LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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Hegels basieren auf jener dialektischen Konzeption, welche er auch in der „Phänomenologie<br />
- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
des Geistes“, sowie in der „Wissenschaft der Logik“ darlegt. Sein und Wesen, Ich und Nicht-<br />
Ich werden dadurch vermittelt, dass sie sich vom jeweils anderen durch ihre Andersartigkeit<br />
unterscheiden und gerade durch dieses Abstoßen und Differenzieren ihre eigene Identität<br />
finden. Durch das bewusste Setzen der eigenen Negativität entsteht zunächst eine scheinbar<br />
unüberwindbare Divergenz. Es zeigt sich aber, dass gerade der Gang durch die Negativität,<br />
durch das Anderswerden überhaupt erst Identität und Selbstgewissheit entstehen können. Die<br />
eine Seite bedingt ihr negatives Gegenüber ebenso wie sich dies auch von der anderen Seite<br />
zeigt. So kann „Heimischkeit“ nicht ohne Fremde gedacht werden, da Heimat sich durch die<br />
bewusste Abwesenheit des Fremden setzt. Diese notwendige Konfiguration des sich<br />
immerwährenden Fügens von An- und Abwesendem zeigt die Dichotomie von Divergenz und<br />
Konvergenz. Dennoch muss eingeräumt werden, dass es sich hier nicht um ein<br />
selbstreflektiertes, bewusstes Verhältnis der divergenten Seiten handelt. Eher stehen sich die<br />
gegenseitig bedingten Verhältnisse unvermittelt gegenüber. Sie sind sich der gegenseitigen<br />
Bedingtheit nicht bewusst, empfinden sich nicht als aus dem jeweilig anderen entsprungen<br />
und stehen sich somit als Negativa gegenüber. Daher erscheint die Fremde in Müllers<br />
Gedichten nicht in der Nähe zur Heimat, sondern zeigt sich gerade als deren Gegenteil,<br />
welches unvermittelbar mit dem positiven Heimatgefühl kollidiert. Wenngleich sich also<br />
Fremde aus Heimat oder besser gesagt deren Abwesenheit konstituiert, so kann der Wanderer<br />
diese Fremdheit doch nicht überwinden, da er die Verbindung zur heimatlichen Struktur nicht<br />
herstellen kann und so im philosophischen Sinn nicht in der Lage ist, die polarisierenden<br />
Seiten auszusöhnen.<br />
Dennoch lässt sich festhalten, dass, so antonym sich also Fremde und Heimat auch entgegen<br />
zu stehen scheinen, doch eines aus dem anderen zu entwickeln ist.<br />
Was bedeutet dies nun für die Wanderung in die Fremde?<br />
Unheimlich war nach Freud eben als das nicht mehr Heimische bestimmt worden. Aus<br />
vormaliger Heimat ist eine unwirtliche Landschaft geworden, die nur noch<br />
Fremdheitsstrukturen aufscheinen lässt. Der Wanderer ist, wie er selbst sagt, aus „törichtem<br />
Verlangen“ 32 zum Wandern getrieben. Er durchzieht „planlos-zwanghaft“ die Landschaft wie<br />
ein „Heimatloser, dessen Fremdheit von Anfang an außer Zweifel steht.“ 33 Irgendwann hat<br />
sich die Landschaft um ihn herum verkehrt und ist zur fremden Einöde geworden. Ziel der<br />
Wanderung ist die Konstitution einer neuen Heimat, fester Strukturen, die wieder Halt im<br />
Leben bieten. Doch der Ausweg scheint fern. Fremde wird eben als negatives Moment der<br />
32 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.<br />
33 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.