LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
17<br />
- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
Diese fortwährende Entfremdung findet ihr kongruentes Abbild in der zunehmenden<br />
„Abseitigkeit und wachsenden Isolation“ 57 des Wanderers. Zunächst flüchtet dieser aus der<br />
städtischen Sphäre, getrieben von akustischen Stimuli wie dem Gebell der Hunde. Der Fluss<br />
an dem er entlang wandert, ist zugefroren, und auch sein weiterer Weg durch die öden<br />
acherontischen Landschaften entzieht ihm immer mehr Richtung und Sinnkonfiguration. Er<br />
gerät durch die Verlockung visueller Stimuli in die „tiefen Felsengründe“, kann auch „im<br />
Dorfe“ keine Zuflucht finden und selbst in des „Köhlers Hütte“, wird ihm zwar Obdach aber<br />
keine Ruhe zuteil („In eines Köhlers engem Haus / Hab´ Obdach ich gefunden; / doch meine<br />
Glieder ruhn´ nicht aus: / So brennen ihre Wunden.“ 58 ). „Das Wirtshaus“ schließlich wirft ihn<br />
ganz auf sich zurück und desillusioniert jede Hoffnung auf potentielle Erlösung durch den<br />
Tod, denn alle Kammern in diesem Haus sind besetzt und die „unbarmherz´ge Schenke“ 59<br />
weist ihn ab. Jegliche menschliche Sphäre wird ihm fremd, jeder soziale Kontakt scheint<br />
verwehrt. „Die Erfahrung der Fremde zeichnet sich im Weg des Wanderers von der Stadt der<br />
Geliebten bis hin zu einem nicht mehr lokalisierbaren Ort der „Wüstenei“ 60 (Der Wegweiser)<br />
ab. „Der Wanderer wird sich bei diesem Gang in die Fremde selbst fremd, das heißt, er<br />
verliert an Identität in dem Maße, wie er sich von der Stadt der Geliebten entfernt.“ 61 Das Ich<br />
ist nicht in der Lage, die Fremdheitserfahrungen zu verarbeiten und aus ihnen das eigene<br />
Subjektbewusstsein zu schöpfen. Die Hegelsche Struktur der Selbstbewusstseinskonstitution<br />
definiert dieser in der „Phänomenologie des Geistes“ wie folgt: „Das Selbstbewusstsein ist die<br />
Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die<br />
Rückkehr aus dem Anderssein. Es ist als Selbstbewusstsein Bewegung; aber indem es nur<br />
sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein<br />
Anderssein aufgehoben.“ 62 Dies bedeutet, dass sich Selbstbewusstsein ausschließlich durch<br />
vermittelte Fremderfahrung, durch Erfahrung der Negativität des eigenen Ichs und deren<br />
Aufhebung konstituieren kann. Da der Wanderer die Welt mit seinen eigenen Projektionen<br />
überzieht und die Objektwelt schließlich seine psychische Verfasstheit widerspiegelt, kann er<br />
keine Fremderfahrung machen und somit auch nicht aus der erfahren Negativität zur eigenen<br />
Identität zurückfinden. Der Wanderer entfremdet sich also auf seinem Weg nicht nur immer<br />
57 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 120.<br />
58 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 28.<br />
59 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40.<br />
60 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38.<br />
61 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 159.<br />
62 Hegel, G.F.W.: Phänomenologie des Geistes, S. 142.