LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
Gründe, die ihn zu einem solchen Gang bewegen, Castorp hingegen scheint sich einer solchen<br />
Dimension seines Tuns nicht bewusst zu sein. Die Bewusstwerdung setzt erst mit dem Traum<br />
der „Weltseele“ ein und rückt erst im Kapitel die „Fülle des Wohllauts“ in den subjektiv<br />
individuellen Gesichtskreis Castorps. Doch soll hier zunächst Castorps Weg in den Schnee<br />
näher expliziert werden, denn es handelt sich nicht um ein verantwortungsvolles, geplantes<br />
Wandern, sondern um einen bewusst als Abenteuer inszenierten Ausflug. Er vermiedet „die<br />
Wege, wo die andren Wandrer gehen“, sucht sich „versteckte Stege durch verschneite<br />
Felseshöhn´“, wie es in Müllers „Wegweiser“ heißt. Er weicht bewusst von den vorgegebenen<br />
Wegen ab. Versucht sich zu verwirren und die Orientierung zu verlieren, und ist erstaunt, als<br />
dies tatsächlich eintrifft. In der realen Einsamkeit und Verlassenheit, im Angesicht der<br />
aufziehenden Dunkelheit, die mit ihrer Kälte empor steigt, gewinnt die Wanderung nun eine<br />
existentielle Dimension.<br />
Castorp hat sich von den autoritativen Regeln des Kurbetriebs gelöst, indem er im Dorf Ski<br />
erwarb und unter Settembrinis Aufsicht nach und nach lernte sich auf ihnen zu bewegen.<br />
Settembrini unterstützt zunächst Castorps Vorhaben, begleitet ihn beim Kauf der Ski und<br />
feuert ihn bei seinen Übungen an, alle Fortschritte mit „Bravorufen“ kommentierend. Direkt<br />
vor Castorps Aufbruch in die unwirtliche Natur aber, „kurz bevor er Settembrini im Nebel<br />
verschwinden sah“, hörte Castorp, wie dieser ihm „durch die holen Hände eine Warnung“<br />
zurief und „pädagogisch befriedigt“ nach Hause ging. Castorp aber ignoriert auch diese<br />
Warnung. Dies deutet an, wie er sich nach und nach, im Laufe seiner Entwicklung vor seinen<br />
Lehrern etabliert. Im Schneekapitel wird so deutlich, daß Castorp Settembrini zwar schätzt,<br />
seinen pädagogischen Ratschlägen aber nicht unreflektiert zu folgen bereit ist. Er übernimmt<br />
die Verantwortung für seinen Ausflug in das winterliche Gebirge, welches ihm in<br />
„Totenstille“ entgegentritt. Zunächst ist diese Landschaft versunken in „bodenlosem<br />
Schweigen“, kein Windhauch, kein Rauschen der Bäume, keine Vogelstimmen. Die Natur<br />
erscheint als ausgestorben und wird im Roman als „tödlich lautlose Winterwildnis“<br />
beschrieben. Eine solche unwirtliche Umgebung sollte den Wanderer nun eigentlich<br />
abschrecken und zur Vernunfteinsicht beitragen in die Nähe der Menschen zurückzukehren,<br />
doch Castorp sehnt sich nach dem Abenteuer und mehr noch, nach der Begegnung mit dem<br />
Tod. „Hans Castorp hatte Mut hier oben, - wenn Mut vor den Elementen nicht stumpfe<br />
Nüchternheit im Verhältnis zu ihnen, sondern bewußte Hingabe und Sympathie bezwungenen<br />
Todesschreckens bedeutet.“ Castorp sympathisiert mit der kargen Natur, der Einsamkeit, der<br />
Totenstille. Auch seine Kolloquien mit Settembrini und Naphta hatten ihn, so resümiert er, in