heimatgefühl kollidiert. Wenngleich sich also<br />
Fremde aus Heimat oder besser gesagt deren Abwesenheit konstituiert, so kann der Wanderer<br />
diese Fremdheit doch nicht überwinden, da er die Verbindung zur heimatlichen Struktur nicht<br />
herstellen kann und so im philosophischen Sinn nicht in der Lage ist, die polarisierenden<br />
Seiten auszusöhnen.<br />
Dennoch lässt sich festhalten, dass, so antonym sich also Fremde und Heimat auch entgegen<br />
zu stehen scheinen, doch eines aus dem anderen zu entwickeln ist.<br />
Was bedeutet dies nun für die Wanderung in die Fremde?<br />
Unheimlich war nach Freud eben als das nicht mehr Heimische bestimmt worden. Aus<br />
vormaliger Heimat ist eine unwirtliche Landschaft geworden, die nur noch<br />
Fremdheitsstrukturen aufscheinen lässt. Der Wanderer ist, wie er selbst sagt, aus „törichtem<br />
Verlangen“ 32 zum Wandern getrieben. Er durchzieht „planlos-zwanghaft“ die Landschaft wie<br />
ein „Heimatloser, dessen Fremdheit von Anfang an außer Zweifel steht.“ 33 Irgendwann hat<br />
sich die Landschaft um ihn herum verkehrt und ist zur fremden Einöde geworden. Ziel der<br />
Wanderung ist die Konstitution einer neuen Heimat, fester Strukturen, die wieder Halt im<br />
Leben bieten. Doch der Ausweg scheint fern. Fremde wird eben als negatives Moment der<br />
32 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.<br />
33 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.
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Heimat erfahren, die dichotomischen Wurzeln aber nicht erkannt. „Fremd bin ich eingezogen,<br />
fremd zieh ich wieder aus“ 34 postuliert der Wanderer bereits zu Beginn und lässt daher gleich<br />
auf die tiefe, einschneidende Fremdheitserfahrung blicken, die mit seiner erzwungenen<br />
Wanderschaft einhergeht.<br />
2 Die Selbstentfremdung<br />
Wie stellt sich nun infolgedessen das Verhältnis des Wanderers zu seinem eigenen Ich dar?<br />
Der Wanderer ist von sich selbst in gleicher Weise entfremdet, wie ihm die ihn umgebende<br />
Landschaft fremd geworden ist. So, wie sich die Heimat in ihr dialektisches Gegenteil<br />
verkehrt hat, so ist die Ich-Identität einer Nicht-Identität gewichen. Obwohl beide, wie zuvor<br />
erläutert, gleichen Wurzeln entstammen, stehen sich die divergenten Seiten in der<br />
„Winterreise“ letztendlich doch unvermittelt gegenüber. Es gibt keine übergeordnete<br />
Auflösung der Divergenz in einem Absoluten, wie dies Hegel in der „Wissenschaft der<br />
Logik“ als letzte Vermittlungsstufe darstellt. Es handelt sich eben nicht um das freie Scheinen<br />
der negativen Bestimmtheiten ineinander, sondern um das „blinde Übergehen der<br />
Notwendigkeit“. 35<br />
Die Seiten werden vermittelt, ohne dass die Notwendigkeitsstruktur<br />
Transparenz erlangt. Dies gerade ist auch eine Konstituente, die zur Entfremdung des Ichs<br />
von sich selbst führt. Es kann durch die Erfahrung seines Nicht-Ichs keine eigene Identität<br />
mehr herstellen. Heimat, Natur und Geliebte werden dem Ich fremd. Die Fremde wird „nicht<br />
erst noch erfahren, sondern in der Erinnerung im Traum verklärt und in der Realität verschärft<br />
empfunden.“ 36 Die Entwicklung einer „Identität, welche sich durch das andere erst bildet,<br />
indem sie fremdliche Impulse aufnimmt und dadurch erst zu sich selbst kommt, zu einer<br />
Nicht-Identität, in der alle Spuren eines ursprünglich Identischen gelöscht sind, ist nun für<br />
Schubert [...] zum Thema der Winterreise geworden.“ 37<br />
Martin Zenk folgert in seinem<br />
Aufsatz aus dieser Feststellung, dass das ästhetische Subjekt paradoxerweise in dem Maß an<br />
Identität verliere, wie es anderes als sich selbst, also die Außenwelt, nicht mehr<br />
wahrzunehmen im Stande sei und die Außenwelt schließlich mit ich-eigenen Projektionen<br />
überziehe. 38<br />
Dieser Gedankengang ist bis auf das Wort „paradox“ folgerichtig und<br />
nachvollziehbar. Warum sollte eine solche Konstellation paradox sein? Wendet man sich<br />
34 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S.18.<br />
35 Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik, S. 217.<br />
36 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 143.<br />
37 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 143.<br />
38 Vgl.: Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 144.
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wieder Hegels Theorien zu und überlegt, wie sich hier Selbstbewusstsein konstituiert, so klärt<br />
sich das zunächst paradox Erscheinende auf. Das Subjekt kann nur in der Weise zu sich<br />
finden, in der es fähig ist, sich ein negatives Gegenüber zu setzen und sich von diesem zu<br />
differenzieren. Aus der Erfahrung der Negativität konstituiert sich die eigene Identität. Wird<br />
die Außenwelt aus dem Erfahrungsraum ausgeschlossen, gelingt kein Gang durch die<br />
Negativität mehr, wird kein selbstbewusstes Ich mehr durch Differenzerfahrung erschlossen.<br />
Ein solipsistisches, vereinzeltes Individuum bleibt zurück, das sich selbst fremd ist und dies in<br />
umso gesteigertem Maße wird, desto weniger eine reale negative Gegenübersetzung ihm die<br />
Überwindung dieser Differenz ermöglicht. So überzieht der Wanderer schließlich die<br />
Außenwelt mit eigenen Projektionen, schafft sich eine Welt des immerwährenden Winters, in<br />
der sich sein eigenes Fühlen und Denken bildlich darstellt. Doch gerade diese Konstellation<br />
beschreibt die solipsistische Vereinsamung besonders eindringlich. Für Georg Lukács ist die<br />
„selbst geschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr, sondern Kerker.“ 39<br />
Eingeschlossen in eine Welt der Fremdprojektionen kommt es zu der „Entfremdung des<br />
Menschen von seinen Gebilden“ 40 und somit auch von sich selbst.<br />
3 Sinn- und Zielkonfiguration<br />
Nun ist zu überlegen, welchen Sinn eine Reise oder Wanderung durch eine solche Landschaft<br />
haben kann, oder viel pauschaler gefragt, welchen Sinn eine Wanderung überhaupt hat. Im<br />
Folgenden sollen drei divergente Sinnkonnotationen diskutiert werden und aufgrund dessen<br />
die Besonderheiten der Bedeutungsstruktur der Reisemetapher in der Winterreise Müllers<br />
erschlossen werden.<br />
B Teleologie<br />
Geht man von Reisen, auch literarischen, der Goethezeit aus, so dienen diese immer einem<br />
höheren Ziel wie dem der Bildung. Diesen Reisen ist eine Teleologie eigen, die das Wandern<br />
konstituiert und ihm Sinn gibt. In der Romantik wird „das Wandern zum lyrischen<br />
Volkssport.“ 41 Doch hat es sich grundlegend gewandelt; besonders bei Müller scheint eine<br />
neue Dimension hinzugetreten zu sein.<br />
39 Lukásc, Georg: Theorie des Romans, S. 55.<br />
40 Lukásc, Georg: Theorie des Romans, S. 55.<br />
41 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 147.
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Die Reise hat, wie dies bereits zuvor soziologisch und philosophisch erläutert wurde, kein<br />
reales Ziel mehr. „Das Grundmuster der zeitlich beschränkten, zielorientierten Reise“ 42 wird<br />
gebrochen. „Wandern ist nun sowohl Selbstzweck als auch Selbstausdruck. [...] Der<br />
entscheidende Aspekt ist nicht mehr die Ankunft, wie sie es für alle Heimkehrer seit Odysseus<br />
war. [...] Im prägnanten Moment des Aufbruchs bündelt, entfaltet und verklärt sich<br />
romantisches Wandern.“ 43 Das Wandern ins Geheimnisvolle, ins Fremde steht im<br />
Aussagezentrum.<br />
Aber auch von dieser Vorstellung differenziert sich Müllers Wanderer. Dieser zieht<br />
schließlich nicht erst in die Fremde, er wandert bereits als Fremder in der Fremde. Seine<br />
ersten Verse belegen dies. Sie zeigen einen Menschen, dessen Wanderung nicht erst beginnt.<br />
Hier begegnet dem Rezipienten keine Person, die mit Ziel und Hoffnung aufbricht, wohl eher<br />
eine Gestalt, die schon einen Weg hinter sich gebracht hat und nun wandernd durchs Leben<br />
zieht und keine Heimat findet, irre umherwandert ohne Grund und Ziel:<br />
„Und ich wand´re sonder Maßen <strong>–</strong> ohne Ruh´, und suche Ruh´.“ (Der Wegweiser) 44<br />
Doch dies scheint nicht weiter erstaunlich, denn Müller nennt seinen Zyklus „Winterreise“.<br />
Somit wird der positiv konnotierten Reise das negative Assoziationen auslösende Bild des<br />
Winters zur Seite gestellt. So erscheinen „von vornherein Schatten der Skepsis, ob eine Reise<br />
im Winter überhaupt glücken kann“ 45 , über dem Vorhaben zu liegen. Es zeigt sich, dass die<br />
Option eines realen Ziels der Reise gleich von Beginn an zerschlagen ist.<br />
C Zyklische Geschlossenheit<br />
Wenn also hier nicht die Bedeutung der Reise gefunden werden kann, so ist es vielleicht, und<br />
diese Möglichkeit wird bereits durch Müllers Disposition der Winterreisegedichte als Zyklus<br />
angedeutet, eine Reise, die zum Ausgangspunk zurückkehrt. Aber wenngleich Müller die<br />
Gedichte der „Winterreise“, zuerst (Anfang 1822) als Teilzyklus zu 12 Gedichten und<br />
schließlich 1824 als vollständigen Zyklus, unter dem Titel „Gedichte aus den hinterlassenen<br />
Papieren eines reisenden Waldhornisten“ zusammen mit den Gedichten der „Schönen<br />
Müllerin“ und den „Tafelliedern für Liedertafeln“ 46 veröffentlichte, scheint sich eine<br />
42 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 148.<br />
43 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 149.<br />
44 Müller, Wilhelm: Winterreise, S. 38.<br />
45 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 155.<br />
46 Vgl.. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 60.
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zyklische Disposition aus der Anlage nicht zwingend abzuzeichnen. „Die `Winterreise´<br />
Müllers entfernt sich konsequent in räumlicher wie emotionaler Hinsicht und endet offen.“ 47<br />
Die Wege des Wanderers sind keine „Vorbereitung zur Heimreise, sondern gerade umgekehrt<br />
Stationen der fortschreitenden Desillusionierung.“ 47 Es scheint sich also vielmehr eine Spiralals<br />
eine Kreisbewegung abzuzeichnen.<br />
D Spiralbewegung<br />
Der thematische Kern des Zyklus´, die Wanderschaft, zeigt „auch die Weise seiner<br />
Entwicklung im Sinne einer sich verengenden Spirale, die im Schlussgedicht gipfelt.“ 48 Die<br />
Wanderschaft als konstitutives und konsistenzbildendes Merkmal des Zyklus zeigt sich in<br />
„zentrifugaler“ 49 ebenso wie in „zentripetaler“ 50 Weise: zentrifugal als Flucht in die Fremde,<br />
in der Suche nach Heimat oder letztendlicher Ruhe, zentripetal als Reflexion, Traum, und<br />
verklärter Blick auf die Vergangenheit. So lassen sich die Gedichte der „Winterreise“ Müllers<br />
nach Hellen Mustard 51 in fünf Kategorien einteilen:<br />
1-4: Abschiedsgedichte<br />
5-9: Reminiszenzen<br />
10-15: Desillusionierung<br />
16-18: Todesgedanken<br />
19-24: Vollständige Desintegration<br />
Wenngleich diese Gliederung für die inhaltliche Charakterisierung der Gedichte recht<br />
pauschalisierend erscheint, so ist der formalen Gliederungsidee dennoch zuzustimmen. Zu<br />
beachten ist bei dieser Gliederung, dass es sich hierbei um die Disposition Müllers und nicht<br />
um die letztendlich von Schubert gewählte Reihenfolge der Gedichte handelt. (vgl.: Anhang I)<br />
Etwas gröber ließe sich der Zyklus Müllers in drei Aufbrüche mit jeweils folgenden<br />
Teilzyklen gliedern 52 :<br />
1. Teil (1-9): Rückblickende Flucht als direkte Reaktion auf nicht erwiderte Liebe.<br />
2. Teil (10-18): Suche nach einem Ausweg im Tod, als Reaktion auf die Nichtigkeit und<br />
47 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 94.<br />
48 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103.<br />
49 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103.<br />
50 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103.<br />
51 Mustard, Hellen: The lyric cycle in german literature, S. 87-89.<br />
52 Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 118.
