LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
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- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
zeichnet sich eine kollektive Erfahrung dies Scheiterns und der daraus resultierenden<br />
Selbstaufgabe ab. Bei Nagel begründet sich diese Selbstaufgabe in der Konstitution des<br />
Alltags. Er musste seine „Gedanken und politischen Ansichten unterdrücken, weil es<br />
notwendig gewesen war, dies für den Direktor oder den Schulinspektor zu tun“. Nagels<br />
Lehrerdasein wird durch autoritäre Instanzen bestimmt, die sein Tun, sein Denken, seine<br />
Persönlichkeit definieren. Hier findet sich eine Parallele zu den konstitutiven Faktoren der<br />
Winterreise Müllers, die den Wanderer gleichsam als unverstandenes Individuum zeigt,<br />
welches ausziehen muß, um die eigene verschüttete Individualität wieder zu finden. Immanent<br />
ist diese Fremdheitserfahrung auch dem gesamten Diskurs der Winterreise, zeigt sie sich doch<br />
immer auch als Auseinandersetzung eines Autors mit den ihn umgebenden sozialen<br />
Verhältnissen. So konnte auch Müller nur durch die Chiffrierung seiner Texte Kritik an den<br />
politischen Zuständen seiner Zeit üben.<br />
Nagel erfährt die Arbeit als zermürbend, als voller Zwänge, erniedrigend und entfremdend,<br />
auch gerade, weil sie sich mit ihren autoritativen Zwängen seinem Wesen entgegensetzt. Sie<br />
ist nicht mit seinen Wünschen und Vorstellungen Kongruent. Arbeit ist ihm streben nach dem<br />
Ruhestand, nach einer Zeit in der er das Überleben nicht mehr durch entfremdende Tätigkeit<br />
überbrücken muss. Diese Entfremdung lässt ihn das Leben als Dahinleben kennzeichnen.<br />
„Das Leben war ein Dahinleben, so wie die Erde nichts besonderes war im Universum, eine<br />
Belanglosigkeit.“ Die Welt dient Nagel als Spiegel seiner seelischen Verfasstheit. Er<br />
beschreibt die Erde als „vereinsamte, saphierblau und weiß gemaserte Kugel in der Schwärze<br />
des Universums, ein winziger Körper, der im Nichts schwebte.“ Diese Beschreibung der<br />
Einsamkeit koinzidiert mit der Beschaffenheit der Natur, welche, sich als Winterlandschaft<br />
offenbarend, gleichsam als tot, kahl und ausgestorben beschrieben wird. Der Eindruck des<br />
locus desertus verstärkt sich durch Roths Einfügung von technischen Elementen in der<br />
Naturdarstellung. So treten Beispielsweise Hochspannungsmasten neben der Darstellung von<br />
kahlen Bäumen auf. Dies verdeutlicht zum einen den Eingriff des Menschen in die Natur, die<br />
Unterjochung der Natur, die diese ebenso gegen ihr Wesen in vorgeschriebene Grenzen<br />
drängt, wie Nagel die autoritativen Zwänge, denen er bei seiner Arbeit ausgesetzt ist, zum<br />
andern wird durch die prinzipiell gleichartige Anmutung des kahlen Gestänges der<br />
Hochspannungsmasten und der entlaubten Bäume ein eindringliches Bild der Kälte<br />
geschaffen. Gegen all dies verspürt Nagel eine plötzliche „Lust am Widerstand“, den er nur<br />
durch den Ausbruch aus Arbeit, Leben und gewohnter Umgebung auszuleben vermag. Die