31.10.2013 Aufrufe

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

33<br />

- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />

zeichnet sich eine kollektive Erfahrung dies Scheiterns und der daraus resultierenden<br />

Selbstaufgabe ab. Bei Nagel begründet sich diese Selbstaufgabe in der Konstitution des<br />

Alltags. Er musste seine „Gedanken und politischen Ansichten unterdrücken, weil es<br />

notwendig gewesen war, dies für den Direktor oder den Schulinspektor zu tun“. Nagels<br />

Lehrerdasein wird durch autoritäre Instanzen bestimmt, die sein Tun, sein Denken, seine<br />

Persönlichkeit definieren. Hier findet sich eine Parallele zu den konstitutiven Faktoren der<br />

Winterreise Müllers, die den Wanderer gleichsam als unverstandenes Individuum zeigt,<br />

welches ausziehen muß, um die eigene verschüttete Individualität wieder zu finden. Immanent<br />

ist diese Fremdheitserfahrung auch dem gesamten Diskurs der Winterreise, zeigt sie sich doch<br />

immer auch als Auseinandersetzung eines Autors mit den ihn umgebenden sozialen<br />

Verhältnissen. So konnte auch Müller nur durch die Chiffrierung seiner Texte Kritik an den<br />

politischen Zuständen seiner Zeit üben.<br />

Nagel erfährt die Arbeit als zermürbend, als voller Zwänge, erniedrigend und entfremdend,<br />

auch gerade, weil sie sich mit ihren autoritativen Zwängen seinem Wesen entgegensetzt. Sie<br />

ist nicht mit seinen Wünschen und Vorstellungen Kongruent. Arbeit ist ihm streben nach dem<br />

Ruhestand, nach einer Zeit in der er das Überleben nicht mehr durch entfremdende Tätigkeit<br />

überbrücken muss. Diese Entfremdung lässt ihn das Leben als Dahinleben kennzeichnen.<br />

„Das Leben war ein Dahinleben, so wie die Erde nichts besonderes war im Universum, eine<br />

Belanglosigkeit.“ Die Welt dient Nagel als Spiegel seiner seelischen Verfasstheit. Er<br />

beschreibt die Erde als „vereinsamte, saphierblau und weiß gemaserte Kugel in der Schwärze<br />

des Universums, ein winziger Körper, der im Nichts schwebte.“ Diese Beschreibung der<br />

Einsamkeit koinzidiert mit der Beschaffenheit der Natur, welche, sich als Winterlandschaft<br />

offenbarend, gleichsam als tot, kahl und ausgestorben beschrieben wird. Der Eindruck des<br />

locus desertus verstärkt sich durch Roths Einfügung von technischen Elementen in der<br />

Naturdarstellung. So treten Beispielsweise Hochspannungsmasten neben der Darstellung von<br />

kahlen Bäumen auf. Dies verdeutlicht zum einen den Eingriff des Menschen in die Natur, die<br />

Unterjochung der Natur, die diese ebenso gegen ihr Wesen in vorgeschriebene Grenzen<br />

drängt, wie Nagel die autoritativen Zwänge, denen er bei seiner Arbeit ausgesetzt ist, zum<br />

andern wird durch die prinzipiell gleichartige Anmutung des kahlen Gestänges der<br />

Hochspannungsmasten und der entlaubten Bäume ein eindringliches Bild der Kälte<br />

geschaffen. Gegen all dies verspürt Nagel eine plötzliche „Lust am Widerstand“, den er nur<br />

durch den Ausbruch aus Arbeit, Leben und gewohnter Umgebung auszuleben vermag. Die

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!