LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
14<br />
- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
Die Reise hat, wie dies bereits zuvor soziologisch und philosophisch erläutert wurde, kein<br />
reales Ziel mehr. „Das Grundmuster der zeitlich beschränkten, zielorientierten Reise“ 42 wird<br />
gebrochen. „Wandern ist nun sowohl Selbstzweck als auch Selbstausdruck. [...] Der<br />
entscheidende Aspekt ist nicht mehr die Ankunft, wie sie es für alle Heimkehrer seit Odysseus<br />
war. [...] Im prägnanten Moment des Aufbruchs bündelt, entfaltet und verklärt sich<br />
romantisches Wandern.“ 43 Das Wandern ins Geheimnisvolle, ins Fremde steht im<br />
Aussagezentrum.<br />
Aber auch von dieser Vorstellung differenziert sich Müllers Wanderer. Dieser zieht<br />
schließlich nicht erst in die Fremde, er wandert bereits als Fremder in der Fremde. Seine<br />
ersten Verse belegen dies. Sie zeigen einen Menschen, dessen Wanderung nicht erst beginnt.<br />
Hier begegnet dem Rezipienten keine Person, die mit Ziel und Hoffnung aufbricht, wohl eher<br />
eine Gestalt, die schon einen Weg hinter sich gebracht hat und nun wandernd durchs Leben<br />
zieht und keine Heimat findet, irre umherwandert ohne Grund und Ziel:<br />
„Und ich wand´re sonder Maßen <strong>–</strong> ohne Ruh´, und suche Ruh´.“ (Der Wegweiser) 44<br />
Doch dies scheint nicht weiter erstaunlich, denn Müller nennt seinen Zyklus „Winterreise“.<br />
Somit wird der positiv konnotierten Reise das negative Assoziationen auslösende Bild des<br />
Winters zur Seite gestellt. So erscheinen „von vornherein Schatten der Skepsis, ob eine Reise<br />
im Winter überhaupt glücken kann“ 45 , über dem Vorhaben zu liegen. Es zeigt sich, dass die<br />
Option eines realen Ziels der Reise gleich von Beginn an zerschlagen ist.<br />
C Zyklische Geschlossenheit<br />
Wenn also hier nicht die Bedeutung der Reise gefunden werden kann, so ist es vielleicht, und<br />
diese Möglichkeit wird bereits durch Müllers Disposition der Winterreisegedichte als Zyklus<br />
angedeutet, eine Reise, die zum Ausgangspunk zurückkehrt. Aber wenngleich Müller die<br />
Gedichte der „Winterreise“, zuerst (Anfang 1822) als Teilzyklus zu 12 Gedichten und<br />
schließlich 1824 als vollständigen Zyklus, unter dem Titel „Gedichte aus den hinterlassenen<br />
Papieren eines reisenden Waldhornisten“ zusammen mit den Gedichten der „Schönen<br />
Müllerin“ und den „Tafelliedern für Liedertafeln“ 46 veröffentlichte, scheint sich eine<br />
42 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 148.<br />
43 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 149.<br />
44 Müller, Wilhelm: Winterreise, S. 38.<br />
45 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 155.<br />
46 Vgl.. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 60.