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LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

39<br />

- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

V Das „Experiment“ Rühms<br />

Zuletzt soll nur in kurz skizziert werden, inwieweit der Winterreise Diskurs sich auch in die<br />

neuen und neuesten literarischen Entwicklungen fortgesetzt hat. Dabei ist nicht nur<br />

festzustellen, dass das Sujet ob seiner sich konsequent fortsetzenden Rezeption nicht nur seine<br />

Aussagekraft und Faszination erhalten, sondern diese auch weitgehend interdisziplinär<br />

ausgedehnt hat. Neben Literatur, Kunst und Musik erscheinen Sprachkollagen,<br />

Choreographien (z.B.: John Neumeiers Choreographie zu Zenders „Komponierter<br />

Interpretation von Schuberts Winterreise“) und Radiosendereihen. Die Winterreisethematik<br />

scheint nach wie vor das „neuzeitliche Subjekt“ zu bewegen, denn seine existentiellen<br />

Faktoren beleuchten die Problematik des häufig dichotomisch erscheinenden Verhältnisses<br />

von Mensch und Welt.<br />

Im Jahr 1990 entsteht so aus der Auseinandersetzung mit Sprachverlust und Sprachzerfall<br />

Gehard Rühms „die winterreise <strong>–</strong> dahinterweise“, die sowohl als szenische Version für Live-<br />

Aufführungen, wie auch als rein akustische Version von zwölf Hörbildern für den Rundfunk<br />

vorliegt. Es handelt sich dabei um eine assonantische Übersetzung von Müllers Text, die den<br />

Vokalbestand weitestgehend übernimmt, so dass trotz der nun entstehenden semantischen<br />

Korrumpierung des Sinns „die klangliche Schale fast identisch mit dem Gedicht Müllers“ 69<br />

bleibt. Dieser neue Text wird nun zu dem im Hintergrund abgespielten Werk Schuberts<br />

rezitiert. Auf diese Weise werden Bekanntes und Fremdes verknüpft und das durch<br />

alltäglichen Gebrauch Abgenutzte neu gehört. Rühm erläutert die Intention seiner Gestaltung<br />

im Einführungstext des Programmbuchs:<br />

„Die eigentümlich verzerrt wirkende Klanggestalt der Gedichte signalisiert eine halluzinative<br />

Aussageschicht, die dahinter, nämlich hinter den Originalworten, zu liegen scheint und sie zugleich<br />

konterkariert. So entsteht durch die intendierte semantische Unschärferelation eine Sinnvernebelung, die<br />

eine tagträumerische Assoziationstätigkeit in Gang setzten mag.“ 70<br />

Durch die multimediale Struktur wird ein komplexeres und genaueres Hören gefordert und<br />

gefördert und der Rezipient aus seiner Konsumentenhaltung gerissen.<br />

69 Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73.<br />

70 Zitiert nach: Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73.

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