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Sinnlosigkeit des Wanderns.<br />
3. Teil (19-24): Suche nach Ruhe, als Reaktion auf die Verunmöglichung der<br />
Todesoption, in der die Dualität von Rast und Reise besonders stark hervortritt.<br />
Während die ersten Gedichte von Rückblick und Sehnsucht nach der nun enttäuschten Liebe<br />
handeln und die Wanderung des lyrischen Ichs zunächst hauptsächlich durch diese<br />
Bedingtheit motiviert erscheinen lassen, prägt sich im Folgenden die Todessehnsucht aus, die<br />
zum neuen Ziel der Reise wird. „Während also der Beginn der „Winterreise“ noch um die<br />
Geliebte kreist, wirft der zweite Auszug das Ich völlig auf sich zurück.“ 53 Wird der Beginn<br />
der „Winterreise“ von der zunehmenden „Entrealisierung der Erinnerung und der wachsenden<br />
Fluchttendenz“ 54 geprägt, so wandelt sich diese reflexive Haltung zu einer Suche nach neuer<br />
Weisung, die der Wanderer in der Grabesruhe zu finden glaubt. Die Reise wird nun folglich<br />
als Lebensweg betrachtet, dessen Sinn und Ziel sich für den Wanderer im Tod konstituiert<br />
und so rundet. Doch auch der Tod erscheint dem Wanderer schließlich nicht als Ausweg,<br />
denn er ist ihm verwehrt. So sehr der Wanderer auch versucht, seine Todessehnsucht zu<br />
realisieren, so entzieht sich dieser dem Zugriff des Wanderers gleichsam als reale Option.<br />
Zenk versteht, das „Anti-Zyklische als Zeichen einer irreversiblen Bewegung ins Fremde“ 55 .<br />
„Wenn der Kreis oder die Kugel ein Symbol von Vollkommenheit beschreibt, eine Identität<br />
von Leben und Natur, von der der Tod als Teil der Natur eingebunden wäre und nichts<br />
Erschreckendes hätte, dann wäre eine nicht zyklische Anordnung ein Symbol für die Nicht-<br />
Identität von Leben und Natur, ein Ausdruck für das Fremdsein des Menschen der Natur<br />
gegenüber.“ 56<br />
Er bezieht das Antizyklische hier nicht nur auf den Müllerschen<br />
Gedichtskorpus, sondern auch auf die ebenfalls antizyklische Tonartendisposition Schuberts,<br />
welche in Kapitel IV näher erläutert werden soll.<br />
Interessant ist, dass der bewusste Bruch einer zyklischen Form im genormten Sinn gleichsam<br />
neuen Sinn konstituiert. Dem Wanderer ist es eben nicht möglich, den Tod in sein Leben zu<br />
integrieren, nach ihm zu streben oder ihn zu wünschen, weil er aus dem Lebenszyklus<br />
hinausgetreten ist. Er hat sich von den natürlichen Umständen entfremdet. Den Wanderer<br />
schreckt der Tod nicht, aber er kann ihn nicht finden, da er unter Desintegration in die<br />
natürlichen Lebensgegebenheiten leidet. Jenes ziellose Getriebensein zeigt sich auch in dem<br />
sehnsüchtigen Wunsch nach kurzzeitiger Ruhe, der dem Wanderer unerfüllt bleibt. Jede Rast<br />
ist ihm verwehrt, er kann keinen Aufenthalt finden.<br />
53 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 108.<br />
54 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 328.<br />
55 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 146.<br />
56 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 146.
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Diese fortwährende Entfremdung findet ihr kongruentes Abbild in der zunehmenden<br />
„Abseitigkeit und wachsenden Isolation“ 57 des Wanderers. Zunächst flüchtet dieser aus der<br />
städtischen Sphäre, getrieben von akustischen Stimuli wie dem Gebell der Hunde. Der Fluss<br />
an dem er entlang wandert, ist zugefroren, und auch sein weiterer Weg durch die öden<br />
acherontischen Landschaften entzieht ihm immer mehr Richtung und Sinnkonfiguration. Er<br />
gerät durch die Verlockung visueller Stimuli in die „tiefen Felsengründe“, kann auch „im<br />
Dorfe“ keine Zuflucht finden und selbst in des „Köhlers Hütte“, wird ihm zwar Obdach aber<br />
keine Ruhe zuteil („In eines Köhlers engem Haus / Hab´ Obdach ich gefunden; / doch meine<br />
Glieder ruhn´ nicht aus: / So brennen ihre Wunden.“ 58 ). „Das Wirtshaus“ schließlich wirft ihn<br />
ganz auf sich zurück und desillusioniert jede Hoffnung auf potentielle Erlösung durch den<br />
Tod, denn alle Kammern in diesem Haus sind besetzt und die „unbarmherz´ge Schenke“ 59<br />
weist ihn ab. Jegliche menschliche Sphäre wird ihm fremd, jeder soziale Kontakt scheint<br />
verwehrt. „Die Erfahrung der Fremde zeichnet sich im Weg des Wanderers von der Stadt der<br />
Geliebten bis hin zu einem nicht mehr lokalisierbaren Ort der „Wüstenei“ 60 (Der Wegweiser)<br />
ab. „Der Wanderer wird sich bei diesem Gang in die Fremde selbst fremd, das heißt, er<br />
verliert an Identität in dem Maße, wie er sich von der Stadt der Geliebten entfernt.“ 61 Das Ich<br />
ist nicht in der Lage, die Fremdheitserfahrungen zu verarbeiten und aus ihnen das eigene<br />
Subjektbewusstsein zu schöpfen. Die Hegelsche Struktur der Selbstbewusstseinskonstitution<br />
definiert dieser in der „Phänomenologie des Geistes“ wie folgt: „Das Selbstbewusstsein ist die<br />
Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die<br />
Rückkehr aus dem Anderssein. Es ist als Selbstbewusstsein Bewegung; aber indem es nur<br />
sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein<br />
Anderssein aufgehoben.“ 62 Dies bedeutet, dass sich Selbstbewusstsein ausschließlich durch<br />
vermittelte Fremderfahrung, durch Erfahrung der Negativität des eigenen Ichs und deren<br />
Aufhebung konstituieren kann. Da der Wanderer die Welt mit seinen eigenen Projektionen<br />
überzieht und die Objektwelt schließlich seine psychische Verfasstheit widerspiegelt, kann er<br />
keine Fremderfahrung machen und somit auch nicht aus der erfahren Negativität zur eigenen<br />
Identität zurückfinden. Der Wanderer entfremdet sich also auf seinem Weg nicht nur immer<br />
57 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 120.<br />
58 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 28.<br />
59 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40.<br />
60 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.<br />
61 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 159.<br />
62 Hegel, G.F.W.: Phänomenologie des Geistes, S. 142.
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weiter von allen möglichen Heimatstrukturen, sondern durch sein Projektionsverhalten auch<br />
von sich selbst.<br />
Gleichzeitig erfährt er soziale Ausgrenzung, welche ihm als reale Fremdheit entgegentritt.<br />
Doch auch hier kann er der Fremdheitserfahrung nicht vermittelnd begegnen, so dass er an der<br />
Gesamtsituation in immer stärkerem Maße zu zerbrechen droht, als dass diese Auslöser für<br />
Auf- oder Umbruch werden könnte.<br />
Dem Ich ist also schließlich nicht nur die es umgebende Welt fremd geworden, sondern auch<br />
die eigene Persönlichkeit. Eine umfassende Fremdheitserfahrung, die es in dieser Weise in<br />
den „Winterreisen“ vor Müller wohl nicht gegeben hat und die eben daher den Weg zur<br />
Moderne schlägt und verständlich machen kann, wieso eine Rezeption der „Winterreise“ nie<br />
abgebrochen ist und gerade in der heutigen Zeit auch wieder neue Relevanz erlangt. Die<br />
Überzeitlichkeit der Thematik scheint also auf einer individuellen Fremdheitserfahrung zu<br />
basieren, die sich seit der Zeit Müllers und Schuberts als soziologische Grundkonstante<br />
durchhält: Die Problematik, ein grundsätzlich anderes Verständnis von Welt zu haben,<br />
welches man in repressiven Staaten nicht artikulieren konnte/kann, das Verhängnis, eine<br />
immer komplexer sich differenzierende Welt nicht mehr durchdringen zu können. So wird der<br />
Mensch zum vereinzelten, solipsistischen, in die Welt geworfenen Individuum. „Der Mensch<br />
ist“, so heißt es im Humanismusbrief Heideggers „vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins<br />
>geworfen
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
4 Kommunikation in der Isolation<br />
In dieser Weise desorientiert und entfremdet trifft der Wanderer schließlich auf den<br />
Leiermann. Hier, ganz am Ende des Zyklus, wird nun die „einzige Begegnung mit einem<br />
menschlichen Du thematisiert.“ 64 Während bereits der gesamte Zyklus von Dichotomien der<br />
Ruhe und der Bewegung, ebenso wie von dem Antagonismus zwischen Natur (Objektwelt)<br />
und lyrischem Ich (Subjekt) geprägt wird, so treten diese Divergenzen im „Leiermann“<br />
erstmals zusammen. Das Leiermanngedicht<br />
„ist zugleich Vision und Wirklichkeit, es vereinigt Bewegung und Stillstand, Versunkenheit in<br />
Anschauung und Entschluss, Ruhestation und Aufbruchsimpuls. [...] Darüber hinaus findet sich hier<br />
erstmals die Polarität von Gehen und Stehen in der suggestiven Vorstellung des Leierdrehens als<br />
Kreisbewegung eine Vermittlung, die über die physische Ebene hinaus vielleicht ein Licht auf die<br />
Zirkularität des Zyklus, auf die Wiederkehr des Gleichen werfen kann: Die Wanderschaft bewegt sich<br />
zwar aus ihrem Ursprungsort weg, kehrt aber bogenförmig zu immer neuen Aufbrüchen zurück, bis<br />
`Der Leiermann` mit seinem Neubeginn den Kreis schließt.“ 65<br />
Das bedeutet, dass sich durch das Eintreten des Leiermanns in die Sphäre des Wanderers nach<br />
einer langen Entfremdungsspirale ein neuer Aufbruch ankündigt.<br />
64 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, Bd.I. S. 119.<br />
65 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, Bd.I. S. 118-120.
