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LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

11<br />

Hegels basieren auf jener dialektischen Konzeption, welche er auch in der „Phänomenologie<br />

- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

des Geistes“, sowie in der „Wissenschaft der Logik“ darlegt. Sein und Wesen, Ich und Nicht-<br />

Ich werden dadurch vermittelt, dass sie sich vom jeweils anderen durch ihre Andersartigkeit<br />

unterscheiden und gerade durch dieses Abstoßen und Differenzieren ihre eigene Identität<br />

finden. Durch das bewusste Setzen der eigenen Negativität entsteht zunächst eine scheinbar<br />

unüberwindbare Divergenz. Es zeigt sich aber, dass gerade der Gang durch die Negativität,<br />

durch das Anderswerden überhaupt erst Identität und Selbstgewissheit entstehen können. Die<br />

eine Seite bedingt ihr negatives Gegenüber ebenso wie sich dies auch von der anderen Seite<br />

zeigt. So kann „Heimischkeit“ nicht ohne Fremde gedacht werden, da Heimat sich durch die<br />

bewusste Abwesenheit des Fremden setzt. Diese notwendige Konfiguration des sich<br />

immerwährenden Fügens von An- und Abwesendem zeigt die Dichotomie von Divergenz und<br />

Konvergenz. Dennoch muss eingeräumt werden, dass es sich hier nicht um ein<br />

selbstreflektiertes, bewusstes Verhältnis der divergenten Seiten handelt. Eher stehen sich die<br />

gegenseitig bedingten Verhältnisse unvermittelt gegenüber. Sie sind sich der gegenseitigen<br />

Bedingtheit nicht bewusst, empfinden sich nicht als aus dem jeweilig anderen entsprungen<br />

und stehen sich somit als Negativa gegenüber. Daher erscheint die Fremde in Müllers<br />

Gedichten nicht in der Nähe zur Heimat, sondern zeigt sich gerade als deren Gegenteil,<br />

welches unvermittelbar mit dem positiven Heimatgefühl kollidiert. Wenngleich sich also<br />

Fremde aus Heimat oder besser gesagt deren Abwesenheit konstituiert, so kann der Wanderer<br />

diese Fremdheit doch nicht überwinden, da er die Verbindung zur heimatlichen Struktur nicht<br />

herstellen kann und so im philosophischen Sinn nicht in der Lage ist, die polarisierenden<br />

Seiten auszusöhnen.<br />

Dennoch lässt sich festhalten, dass, so antonym sich also Fremde und Heimat auch entgegen<br />

zu stehen scheinen, doch eines aus dem anderen zu entwickeln ist.<br />

Was bedeutet dies nun für die Wanderung in die Fremde?<br />

Unheimlich war nach Freud eben als das nicht mehr Heimische bestimmt worden. Aus<br />

vormaliger Heimat ist eine unwirtliche Landschaft geworden, die nur noch<br />

Fremdheitsstrukturen aufscheinen lässt. Der Wanderer ist, wie er selbst sagt, aus „törichtem<br />

Verlangen“ 32 zum Wandern getrieben. Er durchzieht „planlos-zwanghaft“ die Landschaft wie<br />

ein „Heimatloser, dessen Fremdheit von Anfang an außer Zweifel steht.“ 33 Irgendwann hat<br />

sich die Landschaft um ihn herum verkehrt und ist zur fremden Einöde geworden. Ziel der<br />

Wanderung ist die Konstitution einer neuen Heimat, fester Strukturen, die wieder Halt im<br />

Leben bieten. Doch der Ausweg scheint fern. Fremde wird eben als negatives Moment der<br />

32 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.<br />

33 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.

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