31.10.2013 Aufrufe

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

34<br />

- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

Reise aber zu der er aufbricht scheint von Beginn an zum Scheitern verurteilt, bricht er doch,<br />

wie er selbst berichtet, zum Friedhof der Träume <strong>–</strong> Pompeji <strong>–</strong> auf.<br />

Dem Sinnentzug durch die entfremdende Arbeit ist in Roths „Winterreise“ die<br />

Sinnkonstitution durch Arbeit kontrapunktisch entgegengesetzt. Diese Konnexion von Sinn<br />

und Arbeit etabliert sich im Roman durch die Erinnerung Nagel an seinen Großvater. Über<br />

den gesamten Roman erstreckt sich die Erinnerung an den Großvater, welcher den Sinn seines<br />

Lebens nach der Arbeit bemaß. Sein Leben war die Arbeit und er reiste, um zu arbeiten.<br />

„Ohne Arbeit zu leben, war wie eine schleichende, tödliche Krankheit, es war das<br />

Bewusstsein des Todes, das langsam auf ihn zukam.“ Er glaubte an die Arbeit, wie andere<br />

Menschen ihren Glauben an Gott oder andere Autoritäten zur Sinnkonstitution für ihr Leben<br />

heranziehen. Nagel aber kann nicht an die Arbeit glauben, kann sich auf diese Weise keinen<br />

Sinn in seinem Leben konstituieren. Der Mensch aber ist in seinem Lebensvollzug auf Sinn<br />

angewiesen, da sich alle Handlungen seiner als auf einen Zweck hin orientiert verstehen<br />

lassen. Der Entzug Gottes führte zur Ermangelung eines Sinns, der durch eigene, individuelle<br />

Setzungen substituiert werden musste. Die moderne Welt aber bietet eine Pluralität an<br />

disparaten Wertsetzungsparametern, die zur Verstrickung des Individuums in der<br />

Orientierungslosigkeit führen. Gelingt es dem Menschen nicht in dieser Pluralität selbst<br />

sinnsetzend tätig zu werden, werden die Widersprüche existentiell. Während also Nagels<br />

Großvater dem existenzgefährdenden Nihilismus, durch die Sinnsetzung in und durch die<br />

Arbeit, entfliehen konnte, steht Nagel der Absurdität der Welt (Camus) ungeschützt<br />

gegenüber. Das Sinnvakuum ergreift Nagel und stürzt ihn in eine existentielle Krise: „Für den<br />

Großvater war das Überleben der Sinn seines Daseins gewesen, während für ihn (Nagel) der<br />

Sinn eine Frage des Überlebens wurde.“ Doch wie der Großvater sein Leben lang ein<br />

Suchender blieb, wie er die Welt bereiste, um Arbeit zu finden und doch letztendlich nur unter<br />

entwürdigenden Bedingungen Arbeit fand, spiegelt sich in Nagels erfolgloser Sinnsuche<br />

wieder. Das Schiff, welches den Großvater als blinden Passgier nach Amerika, in das Land<br />

der unbegrenzten Möglichkeiten, bringen sollte, führt ihn nach Cardiff, wo er nach langer,<br />

entwürdigender Arbeitssuche eine Anstellung als verdinglichte Existenz eines Heizers auf<br />

einem Schiff erhält. Erblickt Nagel im Hafen von Neapel die Masten der Schiffe, so mag auch<br />

dies ein Verweis auf den Misserfolg der Sinnsuche Nagels sein. Die Metaphorik wird sich als<br />

schlüssig erweisen, denn schließlich endet die Reise, welche so verheißungsvoll im<br />

Bildungsland Italien begann, im ewigen Eis Alaskas. Dies soll jedoch später ausführlicher<br />

thematisiert werden.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!