31.10.2013 Aufrufe

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

22<br />

- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

Gründe, die ihn zu einem solchen Gang bewegen, Castorp hingegen scheint sich einer solchen<br />

Dimension seines Tuns nicht bewusst zu sein. Die Bewusstwerdung setzt erst mit dem Traum<br />

der „Weltseele“ ein und rückt erst im Kapitel die „Fülle des Wohllauts“ in den subjektiv<br />

individuellen Gesichtskreis Castorps. Doch soll hier zunächst Castorps Weg in den Schnee<br />

näher expliziert werden, denn es handelt sich nicht um ein verantwortungsvolles, geplantes<br />

Wandern, sondern um einen bewusst als Abenteuer inszenierten Ausflug. Er vermiedet „die<br />

Wege, wo die andren Wandrer gehen“, sucht sich „versteckte Stege durch verschneite<br />

Felseshöhn´“, wie es in Müllers „Wegweiser“ heißt. Er weicht bewusst von den vorgegebenen<br />

Wegen ab. Versucht sich zu verwirren und die Orientierung zu verlieren, und ist erstaunt, als<br />

dies tatsächlich eintrifft. In der realen Einsamkeit und Verlassenheit, im Angesicht der<br />

aufziehenden Dunkelheit, die mit ihrer Kälte empor steigt, gewinnt die Wanderung nun eine<br />

existentielle Dimension.<br />

Castorp hat sich von den autoritativen Regeln des Kurbetriebs gelöst, indem er im Dorf Ski<br />

erwarb und unter Settembrinis Aufsicht nach und nach lernte sich auf ihnen zu bewegen.<br />

Settembrini unterstützt zunächst Castorps Vorhaben, begleitet ihn beim Kauf der Ski und<br />

feuert ihn bei seinen Übungen an, alle Fortschritte mit „Bravorufen“ kommentierend. Direkt<br />

vor Castorps Aufbruch in die unwirtliche Natur aber, „kurz bevor er Settembrini im Nebel<br />

verschwinden sah“, hörte Castorp, wie dieser ihm „durch die holen Hände eine Warnung“<br />

zurief und „pädagogisch befriedigt“ nach Hause ging. Castorp aber ignoriert auch diese<br />

Warnung. Dies deutet an, wie er sich nach und nach, im Laufe seiner Entwicklung vor seinen<br />

Lehrern etabliert. Im Schneekapitel wird so deutlich, daß Castorp Settembrini zwar schätzt,<br />

seinen pädagogischen Ratschlägen aber nicht unreflektiert zu folgen bereit ist. Er übernimmt<br />

die Verantwortung für seinen Ausflug in das winterliche Gebirge, welches ihm in<br />

„Totenstille“ entgegentritt. Zunächst ist diese Landschaft versunken in „bodenlosem<br />

Schweigen“, kein Windhauch, kein Rauschen der Bäume, keine Vogelstimmen. Die Natur<br />

erscheint als ausgestorben und wird im Roman als „tödlich lautlose Winterwildnis“<br />

beschrieben. Eine solche unwirtliche Umgebung sollte den Wanderer nun eigentlich<br />

abschrecken und zur Vernunfteinsicht beitragen in die Nähe der Menschen zurückzukehren,<br />

doch Castorp sehnt sich nach dem Abenteuer und mehr noch, nach der Begegnung mit dem<br />

Tod. „Hans Castorp hatte Mut hier oben, - wenn Mut vor den Elementen nicht stumpfe<br />

Nüchternheit im Verhältnis zu ihnen, sondern bewußte Hingabe und Sympathie bezwungenen<br />

Todesschreckens bedeutet.“ Castorp sympathisiert mit der kargen Natur, der Einsamkeit, der<br />

Totenstille. Auch seine Kolloquien mit Settembrini und Naphta hatten ihn, so resümiert er, in

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!