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- <strong>JANINE</strong><br />
V<br />
<strong>CHRISTGEN</strong><br />
Thomas Mann „Zauberberg“<br />
In Thomas Manns Zauberberg zeigen sich vor allem in den Kapiteln „Schnee“ und „Fülle des<br />
Wohllauts Strukturen, die sich in den Diskurs der Winterreise einfügen. Daher wird sich die<br />
nachfolgende Analyse im Wesentlichen mit den beiden benannten Kapiteln beschäftigen,<br />
wenngleich, und dies soll im durch Verweise an den entsprechenden Stellen aufgezeigt<br />
werden, sich die Winterreisethematik in der Suche Castorps nach dem Sinn des Lebens und<br />
der Welt als Leitbild des Romans herauskristallisiert. Wenngleich der „Zauberberg“ kein<br />
typischer Bildungsroman ist, da die Bildung des Protagonisten außerhalb der<br />
gesellschaftlichen Sphäre stattfindet, ist es doch ein Aufbruch des „Helden“ in eine<br />
„Parallelwelt“, die sein Bewusstsein grundlegend verändern wird. Castorp reist in das<br />
Sanatorium in Davos, um seinen geliebten Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Aus dem<br />
geplanten dreiwöchigen Aufenthalt, den der examinierte Ingenieur vor seinem geplanten<br />
Eintritt in eine Schiffsbauwerft bei Joachim verbringen will, werden schließlich sieben Jahre.<br />
Nach anfänglichen Schwierigkeiten sich in den Kurbetrieb und das Leben der „hier oben“<br />
einzufügen, entwächst er der Sphäre des Flachlands. Der Zauberberg lässt die Assoziationen<br />
an den Hardes der Antike, den Hexenberg in Goethes „Faust“ oder den Venusberg in Wagners<br />
„Tannhäuser“ auftauchen. Eine mystische, traumverlorene Welt erscheint als Gegenbild zum<br />
Flachland mit seiner Ordnung und Disziplin. Auch Castorp lernt die Vorzüge der Welt des<br />
Zauberbergs nach und nach kennen. Dem fait social der bürgerlichen Welt, die sich aus<br />
Vernunftgründen mit der Außenwelt versöhnt und die eigenen Bedürfnisse nicht reflektiert,<br />
wird die Autonomie der Menschen des Zauberbergs entgegengesetzt. Problematisch ist die<br />
Versöhnung dieser beiden Polaritäten. Gerade aber diese Polaritäten und das Außenseitertum<br />
verbinden den Roman Manns mit dem Diskurs der Winterreise. So lassen sich im Zauberberg<br />
auch explizite Verweise auf Winterreisestrukturen erkennen. Wird der Zauberberg zunächst in<br />
seinem sommerlichen Erscheinungsbild dargestellt, kann der Leser nachvollziehen, wie der<br />
Wintereinbruch nicht nur die Landschaft, sondern auch das Denken und Handeln Castorps<br />
beeinflusst. So zeigt die Sommerlandschaft, in der Castorp im Schneekapitel in Gedanken<br />
noch einmal wandert, eine Bergwelt, die er, wie Hänschen, mit „Stock und Hut“ erkundet. Er<br />
rastet in einer Lichtung mit rauschendem Bach, was den Leser sogleich die Assoziation des<br />
locus amoenus verleitet. Gerade diese Erinnerung ergreift Castorp während er im<br />
Schneegestöber durch die Winterlandschaft zieht, wodurch die Idylle der Sommerlandschaft<br />
deutlich kontrastiert wird. Der locus amoenus wird mit dem Bild des locus desertus<br />
kontrastiert, der kalt und unwirtlich ist.
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
Um diese Entwicklung und die Kontrastbildung genauer untersuchen zu können, ist es jedoch<br />
nötig sich eingehender mit dem Schneekapitel auseinander zu setzen.<br />
Die Bedrohlichkeit der winterlichen Landschaft zeigt sich zunächst noch nicht in der<br />
persönlichen Konstitution des Wanderers Castorp, denn auf diesen wirkt die winterliche<br />
Landschaft eine so magische Anziehungskraft aus, daß er sich dem durch die Hausordnung<br />
ausgesprochenen Verbot wiedersetzt und sich entschließt, in das schneeverwüstete Gebirge zu<br />
unternehmen. Castorp verbindet mit diesem Vorhaben zwei Ziele, zum einen mit seinen<br />
Gedanken einmal allein zu sei, zum anderen der Naturgewalt des Gebirges entgegenzutreten.<br />
Die einsame Wanderung durch die karge Natur stellt eine Konnexion Castorps mit dem<br />
Wanderer der Müllerschen Winterreise her, doch scheinen zunächst die weiteren Motivkreise,<br />
die sich mit der Winterreise Müllers verbinden, zu fehlen. Betrachtet man die Geschichte<br />
Castorps hingegen genauer, so wird deutlich, dass auch die Themenkreise von Liebe und Tod<br />
eine entscheidende Rolle spielen. So findet seine Liebe zu Chauchat zunächst keine<br />
Erwiderung. Castorp verbleibt auch nach ihrer Abreise auf dem Zauberberg, um Chauchats<br />
Rückkehr entgegenzusehnen. Wenngleich es in der Faschingsnacht zu einer nicht weiter<br />
ausgeführten Liebesbegegnung zwischen Chauchat und Castorp kommt, so kann er sie doch<br />
nicht halten. Nach Peeperkorns Tod, als dessen Reisebegleiterin sie erneut auf den<br />
Zauberberg gekommen war, reist sie ab und entzeiht sich Castorps Liebe in raumzeitlicher<br />
Dimension. Sinnkonfiguration für sein Leben konnte Castorp der Liebe somit, ähnlich wie der<br />
Wanderer in der Winterreise, nicht konstituieren.<br />
Das Verhältnis, in welchen Castorp zum Tod steht, ist nicht so leicht umrissen, da es ein<br />
wesentlicher Bestandteil einiger philosophischer Diskussionen mit Settembrini und eines<br />
Gesprächs mit Chauchat ist. Vor allem aber lässt sich dieses Verhältnis zwischen Leben und<br />
Tod, welches eng mit dem Themenkreis der Wanderschaft, der Winterreise und dem<br />
Lindenbaumlied verbunden ist, anhand des „Schneekapitels“ und des Kapitels „Fülle des<br />
Wohllauts“ darstellen.<br />
Der Leser findet im Schneekapitel also Castorp als Wanderer vor sich, der, allen Warnungen<br />
mutig trotzend, in die unwirtliche Landschaft hinaus zieht, welche mit einer solchen Menge<br />
von Schnee überdeckt ist, wie es „Castorp in seinem Leben noch nicht gesehen“ hatte. Der<br />
Aufbruch erinnert an Müllers Gedicht „Mut!“, welches mit den Zeilen „Mutig in die Welt<br />
hinaus <strong>–</strong> gegen Wind und Wetter“ beginnt. „Weht der Schnee mir ins Gesicht <strong>–</strong> schüttel ich<br />
ihn runter“ vervollständigt Müller und entwirft dabei das Bild eines Wanderers, der<br />
unerschrocken in einer öden Landschaft wandert. Bei Müllers Wanderer sind es existentielle
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Gründe, die ihn zu einem solchen Gang bewegen, Castorp hingegen scheint sich einer solchen<br />
Dimension seines Tuns nicht bewusst zu sein. Die Bewusstwerdung setzt erst mit dem Traum<br />
der „Weltseele“ ein und rückt erst im Kapitel die „Fülle des Wohllauts“ in den subjektiv<br />
individuellen Gesichtskreis Castorps. Doch soll hier zunächst Castorps Weg in den Schnee<br />
näher expliziert werden, denn es handelt sich nicht um ein verantwortungsvolles, geplantes<br />
Wandern, sondern um einen bewusst als Abenteuer inszenierten Ausflug. Er vermiedet „die<br />
Wege, wo die andren Wandrer gehen“, sucht sich „versteckte Stege durch verschneite<br />
Felseshöhn´“, wie es in Müllers „Wegweiser“ heißt. Er weicht bewusst von den vorgegebenen<br />
Wegen ab. Versucht sich zu verwirren und die Orientierung zu verlieren, und ist erstaunt, als<br />
dies tatsächlich eintrifft. In der realen Einsamkeit und Verlassenheit, im Angesicht der<br />
aufziehenden Dunkelheit, die mit ihrer Kälte empor steigt, gewinnt die Wanderung nun eine<br />
existentielle Dimension.<br />
Castorp hat sich von den autoritativen Regeln des Kurbetriebs gelöst, indem er im Dorf Ski<br />
erwarb und unter Settembrinis Aufsicht nach und nach lernte sich auf ihnen zu bewegen.<br />
Settembrini unterstützt zunächst Castorps Vorhaben, begleitet ihn beim Kauf der Ski und<br />
feuert ihn bei seinen Übungen an, alle Fortschritte mit „Bravorufen“ kommentierend. Direkt<br />
vor Castorps Aufbruch in die unwirtliche Natur aber, „kurz bevor er Settembrini im Nebel<br />
verschwinden sah“, hörte Castorp, wie dieser ihm „durch die holen Hände eine Warnung“<br />
zurief und „pädagogisch befriedigt“ nach Hause ging. Castorp aber ignoriert auch diese<br />
Warnung. Dies deutet an, wie er sich nach und nach, im Laufe seiner Entwicklung vor seinen<br />
Lehrern etabliert. Im Schneekapitel wird so deutlich, daß Castorp Settembrini zwar schätzt,<br />
seinen pädagogischen Ratschlägen aber nicht unreflektiert zu folgen bereit ist. Er übernimmt<br />
die Verantwortung für seinen Ausflug in das winterliche Gebirge, welches ihm in<br />
„Totenstille“ entgegentritt. Zunächst ist diese Landschaft versunken in „bodenlosem<br />
Schweigen“, kein Windhauch, kein Rauschen der Bäume, keine Vogelstimmen. Die Natur<br />
erscheint als ausgestorben und wird im Roman als „tödlich lautlose Winterwildnis“<br />
beschrieben. Eine solche unwirtliche Umgebung sollte den Wanderer nun eigentlich<br />
abschrecken und zur Vernunfteinsicht beitragen in die Nähe der Menschen zurückzukehren,<br />
doch Castorp sehnt sich nach dem Abenteuer und mehr noch, nach der Begegnung mit dem<br />
Tod. „Hans Castorp hatte Mut hier oben, - wenn Mut vor den Elementen nicht stumpfe<br />
Nüchternheit im Verhältnis zu ihnen, sondern bewußte Hingabe und Sympathie bezwungenen<br />
Todesschreckens bedeutet.“ Castorp sympathisiert mit der kargen Natur, der Einsamkeit, der<br />
Totenstille. Auch seine Kolloquien mit Settembrini und Naphta hatten ihn, so resümiert er, in
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
