LITERARISCHE WINTERREISEN – JANINE CHRISTGEN
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<strong>LITERARISCHE</strong> <strong>WINTERREISEN</strong> <strong>–</strong> <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
10<br />
- <strong>JANINE</strong> <strong>CHRISTGEN</strong><br />
1 Die real lokale Entfremdung<br />
Der Wanderer zieht durch eine kalte, unwirtliche Winterlandschaft, durch einen Locus<br />
Desertus, vielleicht auch einen Locus Terribilis, einen schrecklichen oder gar unheimlichen<br />
Ort. Unheimlich auch deshalb, weil ihm die einzelnen Naturphänomene keinen verbindlichen<br />
Sinnzusammenhang erschließen. Was sagt ihm die Stimme der Natur, die sich ihm „im<br />
heulenden Sturm, im Rauschen des Lindenbaums, im krachenden Eis, im Flackern des<br />
Irrlichts“ 27 und anderen onomatopoetischen Bildern zeigt? Interessant ist, dass<br />
Unheimlichkeit und Fremdsein für Freud in einem engen semantischen Bezug stehen. In<br />
seinem Aufsatz über das „Unheimliche“ legt er diese Beobachtung dar.<br />
a Die Provenienz des Unheimlichen aus heimatlichen Strukturen<br />
Zunächst klärt Freud die volksläufige Bedeutung des Begriffs „unheimlich“ auf. Er stellt fest,<br />
das Wort „unheimlich“ stehe offenbar dem Heimlichen, Heimischen und Vertrauten divergent<br />
gegenüber und der Schluss liege nahe, etwas habe eben darum eine unheimliche Wirkung,<br />
weil es nicht bekannt und vertraut sei. 28 Von dieser Begriffsdefinition nimmt Freud jedoch im<br />
Folgenden Abstand. Er bestimmt die Konnotation des Wortes schließlich mehr im<br />
Schlegelschen Sinn als all Jenes, das geheim oder verborgen bleiben solle, aber dennoch<br />
hervorgetreten sei. Der Begriff des „Unheimlichen“ stelle nämlich keinen Gegensatz zum<br />
„Heimischen“ dar, sondern gehe vielmehr aus diesem hervor. 29 Daher folgert Freud, dass<br />
„heimlich ein Wort [ist], das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es<br />
endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art<br />
von heimlich.“ 30<br />
Dieser Ansatz der Ambivalenz des Heimatbegriffes, der gleichzeitig „Unheimlichkeit“<br />
respektive „Un-Heimischkeit“ zum Ausdruck bringt, lässt sich auch auf der Hegelschen<br />
Ästhetik basierend aufbauen. „Das Fremde tritt in seinem verhüllenden Dunkel der<br />
aufgehellten und normativen Schönheit [...] als etwas Bedrohliches, sie in ihren Grenzen<br />
irritierendes gegenüber. Zugleich differiert es von der verlockenden Ferne: der<br />
Verunendlichung des Fremden im Fernen, wo das Fremde seinen Schrecken verliert und sich<br />
mit dem Absoluten berührt,“ 31 sich Fremdes und Bekanntes assimilieren. Diese Vorstellungen<br />
27 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236.<br />
28 Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 231.<br />
29 Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 236.<br />
30 Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 237.<br />
31 Zitiert nach: Zenck, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 141.