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LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

8<br />

- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

autonomen Subjekts und der Fähigkeit zu ihrer Artikulation abhängig ist. [...] Innerlichkeit<br />

und Rückbezug auf die eigene psychische Verfassung erscheinen als notwendige<br />

Prämissen.“ 25<br />

Individualität und subjektives Bewusstsein aber sind basale Merkmale der<br />

Neuzeit. Im Mittelalter wäre eine subjektive Zentrierung undenkbar gewesen, da sich Künstler<br />

als Werkzeuge Gottes betrachteten und kein Verständnis individueller Einzigartigkeit<br />

ausbildeten. Erst in der Renaissance entwickelte sich ein solches, auf den schaffenden<br />

einzelnen Menschen hin konzentriertes Weltbild. Doch auch diese Vorstellung von<br />

Individualität greift in Bezug auf Selbstbild und Selbstverständnis von Winterreiseautoren zu<br />

kurz. Das Subjekt muss erst den Weg durch die Selbsterkenntnis des Ichs, als denkendem<br />

Wesen descartesischer Provenienz 26 nehmen. Es muss sich seiner selbst bewusst werden, zu<br />

sich kommen, „selbst-bewusst“ sein. Die in sich gefestigte Persönlichkeit drängt euphorisch<br />

vorwärts in Revolution, Sturm und Drang, erhebt sich gegen Grundfesten, die das neue<br />

subjektive Selbstbewusstsein determinieren.<br />

Zeigte sich bereits 1625 bei Opitz ein aufkeimendes individuelles Bewusstsein mit subjektiver<br />

Ausdrucksfähigkeit, so nehmen die „Winterreisen“ im Folgenden mit der Autonomisierung<br />

und Individualisierung zu.<br />

1777 schreibt Goethe seine „Harzreise im Winter“. Es handelt sich hierbei um die winterliche<br />

Besteigung des Brockens, die zur Zeit Goethes durchaus, gerade unter winterlichen<br />

Bedingungen, abenteuerliche Züge aufwies. Das Subjekt als gegen die unwirtliche Natur<br />

agierendes Vereinzeltes. Wenngleich auch hier wieder Bilder des Locus Desertus auftreten<br />

und die kalte winterliche Natur den unterschwelligen Gemütsregungen des Subjekts Ausdruck<br />

verleiht, so differenziert sich Goethes „Winterreise“ doch von jenen, die in den nachfolgenden<br />

Jahren geschrieben werden sollen. Goethes Wanderer nämlich erklimmt den Brocken,<br />

bezwingt die unwirtliche Natur und steht göttergleich - wie Prometheus - am Ende der Reise<br />

siegreich da. Der beschwerliche Weg hat das Subjekt schließlich in seinen persönlichen<br />

Fähigkeiten bestärkt. Der Wanderer trägt einen individuellen Gewinn davon. Dieses Sturm<br />

und Drang - Denken, dieses unerschütterliche Selbstbewusstsein aber schwindet mit<br />

verlustreichen Revolutionen, Restaurationssystemen und der erneuten staatlichen<br />

Zurückdrängung persönlicher Individualität.<br />

Entstand die Winterreisethematik grundlegend aus der Emanzipation des Individuums<br />

gegenüber Kirche und Staat als den bisherigen Ordnungssystemen, so zeigen sich nun auch<br />

die negativen Faktoren, die mit einem solchen Individualisierungsprozess einhergehen. Zum<br />

25 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 230.<br />

26 Vgl.: Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. S. 40-61.

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