das Weglose und Hochgefährliche geführt. Doch gerade die Konfrontation mit dem<br />
Unvordenklichen, mit der Gefahr scheint eine besondere Anziehung auf Castorp auszuüben.<br />
Das der Weg seiner Bildung gerade durch die Annährung an den Tod und dessen<br />
Überwindung in der wiederentstehenden Liebe zum Leben verläuft dürfte Castorp zu diesem<br />
Zeitpunkt nicht bewusst sein. Unterbewusst aber scheinen sich diese Strukturen in seinem Ich<br />
bereits verankert zu haben, nur so scheint der Traum der Weltseele, der später im selben<br />
Kapitel dargelegt wird und hier im Folgenden noch zu erörtern ist, begründet. Zu vollem<br />
Bewusstsein aber kommen Castorp die Vorstellungen über den ausgleichend gleich-gültigen<br />
Dualismus von Leben und Tod erst im Musikkapitel. Alle vorherigen Äußerungen dieses<br />
Thema betreffend scheinen eher unbewusst oder unterbewusst.<br />
Diese unterbewusste Ahnung sich dem Tod annähren zu müssen, führt ihn zu einer<br />
„Weglosen Fahrt“, die zunächst allerdings zum scheinbaren Sieg des Individuums über die<br />
Naturgewalten führt. Castorp ist stolz, die Natur „erobert zu haben“. Es scheint fast als habe<br />
er, gleich dem Wanderer in Goethes „Harzreise“ den Berg bezwungen und sei so zu neuem<br />
Selbstbewusstsein gelangt. Als sei die Bildungsreise geglückt. Doch Castorp setzt die<br />
Sicherheit aufs Spiel. Er erzwingt sein Glück und befreit sich von allen „Wegweisern“, die<br />
ihn seine Vorsicht zunächst, in Form von Stöcken und Schneezeichen, hat setzten lassen. Er<br />
will der „Winterwildnis“ ausgeliefert sein. „Er hatte es heimlich bisher geradezu darauf<br />
angelegt, sich um die Orientierung zu bringen und zu vergessen, in welcher Richtung Tal und<br />
Ortschaft lagen, was ihm dann auch in erwünschter Vollständigkeit gelungen war.“ Von<br />
diesem Punkt an beginnt die Erfahrung, welche Castorp in der Winterwelt macht, existentiell<br />
zu werden. Er fragt sich ob er den Heimweg finden wird. Nun zeigt sich auch die<br />
Winterlandschaft nicht nur von ihrer kargen, sondern gleichsam von ihrer unwirtlichen Seite.<br />
Schneefall und Sturm ziehen auf und die Natur erscheint Castorp wie eine Drohung. Wind<br />
und Kälte lassen ihn den Todesschrecken erfahren, doch Castorp hat noch einen Überschuß an<br />
Mut, den er diesen Umständen entgegensetzt. Wie Müllers Wanderer blasen auch Castorp die<br />
kalten Winde gerade ins Angesicht, doch auch dieser wendet sich nicht. Was in der<br />
Mülerschen Dichtung in „Lindenbaum“ zu lesen ist, entspricht den Erfahrungen, die Castorp<br />
nun in diesem Locus desrtus sammelt. Nicht zufällig blenden sich hier nicht nur in der<br />
Beschreibung der Natur, sonder auch in der textlichen Gestaltung Verweisstrukturen auf, die<br />
den Roman Manns in die Nähe zur Müllerschen Dichtung rücken. Der „Lindenbaum“ spielt<br />
dabei eine besondere Rolle. Nicht nur hier im Schneekapitel finden sich signifikante<br />
Verweise, auch im Kapitel „Fülle des Wohllauts“ wird dieses Lied in der Vertonung
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
Schuberts explizit angesprochen und so ein intertextueller Verweis gezogen. Was hat es mit<br />
dieser Winterreise Thematik im Zauberberg auf sich? Verfolgt man zunächst Castorps<br />
Wanderung im Schnee weiter, so trifft der Leser beständig auf Anspielungen, die den<br />
Themenkomplex der Heimat aufrufen. Castorp hat die Orientierung verloren und Sucht den<br />
Weg in die Heimat. Was aber ist die Heimat? Ist es der banale Weg zurück ins Sanatorium?<br />
Es ist zu bedenken, daß Castorp alleine „wandert“. Er hat sich, wie bereits erwähnt, von<br />
seinem Lehrer Settembrini gelöst, dieser kann und will ihn nicht begleiten, weil seine<br />
physischen Fähigkeiten ihm dies nicht erlauben. Castorp steht auf diesem Weg folglich kein<br />
Lehrer zur Seite. Dies führt zunächst zur Orientierungslosigkeit, denn obwohl er sich<br />
wissentlich auf sich selbst stellt und während des Wanderns seine Stellung zu Settembrini und<br />
Naphta reflektiert, ist in ihm noch keine konsistente weltanschauliche Position gewachsen. Er<br />
irrt folglich noch heimatlos umher. Zwar ist das Sanatorium inzwischen zu seiner geistigen<br />
Heimat geworden, doch gilt es auch sich eine eigene Weltanschauung zu erwerben, die nicht<br />
blind von den Lehrern übernommen wird. Dennoch ist Castorp in die Welt der Menschen auf<br />
dem Zauberberg integriert. Diese ist der Welt des Flachlands nicht nur real geographisch,<br />
sondern auch durch ihre gedankliche Vorstellungswelt entzogen. Catorp spricht dies in einer<br />
Unterhaltung mit Chauchat an, indem er formuliert, er sei der Welt abhanden gekommen.<br />
Dies bringt nicht allein zum Ausdruck, daß Castorp außerhalb der Gesellschaft steht, welche<br />
durch die Bewohner des Flachlands symbolisiert wird. Hinzu kommt, daß diese Aussage ein<br />
Zitat aus dem von Mahler vertonten Rückert Gedicht ist. Es bezeichnet den Versuch der Welt,<br />
die den eigenen Ansprüchen nicht genügt, zu entfliehen, einem Zustand der sich als negativ<br />
darstellt, etwas positiv anderes entgegenzusetzen. Diese Aussage Castorps nimmt somit in<br />
gewisser Weise bereits das „Lindenbaumerlebnis“ im Musikkapitel vorweg. Für Castorp stellt<br />
sich die Winterlandschaft nun auch als Existenzbedrohung dar und die Suche nach dem<br />
rechten Weg wird zu einem Davonkommen müssen. Er kann nicht rasten, aber die Müdigkeit<br />
und die Hoffnungslosigkeit stellen ihn immer mehr die Verlockungen der Ruhe vor Augen.<br />
Die Richtung des Wanderns wird ihm gleichgültig und es bedarf erhöhter Anstrengung sich<br />
nicht der Lockung hinzugeben sich hinzulegen. Doch so sehr er sich auch müht, er wandert im<br />
Kreis. Wie Müllers Wanderer, der den „Irrlichtern“ folgt irrt er umher und findet doch wieder<br />
nur die gleiche Hütte. Deren Türen jedoch sind verschlossen und die „unbarmherzge<br />
Schenke“, wie es für den Müllerschen Wanderer in das „Wirtshaus“ heißt, „weist ihn ab“. So<br />
lehnt er sich an die Hütte in einem windgeschützten Winkel und sinnt nach. Auch die<br />
Gedanken an Settembrini füllen kurzzeitig sein Bewusstsein. Das Bild des Drehorgelmannes,
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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welches er gleich beim ersten Erscheinen Settembrinis mit diesem Verband, erscheint. Auch<br />
hier liegt eine Verbindung zur Winterreise Müllers nah. Der Drehorgelmann verbindet sich in<br />
der Assoziation des Lesers wie selbstverständlich mit dem Leiermann. Settembrinis Leier<br />
steht Castorp nimmer still und so sucht er sich vor ihm zu emanzipieren. Dennoch ist es der<br />
„Lehrer“ der ihn am meisten beeinflusst hat und der einzige „Lehrer“ der vier „Lehrere“<br />
Castorps, der überlebt und sich auch nicht örtlich in unbekannte Gegenden entzieht. Ganz ihm<br />
Gegensatz zu Naphta, der stirbt, Chauchat, die wegzieht und Peeperkorn, der ebenfalls stirbt.<br />
Settembrini ist also Castorps Begleiter, wie der Leiermann in der Müllerschen Dichtung zum<br />
„Gefährten“ des Wanderers wird, wenngleich nicht letztendlich geklärt ist, ob der Leiermann<br />
als Gleichgesinnter dem Wanderer zur Seite stehet und der Zyklus so mit einem positiven<br />
Aufbruch ins Zukünftige beginnt, oder ob er den personifizierten Tod darstellt. Auch<br />
Settembrini verkörpert prinzipiell diese beiden Prinzipien. Er ist Leher Castorps und erweitert<br />
somit sein Bewusstsein und unterstützt seinen Entwicklungsprozeß, das Wissen aber, welches<br />
er Castorp zuteil werden lässt zeigt sich als inkompatibel mit der Gesellschaft, so daß Castorp<br />
an der Wiederbegegnung mit der Welt des Flachlands schließlich scheitert. Was aber auch<br />
darauf zurückzuführen sein wird, daß die Gesellschaft noch nicht bereit ist der geistigen<br />
Entwicklung zu folgen, welche Castorp auf dem Zauberberg erfahren hat.<br />
An diese Gedanken an Settembrini schließt sich ein träumerisches Vorstellen eines<br />
Sommerspaziergangs an. Dieser Spaziergang entwirft das Gegenbild des Locus desertus und<br />
Kontrastiert die Winterlandschaft mit der blühenden Landschaft des Sommers. Mann<br />
beschreibt einen Park, der in üppigem Grün erstrahlt, in dem ein lauer Wind weht und in<br />
welchem Vögel zwitschern. Hinzutreten ein Regenbogen, welcher durch den warmen<br />
Reganschauer ausgelöst wurde und Musik der Harfen, Geigen und Flöten. Auf diese Weise<br />
werden alle Charakteristika des Topologie des Locus amoenus aufgerufen, was den Leser das<br />
„Sommerglück“ in besonders scharfem Kontrast zum Winter erfahren lässt. Es ist, wie der<br />
Leser kurze Zeit später erfährt, der Ort der Sonnenleute. Dieser Ausflug erinnert an den<br />
„Frühlingstraum“ des Wanderers in Müllers Winterreise. Auch hier werden Sommer und<br />
Winter miteinander kontrastiert, das hier und jetzt des Wanderers in einer träumenden<br />
Frühlingsvision überwunden. Die Sonnenleute tanzen und sind höflich und gut zueinander.<br />
Dies wird kontrastiert durch das Ende des Traums, den Opferritus. Die Sonnenleute scheinen<br />
Leben und Tod, Frieden und Grausamkeit ausgesöhnt zu haben. Dies wird Castorp vorerst<br />
jedoch nicht bewusst. Ihm graut es nur vor den schrecklichen Bildern der Opferung.
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Er erwacht aber nur kurz, um gleich fortzuträumen, nun jedoch nicht mehr in Bildern, sondern<br />
in Gedanken. Castorp fragt sich, wie ein solcher Traum in ihn hatte gelangen können und<br />
schließt, dies habe nur durch die Anteilhabe des Menschen am Traum der Weltseele<br />
geschehen können. Durch diesem Anteil an der Weltseele nun träumt Castorp und ihm wird<br />
bewusst, daß das der Traum von den Sonnenleuten für ihn allegorisch zu lesen ist. Die<br />
Sonnenleute haben den Tod in das Leben integriert, sie kommen zu neuem Leben, indem sie<br />
den Tod akzeptieren und ihn als ebenso sinnstiftend begreifen, wie das Leben selbst. Castorp<br />
sieht sich in seinem Gedankentraum, in Folge dieser Einsicht zu den Sonnenmenschen und<br />
ihrer Lebenshaltung hingezogen, die er als zutiefst humanistisch begreift. Ihnen will er folgen,<br />
vor den Lehrern Settembrini und Naphta sucht er sich hingegen zu emazipieren. Die<br />
Pädagogen und ihr Streit der Wiedersprüche erscheinen ihm lächerlich. Die Wiedersprüche<br />
nämlich sollen nicht verstärkt, sondern ausgeglichen oder aufgehoben werden. Das eine ist im<br />
anderen und das andere im Einen. Taoistisch betrachtet und mit Heraklit gesprochen, das<br />
„Hen kei pan“, das Eine in Allem. Mit den Augen Hegels betrachtet ein Aufheben des<br />
Dualismus, der durch die Dialektik und die gegenseitige Bedingtheit der Seiten zum<br />
Absoluten führt. Castorp begreift, daß Tod und Leben ihm keine Widersprüche sein müssen.<br />
Das Leben wäre nicht ohne den Anblick des Todes. Der Mensch ist „Herr der Gegensätzte“ er<br />
alleine kann sie Synthetisieren und zum Aufheben bringen. Castorp will demzufolge, dem<br />
„Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“. Die Liebe ist dem Tod entgegen zu<br />
setzten. Seine Schlussfolgerung: „Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch<br />
mich hell erinnern, dass Treue zum Tod und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und<br />
Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der<br />
Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“. Mit<br />
diesem Gedanken wacht Castorp auf. Der Traum wirkt beflügelnd auf ihn, gibt ihm neue<br />
Kraft und führt ihn zu neuer Lebensbejahung, zu Abwendung von der Todessehnsucht. Hans<br />
stellt mit erstaunen fest, daß er im Schnee während seines Schlafes nicht erfroren ist, daß er<br />
eine neue Chance hat zu leben. Der Traum, dies vermag Hans kaum zu glauben, hat nur zehn<br />
Minuten gedauert. Zehn Minuten, in denen er viele Glücks- und Schreckensbilder sah und<br />
sich „Waghalsige Gedanken vorgefabelt hatte“. Die Natur um ihn aber hat sich in selbiger<br />
Zeit beruhigt. Der Schneesturm hat sich gelegt und Castorp kann sich wieder orientieren. Auf<br />
diese Weise findet Castorp zurück „nach Hause“ ins Sanatorium. Nachdem er den<br />
existentiellen Todesdrang, der sich in dem Schneesturm der Natur wiederspiegelte,<br />
überwunden hat, und die Lebensbejahung in ihm wieder stärker geworden ist, ermöglicht
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auch die Natur ihm wieder eine „Heimkehr“. Dennoch bleibt das Traumerlebnis nur<br />
unterbewusst zurück. „Was er geträumt, war im Verbleichen begriffen. Was er gedacht,<br />
verstand er schon diesen Abend nicht mehr.“<br />
Dennoch ist Castorp inzwischen bewusst, daß er der „Welt abhanden gekommen ist“, daß er<br />
keine „Fühlung mehr mit dem Flachland“ hat. Er ist „hoch vom Flachland hinaufgetrieben“.<br />
In einem Gespräch mit Clawdia Chauchat erkennt er, daß er schon von Kind an mit dem Tode<br />
„auf vertrauten Fuße“ stand. Castorp erkennt, daß die Liebe zum Tod zur Liebe zu den<br />
Menschen zur Bejahung des Lebens führt. Er bezeichnet diese Einsicht als „Lapis<br />
Philosophorum“, als Stein der Weisen. Nur wer den Tod ins Leben einschließt vermag ewig<br />
zu Leben, wer den Tod negiert, negiert auch das Leben. Clawdia kann Castorps Gedanken<br />
nicht recht folgen und so findet sich der nächste Hinweis auf die geistige Entwicklung<br />
Castorps in diese Richtung im Musikkapitel. Hier wird im „Lindenbaumerlebnis“ der Traum<br />
der Weltseele auf eine persönliche Ebene überführt. Es geht hier nicht mehr um eine abstrakt<br />
philosophische Überwindung der ideelen Gegensätze, sondern darum, daß Castorp durch<br />
eigene, persönliche Gewissensentscheidung als Individuum und Deutscher einem Ideal<br />
entgegen strebt.<br />
Das Sanatorium schafft zur Unterhaltung seiner Patienten ein Grammophon der Marke<br />
„Polyhymnia“ an. Castorp ist von dieser Maschine so fasziniert, daß er ihre Bedienung<br />
übernimmt. Als seine Lieblingsauswahl kristallisieren sich schließlich Verdis Aida, Debussys<br />
D´ après midi d´un faune, Bizets Carmen, das Gebet Valentins aus Gounods Faust und<br />
Schuberts Lindenbaum aus der Winterreise heraus. Verfolgt man die Geographische Lage der<br />
jeweiligen Handlungsorte, so erkennt man eine Annährung aus der Fremde zur Heimat<br />
(antikes Griechenland, altes Spanien, Spanien, Deutschland, „Zuhause“). Dabei bleibt in<br />
Schuberts Winterreise offen, ob die Heimat überhaupt erreicht werden kann. Sicher ist, daß<br />
sie erst am Ende einer langen Wanderung, eines langen Bewusstwerdungsprozesses steht.<br />
Müllers Wanderer ist, ebenso wie Castorp aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Der Wanderer<br />
vermeidet die Wege, wo die andren Wandrer gehen, Castorp ist sich bewusst, daß er nicht in<br />
das Flachland zurückkehren kann, da seine Ideale den Gesellschaftlichen Normen inzwischen<br />
zu divergent entgegenstehen. Er ist aus der Welt entflohen, oder, wenn man es passiv<br />
ausdrücken will, der Welt abhanden gekommen. Die philosophisch geistige Bildung auf dem<br />
Berg steht ihm Kontrast zur bürgerlich pragmatischen Gesinnung, die Individualität in<br />
kollektiver Norm erstickt. Die Auswahl der Musikstücke durch Castorp spiegelt viel von<br />
dieser Gesinnungswelt und diesen Gedanken wieder. Aida handelt von der Liebe zwischen
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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Aida und Radames, die im Tod endet, da ihre Flucht aus dem Vaterland misslingt und<br />
Radames wegen Vaterlandverrat, Fahnenflucht am Tag der beginnenden Schlacht und<br />
Meineidbruchs angeklagt wird. Er wehrt sich nicht gegen die Anklage der Richter und wird<br />
als „traditore“, als Verräter, lebendig begraben. In seinem Grab aber trifft er Aida wieder, die<br />
von der Verurteilung erfahren hat und sich aus Liebe zu ihm vor der Beerdigung in seinem<br />
Grab versteckte, um mit ihm zu sterben. Castorp begeht auch Fahnenflucht, nicht vor dem<br />
Krieg, sondern vor dem beginnenden Leben, nach seiner Studienzeit, er tritt mit dem<br />
Verbleiben auf dem Zauberberg die Verantworung für sein Leben ab. Dafür wird ihm das<br />
Sanatorium zum lebendigen Grab. Castorp aber geht wie Aida freiwillig in dieses Grab, lebt<br />
freiwillig weltabgewandt. Sein Vetter Ziemsen hingegen wird als Soldat und Patient in das<br />
Sanatorium geschickt. Somit ähnelt die Figurenkontellation zwischen Aida und Radames<br />
jener von Castorp und Ziemsen. Die Liebe zu Joachim, und das wird Castorp erst bewusst, als<br />
er dessen Leiche betrachtet, aber ist wiederum Liebe zum Prinzip Leben. Der tote Joachim ist<br />
schön und Castorp erkennt sein lebendig schlagendes, wahrhaft liebendes Herz. Dieses<br />
lebendige Bild, welches der Tote vermittelt, steht im Kontrast zu seinem Ableben. Auch hier<br />
zeigt sich also die Dichotomie von Leben und Tod, die synthetisiert wird. Ähnlich verhält es<br />
sich mit Chauchats Röntgenbild, daß ihre Inneres kalt, unpersönlich und herzlos darstellt.<br />
Dieses erstarrte Bild des inneren Todes wird durch die äußerlich lebendige Person<br />
kontrastiert. Die Liebe Castorps zu Joachim aber, zum Prinzip Leben, führt über dessen Tod<br />
hinaus. Bei einem konspirativen Treffen gelingt es Elly unter größter Anstrengung Joachims<br />
Geist noch einmal erscheinen zu lassen. Die gelingt erst nachdem die Platte mit Valentins<br />
Gebet aus Faust, welche für Hans auf das Innigste mit Joachim verbunden ist, aufgelegt<br />
wurde. Doch das Erscheinen hat nicht nur Elly, das Medium, sondern auch Joachim viel Kraft<br />
gekostet. Joachim spricht kein Wort, aber als Zeichen ihrer späteren Wiedervereinigung trägt<br />
Joachim den Helm der Soldaten aus dem 1. Weltkrieg. Hans wird in diesem Krieg sterben.<br />
Die Liebe zu Joachim ist somit neuerlich an den Tod gebunden.<br />
Debussys D´ après midi d´un faune beschreibt das weltabgewandte Spiel eines Pfauen mit den<br />
Nymphen. Castorp ist im Sanatorium selbst dieser weltabgewandte Pfau. Seine Flucht in die<br />
Berge und die Hinwendung zu der philosophischen Gedankenwelt lassen die Nähe zu<br />
Debussys Werk spüren.<br />
Auch in Biszets Carmen rankt sich die Grundthematik um Liebe und deren Entzug, um<br />
Kummer und Verlußt. Don José, der aus Liebe zu Carmen Fahnenflucht begeht und sich einer<br />
Räuberbande anschließt wird von Carmen betrogen. Diese Konfiguration entspricht dem
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Verhältnis Castorps zu Chauchat, die seine Liebe nicht erwidert, wenngleich er vornehmlich<br />
ihretwegen der Welt entflohen bleibt, indem er auf dem Zauberberg auf ihre Rückkehr wartet.<br />
Castorps Musikauswahl ist durchzogen von dem Nexus zwischen Liebe und Tod. Jener<br />
Grundthematik, die bereits in Castorps Gedankentraum und in dem Gespräch mit Chauchat<br />
von Bedeutung gewesen war. Die Antithesen Pflichterfüllung und Pflichtvergessenheit,<br />
Disziplin und Desertion, aktive Verantwortlichkeit und passive Flucht in die absolute, zeitlose<br />
Freiheit stehen einander gegenüber. Es sind die Urerlebnisse von Treue, Tod, Loyalität und<br />
Liebe, die hier berührt werden.<br />
Im Roman gibt es drei Summierungspunkte, an denen die Bedeutung dieser Antithesen und<br />
die Überwindung ihrer Antithetik thematisiert wird. Zum einen in Castorp französischer<br />
Liebeserklärung an Clawdia, zum anderen in der bereits ausgeführten Weise im<br />
Schneekapitel, welche das Lindenbaumerlebnis vorbereitet und zu welchen dann das<br />
Lindenbaumerlebnis als dritter Summierungspunkt hinzutritt.<br />
Im Lied vom Lindenbaum wird nun die im Gedankentraum entwickelte Thematik für Castorp<br />
selbst einsichtig und greifbar. Der Leser erfährt, daß Castorp diesem Lied schon seit seiner<br />
Kindheit zugeneigt war. Schuberts Lied ist ein Kunstlied und stellt daher für Castorp die<br />
Synthese der Pole der geistigen Kunst und der tiefen Empfindung des Menschen, den Geist<br />
des Volkes dar. In diesem Lied findet Castorp eine „ganze Welt die er liebte“. Das Lied steht<br />
also als Pars pro toto. Wenn Mann die Goetesche Symboltheorie heranzieht und schreibt: „Ein<br />
geistiger Gegenstand ist eben dadurch ´bedeutend`, daß er über sich hinausweist, daß er<br />
Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeineren ist, einer ganzen Gefühls- und<br />
Gesinnungswelt, welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat,<br />
- wonach sich dann der Grad seiner Bedeutung bemisst“. Der Gegenstand vertritt eine ganze<br />
Welt. Die Welt der Romantik und diese ist, wie Castorp selbst bemerkt, nicht ungefährlich.<br />
Daher verbindet ihn eine zweifelnde Liebe mit diesem Lied. Settembrini hat die<br />
Rückwendung auf die Epoche der Romantik als krank gekennzeichnet. Er hingegen steht als<br />
Humanist und Aufklärer auf der Seite der „gesunden“ Klassik. Wenngleich Castorp der Welt<br />
zunächst nur scheinbar zufällig entflieht und schließlich in der Heilanstalt verbleibt, so<br />
erfährt der Leser nun, daß Castorp tatsächlich schon die gesamte Zeit über, ja seit seiner<br />
Kindheit, krank gewesen ist. Er krankt an der romantischen Sehnsucht, an einem Sinndefizit,<br />
welches die Gesellschaft nicht zu schließen vermag. Nur außerhalb der Gesellschaft, auf dem<br />
Zauberberg, kann er der Auffüllung des Sinndefizits näher kommen. Dafür stirbt er den<br />
Liebestod der Aida, er kommt der Welt abhanden, stirbt der Gesellschaft. Er flüchtet sich auf
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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den Zauberberg, wie der Müllersche Wanderer sich unter den Lindenbaum flüchtet, dessen<br />
„Zweige rauschten, als riefen sie (ihm) zu, komm her zu mir Geselle, hier findest du deine<br />
Ruh“. Das Problem zeigt sich im Konjunktiv. Kann dieses Ruheversprechen tatsächlich<br />
eingelöst werden? Kann die philosophische Weltabgewandtheit das Ziel sein? Kann der<br />
Kunstgenus des Lindenbaumlieds das Sinndefizit substituieren? Beides kann es nicht. Je<br />
länger man sich in der Betrachtung eines Kunstwerks verliert, desto intensiver man der<br />
Betrachtung verfällt, umso unmöglicher wird eine Rückkehr. Das Ziel aber ist nicht die<br />
Flucht, das Ziel ist die Versöhnung der Pole. Flüchtet der Wanderer im Lindenbaumlied in<br />
den Traum, so muß auch er erfahren, daß das Todesversprechen nicht erfüllt wird. Im Tod<br />
kann die Ruhe nicht gefunden werde. Der Tod muß überwunden, aufgehoben werden. Die<br />
Bergwelt mit der Gesellschaft versöhnt werden. Castorp spürt, daß seine Sehnsucht nicht<br />
durch diese Flucht geheilt werden kann. Die Flucht ins Romatische ist auch ein Versuch der<br />
Poyvalenz der modernen Welt zu entfliehen. Doch auch in der Romantik kann das Fehlende<br />
nicht substituiert werden, denn das Versprechen der banalen bürgerlichen Welt zu entfliehen,<br />
hält auch die Romantik nicht. Thomas Mann selbst sieht in der Rückneigung die Begründung<br />
für Zersetzung und Erstarrung. Diese Ansichten sind allerdings wesentlich politisch<br />
motiviert, be-gründet die Romantik doch den Nationalismus und die Heidelberger Romantik,<br />
die 1870 zur Reichsgründung und zum Imperialismus führt. „Lindebaum“ wird Mann zum<br />
Codewort einer speziellen Form der Reaktion unter Hindenburg, die unter Ausnutzung der<br />
romantischen Triebe beförderte.<br />
Castorp aber gelingt im Musikkapitel die Einsicht in die Natur der Romantik und der<br />
Weltflucht, was zur Überwindung führt. Das neue Wort der Liebe muß etabliert werden, so<br />
spricht Mann hier in Nietzsches Worten. Der Überwinder der Romantik weist den Weg.<br />
Lebensfreundschaft muß als Ergebnis der Überwindung des Todes durch die Liebe stehen.<br />
Der Fortschritt Castorp am Ende seines Bildungswegs führt ihn über die Sinnsuche hinaus.<br />
Nun sucht er auch den örtlichen Ausgleich, aber die Gesellschaft ist noch nicht bereit der<br />
Entwicklung Castorps zu folgen. Er kann nicht in die Gesellschaft eingegliedert werden und<br />
so stirbt Castorp in der Schlacht, in einem physischen Konflikt, dem er geistig schon voraus<br />
ist. Die geistige Entwicklung steht gegen das geschichtliche Schicksal. Castorp geht als<br />
Repräsentant der deutschen Gesellschaft unter, als „Held“ mit geistiger Entwicklung aber<br />
siegt er. Mit dem Lindenbaumlied auf den Lippen und an das neue Wort der Liebe glaubend,<br />
stirbt er. Ob die Gesellschaft als Ganze der Entwicklung Castorps folgen kann, bleibt offen.
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31<br />
- <strong>JANINE</strong><br />
IV<br />
<strong>CHRISTGEN</strong><br />
Gerhard Roths „Winterreise“<br />
Schon die Titelwahl Gerhard Roths zeigt die Verbindung seines Romans mit dem<br />
Müllerschen Zyklus „Winterreise“ an. Es ist eine bewusste Assoziation, die Roth vermittels<br />
dieses Vorgehens entstehen lässt. Die Motive Reise, Liebe und Tod, die bereits im<br />
Müllerschen Text als Konstituenten der winterlichen Reise hervortraten, bilden auch hier das<br />
Grundgeflecht auf welchem sich der Protagonist zu bewegen vermag. Gleichzeitig begegnen<br />
die Dichotomien von Flucht und Suche, von Heimat und Fremde, Sinn und Sinnverlust als<br />
Pole der Dialektischen Bewegung zwischen welchen Nagel, als Protagonist, hin und her<br />
gerissen erscheint, unvermögend sich über dieses Verhältnis hinaus setzten zu können, es<br />
strukturieren und somit durch die Fähigkeit die Pole zum Ausgleich zu bringen, beherrschen<br />
zu können. Es ist ein Reise, die den Protagonisten bezeichnenderweise in das Bildungsland<br />
Italien führt. Ein Land, das dem Humanismus als Vorzeige Land galt und das lange Zeit als<br />
Sinnbild für Reisen stand, die dem Ziel der individuellen geistigen Entwicklung dienten, die<br />
Sinnkonfiguration des Subjekts befördern sollten. Nun aber reist Nagel in dieses Land jedoch<br />
eher zufällig. Nagel ist voll Bewunderung für den Vulkanismus. Er findet ein Buch mit<br />
Farbfotografien von vulkanischen Erscheinungen und blättert in ihm. Bilder von Südisland,<br />
von Hawaii, vom Yellow-Stone-Nationalpark, von Idaho und Lipari dringen ihm entgegen.<br />
Das größte Interesse aber erweckte in ihm schon seit seiner frühsten Jugend der Vesuv und<br />
die Stadt Pompeji, die unter seiner Asche lag, „wie ein Friedhof voller Tränen, deren Bilder<br />
erstarrt und erkaltet waren“ 66 . Hier zeigt sich bereits, das die Reise nach Italien keine der<br />
berühmten humanistischen Bildungsreisen werden wird. Die Reise führt zu einem „Friedhof<br />
voller Tränen“ 67 . Eine Reise, die von Beginn an mit dem Thema Tod in enger Verbindung<br />
steht. Noch dazu ist das Datum des Aufbruchs in den Winter verlegt und trifft bezeichnender<br />
Weise den „letzten Tag des Jahres“ 68 . Von dem Roth apostrophiert, dieser sei ein kalter<br />
Wintertag gewesen. Das Reisedatum lässt zum einen auf den Versuch eines bewussten<br />
Neuanfangs schließen, da der Tag des Jahreswechsels zum einen das Jahr revuepassieren<br />
lässt, zum anderen aber traditionell auch dazu dient neue Vorsätze und Pläne zu konstituieren.<br />
Das diese Pläne jedoch im Aufbruch zu einer Winterreise kulminieren, lässt Zweifel am<br />
Erfolg der Reise entstehen. Eine Reise im Winter? Durch eine kalte, unwirtliche Natur? Und<br />
hinzu kommt das Ziel der Reise: ein „Friedhof“. Ist dies eine Reise in den Tod? Was ist<br />
überhaupt der Sinn der Reise <strong>–</strong> oder sollte man besser fragen, wie kann der Sinn der dem<br />
66 Roth, Gerhard: Winterreise, S. 11.<br />
67 Roth, Gerhard: Winterreise, S. 11.<br />
68 Roth, Gerhard: Winterreise, S. 6.
<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
Protagonisten in seinem Leben wohlscheinend ab-wesend erscheint durch eine Reise im<br />
Winter rekonstruierbar?<br />
Um diese Fragen zu klären bedarf es zunächst der näheren Beleuchtung der Gründer der<br />
Reise. Um diese Gründe näher zu explizieren, ist es sinnvoll sich die Konzeption des<br />
Protagonisten vor Augen zu führen. Nagel ist eine prototypische Kreation Roths. Roths<br />
Protagonisten sind gekennzeichnet durch Weltabgewandtheit, Identitätskrise, Distanz zu<br />
anderen Individuen und Orientierungslosigkeit. Diese Merkmale treffen sämtlich auf Nagel<br />
zu, wie noch zu zeigen sein wird. Hier ist jedoch zunächst entscheidend, daß diese<br />
grundsätzliche Identitätskrise und Orientierungslosigkeit eine Suche nach Be-gründung der<br />
Welt, nach Sinn anstößt. Der Protagonist leidet unter einem Sinndefizit. Die Kohärenz der<br />
Welt und die innere Notwendigkeit ihres so seins ist dem Subjekt verloren gegangen. Dieser<br />
Zustand ist als für die Winterreise typisch zu kennzeichnen, da er das Subjekt auf sich<br />
zurückwirft und es als vereinzeltes, dezentriertes oder ver-rücktes Individuum erscheinen<br />
lässt. Der Protagonist stellt sich somit gegen die Welt, doch folgt aus dieser Haltung keine<br />
Revolte, die das handelnde Subjekt mit anderen Subjekten verbinden könnte, denn der<br />
Ausweg aus der Krise wird nicht im Kollektiv, sondern im eigenen Ich gesucht. Das Ich<br />
entfremdet sich von der Gesellschaft, da es seine Erfahrungen von Welt nicht adäquat in<br />
Kommunikation zu verwandeln vermag. Aus der Eigenen Unfähigkeit Sinn in der Welt zu<br />
konstituieren und somit das eigene Dasein zu begründen folgt die Kommunikationslosigkeit,<br />
das Ich ist mit sich selbst und seiner Sinnkonstitution soweit belastet, dass Kommunikation<br />
verunmöglicht wird. Wer sein eigenes Ich in der Welt nicht situieren kann, wer das Selbstbewußtsein<br />
verloren hat und somit sich selbst fremd geworden ist kann sich nicht in die<br />
Beziehung zu anderen Menschen setzten. Des weiteren tritt, gerade auch bei Nagel hinzu,<br />
dass er nicht adäquat auszudrücken vermag, was und wie er denkt. Dies aber ist gleichsam auf<br />
die Unsicherheit der Fassung des eigenen Ich zurückzuführen. Wie ist dies nun anhand des<br />
Protagonisten der Winterreise zu fassen?<br />
Gleich zu Beginn der „Winterreise“ führt ein allwissender Erzähler einleitend in die<br />
Innenwelt des „Helden“ ein: „Es schien Nagel, als sei es das Normalste sich selbst<br />
aufzugeben. Jeder wehrt sich dagegen, bis der Widerstand erlischt und die Selbstaufgabe den<br />
geheimen Haß erzeugt, zu sehen, wie sich auch die anderen aufgeben.[...] Wenn sich alle<br />
aufgeben, dann ist es offensichtlich notwendig.“. Dieser Beginn zeigt zum einen die<br />
Entfremdung des Individuums, welches, überbürdet von der Last der normativen Ansprüche<br />
von Gesellschaft und Welt, sich sein eigenes Scheitern eingestehen muß, zum anderen
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zeichnet sich eine kollektive Erfahrung dies Scheiterns und der daraus resultierenden<br />
Selbstaufgabe ab. Bei Nagel begründet sich diese Selbstaufgabe in der Konstitution des<br />
Alltags. Er musste seine „Gedanken und politischen Ansichten unterdrücken, weil es<br />
notwendig gewesen war, dies für den Direktor oder den Schulinspektor zu tun“. Nagels<br />
Lehrerdasein wird durch autoritäre Instanzen bestimmt, die sein Tun, sein Denken, seine<br />
Persönlichkeit definieren. Hier findet sich eine Parallele zu den konstitutiven Faktoren der<br />
Winterreise Müllers, die den Wanderer gleichsam als unverstandenes Individuum zeigt,<br />
welches ausziehen muß, um die eigene verschüttete Individualität wieder zu finden. Immanent<br />
ist diese Fremdheitserfahrung auch dem gesamten Diskurs der Winterreise, zeigt sie sich doch<br />
immer auch als Auseinandersetzung eines Autors mit den ihn umgebenden sozialen<br />
Verhältnissen. So konnte auch Müller nur durch die Chiffrierung seiner Texte Kritik an den<br />
politischen Zuständen seiner Zeit üben.<br />
Nagel erfährt die Arbeit als zermürbend, als voller Zwänge, erniedrigend und entfremdend,<br />
auch gerade, weil sie sich mit ihren autoritativen Zwängen seinem Wesen entgegensetzt. Sie<br />
ist nicht mit seinen Wünschen und Vorstellungen Kongruent. Arbeit ist ihm streben nach dem<br />
Ruhestand, nach einer Zeit in der er das Überleben nicht mehr durch entfremdende Tätigkeit<br />
überbrücken muss. Diese Entfremdung lässt ihn das Leben als Dahinleben kennzeichnen.<br />
„Das Leben war ein Dahinleben, so wie die Erde nichts besonderes war im Universum, eine<br />
Belanglosigkeit.“ Die Welt dient Nagel als Spiegel seiner seelischen Verfasstheit. Er<br />
beschreibt die Erde als „vereinsamte, saphierblau und weiß gemaserte Kugel in der Schwärze<br />
des Universums, ein winziger Körper, der im Nichts schwebte.“ Diese Beschreibung der<br />
Einsamkeit koinzidiert mit der Beschaffenheit der Natur, welche, sich als Winterlandschaft<br />
offenbarend, gleichsam als tot, kahl und ausgestorben beschrieben wird. Der Eindruck des<br />
locus desertus verstärkt sich durch Roths Einfügung von technischen Elementen in der<br />
Naturdarstellung. So treten Beispielsweise Hochspannungsmasten neben der Darstellung von<br />
kahlen Bäumen auf. Dies verdeutlicht zum einen den Eingriff des Menschen in die Natur, die<br />
Unterjochung der Natur, die diese ebenso gegen ihr Wesen in vorgeschriebene Grenzen<br />
drängt, wie Nagel die autoritativen Zwänge, denen er bei seiner Arbeit ausgesetzt ist, zum<br />
andern wird durch die prinzipiell gleichartige Anmutung des kahlen Gestänges der<br />
Hochspannungsmasten und der entlaubten Bäume ein eindringliches Bild der Kälte<br />
geschaffen. Gegen all dies verspürt Nagel eine plötzliche „Lust am Widerstand“, den er nur<br />
durch den Ausbruch aus Arbeit, Leben und gewohnter Umgebung auszuleben vermag. Die
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Reise aber zu der er aufbricht scheint von Beginn an zum Scheitern verurteilt, bricht er doch,<br />
wie er selbst berichtet, zum Friedhof der Träume <strong>–</strong> Pompeji <strong>–</strong> auf.<br />
Dem Sinnentzug durch die entfremdende Arbeit ist in Roths „Winterreise“ die<br />
Sinnkonstitution durch Arbeit kontrapunktisch entgegengesetzt. Diese Konnexion von Sinn<br />
und Arbeit etabliert sich im Roman durch die Erinnerung Nagel an seinen Großvater. Über<br />
den gesamten Roman erstreckt sich die Erinnerung an den Großvater, welcher den Sinn seines<br />
Lebens nach der Arbeit bemaß. Sein Leben war die Arbeit und er reiste, um zu arbeiten.<br />
„Ohne Arbeit zu leben, war wie eine schleichende, tödliche Krankheit, es war das<br />
Bewusstsein des Todes, das langsam auf ihn zukam.“ Er glaubte an die Arbeit, wie andere<br />
Menschen ihren Glauben an Gott oder andere Autoritäten zur Sinnkonstitution für ihr Leben<br />
heranziehen. Nagel aber kann nicht an die Arbeit glauben, kann sich auf diese Weise keinen<br />
Sinn in seinem Leben konstituieren. Der Mensch aber ist in seinem Lebensvollzug auf Sinn<br />
angewiesen, da sich alle Handlungen seiner als auf einen Zweck hin orientiert verstehen<br />
lassen. Der Entzug Gottes führte zur Ermangelung eines Sinns, der durch eigene, individuelle<br />
Setzungen substituiert werden musste. Die moderne Welt aber bietet eine Pluralität an<br />
disparaten Wertsetzungsparametern, die zur Verstrickung des Individuums in der<br />
Orientierungslosigkeit führen. Gelingt es dem Menschen nicht in dieser Pluralität selbst<br />
sinnsetzend tätig zu werden, werden die Widersprüche existentiell. Während also Nagels<br />
Großvater dem existenzgefährdenden Nihilismus, durch die Sinnsetzung in und durch die<br />
Arbeit, entfliehen konnte, steht Nagel der Absurdität der Welt (Camus) ungeschützt<br />
gegenüber. Das Sinnvakuum ergreift Nagel und stürzt ihn in eine existentielle Krise: „Für den<br />
Großvater war das Überleben der Sinn seines Daseins gewesen, während für ihn (Nagel) der<br />
Sinn eine Frage des Überlebens wurde.“ Doch wie der Großvater sein Leben lang ein<br />
Suchender blieb, wie er die Welt bereiste, um Arbeit zu finden und doch letztendlich nur unter<br />
entwürdigenden Bedingungen Arbeit fand, spiegelt sich in Nagels erfolgloser Sinnsuche<br />
wieder. Das Schiff, welches den Großvater als blinden Passgier nach Amerika, in das Land<br />
der unbegrenzten Möglichkeiten, bringen sollte, führt ihn nach Cardiff, wo er nach langer,<br />
entwürdigender Arbeitssuche eine Anstellung als verdinglichte Existenz eines Heizers auf<br />
einem Schiff erhält. Erblickt Nagel im Hafen von Neapel die Masten der Schiffe, so mag auch<br />
dies ein Verweis auf den Misserfolg der Sinnsuche Nagels sein. Die Metaphorik wird sich als<br />
schlüssig erweisen, denn schließlich endet die Reise, welche so verheißungsvoll im<br />
Bildungsland Italien begann, im ewigen Eis Alaskas. Dies soll jedoch später ausführlicher<br />
thematisiert werden.
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Nagel beschreibt das Gefühl welches sein Leben maßgeblich bestimmt als „ozeanisches<br />
Gefühl der Einsamkeit“, ein Gefühl, „als sei er aus der Welt gefallen“. Diese Aussagen sind<br />
intertextuelle Verweise Roths, die zum einen an Freud, zum anderen an Grabbe angelehnt<br />
sind. Schon Freud zitiert in seinem Aufsatz über das Unbehagen in der Kultur Grabbe mit den<br />
Worten: „Wir werden schon nicht aus der Welt fallen.“. Freud glaubte, wenn alle<br />
Sinnsysteme, wie z.B. Religion, versagen, dass der Sinn des Menschen in der<br />
Selbstverwirklichung in der Arbeit besteht. Roth hat sich mit dieser von Freud vertretenen<br />
Auffassung auseinander gesetzt und sich die Frage gestellt, was geschieht, wenn dieses<br />
alternative Sinnsystem versagt. Bei seinem Protagonisten Nagel fehlt die sublimierenden<br />
Kraft der Arbeit, die Bedeutung im Leben zu konstituieren vermag. Roth sieht, im Gegensatz<br />
zu Freud, Arbeit nicht als Sinn und Erfüllung produzierendes Element im menschlichen<br />
Leben. In "Das Unbehagen in der Kultur" entfaltet Freud eines seiner zentralen Themen, den<br />
unaufhebbaren Antagonismus zwischen den Forderungen der menschlichen Triebe und den<br />
von der Kultur abverlangten Triebverzicht. Die Kultur als notwendige Last, in der es dem<br />
Menschen nicht gelingen will, es sich "behaglich" zu machen. Dieses prinzipielle<br />
"Unbehagen" kann nicht beseitigt, sollte aber minimiert werden. Denn jeder Triebverzicht hat<br />
Grenzen, die, wenn sie durch überzogene Moralvorstellungen überschritten werden, gerade<br />
die kulturelle Kontrolle der Triebe verunmöglichen: die unterdrückten Triebregungen brechen<br />
sich vermehrt in der Form des "Destruktionstriebes" ihre Bahn. Das Individuum ist nicht mehr<br />
länger bereit ein geheimes Leben für sich und ein äußeres Leben für die Gesellschaft zu leben.<br />
Das Ich lehnt sich gegen die von der Gesellschaft geforderten Normen auf. Dies expliziert<br />
Nagel, indem er gegen Ende des Romans erklärt, er habe kein Verlangen mehr nach einem<br />
„Leben voller Heimlichkeiten“. Der Protagonist versucht die von der Gesellschaft geforderte<br />
Rolle abzustreifen. Daher ist das Zitat, welches Roth von Grabbe/Freud übernimmt auch<br />
„falsch“ zitiert. Grabbe schreibt: „Aus dieser Welt können wir nicht fallen.“, Roth aber<br />
beschreibt das Nagels Zustand mit den Worten „erfühlte sich, als sei er aus der Welt<br />
gefallen.“. Freud glaubte, im Gegensatz zu Roth, an die unauflösliche Verbundenheit, der<br />
Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt. Das „ozeanische Gefühl“ aber,<br />
welches Nagel verspürt, ist auch gerade nicht im Sinn Freuds zu verstehen, stellt eben keine<br />
Kohärenzbildung, sondern das unendliche Gefühl der Einsamkeit dar. Dies führt zur<br />
Dissoziation des Protagonisten. Durch die Negation des in und durch die Arbeit zu<br />
konstituierenden Sinns und die Zurückweisung der Einbettung in das kulturell<br />
gesellschaftliche Gefüge, gerät Nagel in den Konflikt zwischen Eros und Todestrieb. Der
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Austritt aus der Kulturellen Umgebung lässt die Triebe des Menschen erneut hervortreten,<br />
gerade auch, weil die fehlende Sinndimension, welche durch die Arbeit gesetzt wurde, in<br />
Nagels Existenz nicht sublimiert werden konnte. Nagels Leben hat die soziale Bedeutung<br />
verloren, dies korrespondiert mit dem emotionalen und sexuellen Verhalten des Menschen.<br />
Auch dies wird von Roth in der „Winterreise“ thematisiert. Der verschwundene Sinn soll<br />
durch die Sexualität eine Ersatzbefriedigung erfahren. Doch auch hier kann Nagel keine<br />
Sinnerfahrung gelingen. Dies resultiert aus seiner Unfähigkeit zur sozialen Kommunikation.<br />
Es ist Nagel nicht möglich ein normales Verhalten gegenüber seiner Umwelt zu entwickeln.<br />
Sein Ausbruch aus der Gesellschaft ist radikaler als seine „Winterreise“ zunächst anmuten<br />
mag, sie zeigt eine existentielle Erfahrung der Fremdheit der Menschen. Der Ausbruch aus<br />
der Kultur misslingt, da das Individuum nicht in der Lage ist kommunikativ in das Verhältnis<br />
zu den anderen Subjekten zu treten und die Umwelt neu zu definieren. Die Individuen<br />
scheitern an den Normsetzungen der Gesellschaft.<br />
Nagel und seine Beziehung zu Anna stehen prototypisch für das Versagen der<br />
Kommunikation in der zwischenmenschlichen Beziehung der modernen Gesellschaft. Ziel<br />
Roths ist es die Wortlosigkeit zwischen den Menschen im Antagonismus zwischen Attraktion<br />
und Fremdheit darzustellen, womit das Leidwesen der reinen Sexualität dargestellt ist.<br />
Das Verhältnis Nagels zu Anna ist, wie auch Nagels Verhältnis zur Welt, welches später noch<br />
erläutert werden soll, dichotomisch. Im Entzug fühlt er sich ihr nah und wünscht sie in seiner<br />
Nähe. Ist sie aber bei ihm, begleitet sie ihn, findet keine Kommunikation zwischen ihnen statt.<br />
Der Leser erfährt nicht viel von Anna, außer daß er sie, als ehemalige Freundin, sehr spontan<br />
für seine Reisepläne begeistern und zum Mitkommen bewegen konnte. Sie tritt mehr als<br />
Objekt auf. Wird lediglich durch ihre erotische Attraktion gekennzeichnet. Nagel verhält sich<br />
zu ihr, wie zu allen anderen Menschen teilnahmslos und gefühlskalt. Die an den<br />
pornographischen Jagon angelehnte Schilderung der Liebesszenen verdeutlicht dem Leser um<br />
so mehr die Kälte und den Abstand der beiden Menschen zueinander. Am Ende steht wie bei<br />
jeder Annährung Nagels an die selbstgewählten Objekte seiner Erkenntnis, die Ent-täuschung.<br />
Die Hoffnung in der „Liebe“ zu Anna Sinn konstituieren zu können, scheitert. Wie der<br />
Wanderer in Müllers „Winterreise“ muß Nagel weiterziehen auf der Suche nach<br />
Sinnpotentialen. Auch dem Müllerschen Wanderer blieb die Liebe als Sinn- und<br />
Zielkonfiguration verwehrt. Im Zyklus Müllers wird die enttäuschte Liebe durch die<br />
Todessehnsucht abgelöst. Auch bei Nagel findet sich hier eine Entsprechung, wenngleich hier<br />
keine Ablösung der „Liebes“- durch die Todesthematik stattfindet. Der gesamte Roman Roths
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ist gleichsam durchzogen, durchtränkt mit eindringlichen Bildern des Todes. Wie schon Freud<br />
Eros und Todestrieb als miteinander verbunden betrachtete, lässt sich dies auch am Verhalten<br />
des Rothschen Protagonisten feststellen. Die Unfähigkeit zur sprachlichen Kommunikation,<br />
die Isolation und die Fremdheit die er gegenüber allen Menschen und der Welt überhaupt<br />
empfindet, rückt die rein sexuelle Verbindung, die er zu Anna, besonderes aber auch am Ende<br />
zu der namenlosen Frau im Pelz aufbaut, in die Nähe zum Tod. In der Suche nach Sinn zeigt<br />
sich immer wieder deren Gegenteiligkeit, die Todesbilder. Doch sind die Todesbilder nicht<br />
alleine die Folge der sozialen Isolation, sie sind auch durch die Sichtweise Nagels bedingt, der<br />
seine Umgebung bewusst nach Todesmetaphern abzutasten scheint. Beerdigungen, Tod und<br />
Sterben sind omnipräsent. Doch nicht nur in der Außenwelt werden sie von Nagel beständig<br />
konstatiert, auch sein inneres Bewusstsein, seine Vorstellungen korrespondieren mit der<br />
Todesthematik. Nagel blickt von außen auf die Welt. Sie erscheint ihm dunkel und einsam.<br />
Doch ist entscheidend, daß Nagel die Welt erst von außen wahrnimmt, nachdem er zu seiner<br />
Winterreise aufgebrochen ist. Zwar ist, wie sich dies bereits herausgestellt hat, Nagels Reise<br />
nach Italien keine wirkliche Bildungsreise, da sie nicht der Sozialisierung und Entwicklung<br />
Nagels dient, dennoch aber hinterlässt sie zunächst ihre Wirkung in der Veränderung der<br />
perspektivischen Blickrichtung Nagels. Die Reise, die Nagel antritt, versucht dennoch<br />
Sinnkonstituierend zu sein. Sie sucht den Sinn im Anderswo, da er im räumlich, zeitlichen<br />
Hier nicht eingeholt werden kann. Doch die Reise die zunächst eine neue Perspektive auf die<br />
Welt eröffnen will, behält den Sinn doch kryptisch verborgen in sich. Was ich zunächst dem<br />
Alltäglichen als sinnstiftend und hoffnungsvoll darstellte wird in der Folge der Annährung<br />
eingeholt und banalisiert. Als Beispiel für eine solche Konfiguration seine hier exemplarisch<br />
der Vesuv und das Meer angeführt. Von Weitem scheint ihm der Vesuv als Existentielle<br />
Metapher des Dualismus aus Ruhe und Eruption, doch in der größtmöglichen Annährung<br />
Nagels an diese Verheißungsvolle Quelle entzieht sich seine Magie. Der Blick Nagels in die<br />
dunkle Tiefe des Kraters stellt ihn erneut vor das Nichts, vor die Ent-täuschung. Gleichfalls<br />
kann auch das Meer, welches von Weitem „wie ein Versprechen wirkt“, dieses nicht<br />
einhalten. Bei der näheren Betrachtung durch Nagel entzieht sich auch sein Sinnpotential und<br />
das Meer kann von ihm nur noch als kalt und dunkel beschrieben werden.<br />
Die Reise wirft also letztendlich keine Sinnpotentiale auf. Nagel kann weder in der Arbeit,<br />
noch in der Beziehung zu anderen Menschen, noch in der „Wanderung“ durch Fremde<br />
Länder neuen Sinn konstituieren. Das Problem liegt dabei vor allem in Nagels<br />
Erwartungshaltung gegenüber der Reise, denn nicht die Reise selbst ist es, die den Sinn
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konstituieren kann. Alleine durch die rein räumliche Dimension der Reise ist, wie sich dies<br />
an der Person des Protagonisten zeigt, nichts gewonnen. Der äußeren Reise muß eine<br />
innerliche Bewusstseinsreise, der äußeren eine innere Progression folgen. In dem Faktum das<br />
bereits das Ziel der Reise kontingent war, zeichnete sich bereits eine Verfehlung des Sinns ab,<br />
den diese gerade zu erzeugen versprach. Somit ist nicht verwunderlich, daß der Protagonist<br />
sich schließlich für eine Weiterreise ins ewige Eis Alaskas entscheidet. Sinnlosigkeit steht<br />
somit an Anfang und Ende der Winterreise Roths, die den Protagonisten in die existentielle<br />
Hoffnungslosigkeit entlässt und dem Leser das Schicksal der modernen Gesellschaft vor<br />
Augen führt. Eine Gesellschaft, die an Kommunikationslosigkeit krankt, an der Polyvalenz<br />
von Erkenntnis- und Sinnmöglichkeiten, die jedoch allesamt nicht vermögen das Sinndefizit<br />
zu schließen, welches von der Absage der Gesellschaft an jegliches sinnstiftende autoritative<br />
System entstanden ist. Das Individuum ist auf sich zurückgeworfen, vereinzelt, solipsistisch.<br />
Roths Protagonist vermag einzig durch den Schmerz noch zu spüren, daß er lebt. Er fühlt sich<br />
in Situationen wohl, in welchen er Schmerz ausgeliefert ist. Hölderlin hat in einem seiner<br />
Gedichte geschrieben: „Schmerzlos sind wir und haben fast die Sprache in der Fremde<br />
verloren“. Hölderlin empfand die Schmerzlosigkeit als Mangel, indem die Schmerzlosigkeit<br />
in Abhängigkeit von Betäubung erreicht wird. Wie der Mensch in der Gesellschaft und der<br />
Arbeit „ruhiggestellt“ ist, empfindet er keinen Schmerz, kein Defizit. Aber nur wer den<br />
Schmerz spürt, kann ihm auf den Grund gehen, nur be-gründeter Schmerz kann be-hoben,<br />
auf-gehoben werden und muß nicht betäubt und verdrängt werden. Nagel geht demnach den<br />
richtigen Weg, wenn er sich aus der normativen Kraft der Gesellschaft befreit, welche die<br />
Ausübung eines Berufes von ihm einfordert, welche er nicht in Einklang zu seinem eigenen<br />
Wesen setzten kann. Den Ausweg aber kann er nicht finden, da er keinen Bewusstseinswandel<br />
vollzieht und somit in seinen eigenen Projektionen gefangen bleibt, aus dem jahreszeitlichen<br />
Winter wird ein existentiellen Winter, der das Ich entfremdet und Isoliert im ewigen Eis<br />
enden lässt.
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V Das „Experiment“ Rühms<br />
Zuletzt soll nur in kurz skizziert werden, inwieweit der Winterreise Diskurs sich auch in die<br />
neuen und neuesten literarischen Entwicklungen fortgesetzt hat. Dabei ist nicht nur<br />
festzustellen, dass das Sujet ob seiner sich konsequent fortsetzenden Rezeption nicht nur seine<br />
Aussagekraft und Faszination erhalten, sondern diese auch weitgehend interdisziplinär<br />
ausgedehnt hat. Neben Literatur, Kunst und Musik erscheinen Sprachkollagen,<br />
Choreographien (z.B.: John Neumeiers Choreographie zu Zenders „Komponierter<br />
Interpretation von Schuberts Winterreise“) und Radiosendereihen. Die Winterreisethematik<br />
scheint nach wie vor das „neuzeitliche Subjekt“ zu bewegen, denn seine existentiellen<br />
Faktoren beleuchten die Problematik des häufig dichotomisch erscheinenden Verhältnisses<br />
von Mensch und Welt.<br />
Im Jahr 1990 entsteht so aus der Auseinandersetzung mit Sprachverlust und Sprachzerfall<br />
Gehard Rühms „die winterreise <strong>–</strong> dahinterweise“, die sowohl als szenische Version für Live-<br />
Aufführungen, wie auch als rein akustische Version von zwölf Hörbildern für den Rundfunk<br />
vorliegt. Es handelt sich dabei um eine assonantische Übersetzung von Müllers Text, die den<br />
Vokalbestand weitestgehend übernimmt, so dass trotz der nun entstehenden semantischen<br />
Korrumpierung des Sinns „die klangliche Schale fast identisch mit dem Gedicht Müllers“ 69<br />
bleibt. Dieser neue Text wird nun zu dem im Hintergrund abgespielten Werk Schuberts<br />
rezitiert. Auf diese Weise werden Bekanntes und Fremdes verknüpft und das durch<br />
alltäglichen Gebrauch Abgenutzte neu gehört. Rühm erläutert die Intention seiner Gestaltung<br />
im Einführungstext des Programmbuchs:<br />
„Die eigentümlich verzerrt wirkende Klanggestalt der Gedichte signalisiert eine halluzinative<br />
Aussageschicht, die dahinter, nämlich hinter den Originalworten, zu liegen scheint und sie zugleich<br />
konterkariert. So entsteht durch die intendierte semantische Unschärferelation eine Sinnvernebelung, die<br />
eine tagträumerische Assoziationstätigkeit in Gang setzten mag.“ 70<br />
Durch die multimediale Struktur wird ein komplexeres und genaueres Hören gefordert und<br />
gefördert und der Rezipient aus seiner Konsumentenhaltung gerissen.<br />
69 Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73.<br />
70 Zitiert nach: Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73.