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münchen - Münchner Stadtmuseum

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Budget ein Jahr lang auf Spurensuche begeben hat,<br />

wie er sich auf filmisches Vagabundentum eingelassen<br />

hat und welche Reichtümer er dabei entdeckte. Provokant<br />

behauptet ein Kinobesucher, dieses Bild der<br />

»Gitanes« in LATCHO DROM entspräche nicht mehr der<br />

Realität: Heute seien die Roma fast alle durch ihre<br />

Armut verwahrlost und dreckig. Tony Gatlif erwidert vehement,<br />

die armseligen Hütten der rumänischen Roma<br />

seien noch viel sauberer und schöner als er sie habe<br />

zeigen können. Er habe Roma, die hungerten, denen<br />

die Kinder weggenommen worden waren, denen ver -<br />

boten worden war, ihre Sprache zu sprechen, in ihrer<br />

Würde erleben können. Er erlebe bei den Tsiganes<br />

mehr Menschlichkeit und Lebensfreude als bei jedem<br />

anderen Volk, und bei keinem so viel Streben nach Unabhängigkeit<br />

und Freiheit.<br />

Tony Gatlifs Filme rühren an Dinge, die keiner hören<br />

oder sehen will. Und sie beziehen sich alle auf die<br />

Frage von Glück und Herrschaftslosigkeit. In ihnen spiegeln<br />

sich viele autobiografische Erfahrungen. Gatlif<br />

wurde 1948 in Algier geboren, sein Vater ist Araber,<br />

seine Mutter kommt aus einer Familie andalusischer<br />

Gitanos. Sein Weg stand, wie er sagt, unter einem<br />

guten Stern. Einem Lehrer gelingt es, ihn von der<br />

Straße zu holen und sein Interesse für Film zu wecken.<br />

Als Schuljunge bekommt er 16mm-Kopien der Filme<br />

von Jean Vigo, Jean Renoir, John Ford und Charlie Chaplin<br />

zu sehen, die seine kinematografische Erziehung<br />

sind. Um einer Zwangsheirat zu entgehen, verlässt er<br />

dann doch seine Familie und landet in Marseille, bis<br />

sein Leben als Straßenjunge in einem Erziehungsheim<br />

in der Nähe von Paris endet. Von da an ergreift er jede<br />

Chance, die sich ihm bietet: Mit Hilfe von Michel Simon<br />

bewirbt er sich an einer Theaterakademie, lernt Texte<br />

nach Gehör, weil er kaum lesen und schreiben kann,<br />

und arbeitet als Schauspieler mit Gérard Depardieu. In<br />

den 1970er Jahren beginnt er, Drehbücher zu verfassen<br />

und Kurzfilme zu drehen. Er sagt: »Ich bin Gitano,<br />

trotz aller Verfolgung, trotz Zurückweisung. Ich existiere.«<br />

1983 dreht Gatlif seinen ersten eigenen Spielfilm LES<br />

PRINCES. In einem Vorort von Paris, einem grauen, fast<br />

verfallenen »sozialen Brennpunkt« leben sesshaft gemachte<br />

Manouches in großer Armut von Tricksereien<br />

und Ladendiebstählen. Da entscheidet sich der Vater,<br />

mit Tochter und Großmutter wieder auf die Reise zu<br />

gehen. Es gibt im Film Szenen, in denen uns Gatlif den<br />

Spiegel vorhält: Eine Journalistin fragt flirtend nach der<br />

geheimnisvollen Herkunft der Manouches und bekommt<br />

zur Antwort, dies sei ein Pariser Slum. Ein Pärchen<br />

mit Auto und Wohnwagen lichtet die hungernd<br />

und frierend am Straßenrand sitzenden Exoten nach<br />

dem Motto »Elend ist fotogen« ab, so wie die unzäh -<br />

ligen Touristen in Saintes-Maries-de-la-Mer, die die<br />

Wallfahrten der Sinti und Manouches fotografieren, sie<br />

aber nicht als Nachbarn haben wollen. Gatlif gelingt es,<br />

mit LES PRINCES einen Film gegen den Strich zu machen:<br />

Es ist der erste Film nach dem Krieg, wahrscheinlich<br />

der erste Film überhaupt, der konsequent<br />

die Perspektive der Manouches einnimmt. Es ist kein<br />

Film für besserwisserische Sozialarbeiter, für Politiker,<br />

für manche Romafreunde, die mit staatlicher Hilfe von<br />

»Assimilation und Integration« schwafeln.<br />

Noch weitaus radikaler ist GADJO DILO (1997), ein Film<br />

über Roma in der Walachei, dem Norden Rumäniens.<br />

Die Dorfbevölkerung zerstört die Hütten der Großfamilie<br />

und setzt sie in Brand, wohl eine Anspielung auf das<br />

Pogrom von Hadareni im Jahr 1993 in der Provinz<br />

Targu. Der persönliche Konflikt zweier Männer eskalierte,<br />

bis die Dorfbevölkerung zur Lynchjustiz überging,<br />

die Häuser der Roma in Brand setzte und ein Mann den<br />

Tod fand. Ein Gadjo Dilo, ein verrückter Fremder, ist auf<br />

der Suche nach einer mysteriösen Sängerin, deren Lied<br />

er den vielen Musikern, die er aufsucht, auf seinem<br />

Kassettenrecorder vorspielt. Langsam beginnt der<br />

Fremde, sich den rumänischen Roma und ihrer Lebensweise<br />

zu nähern. Wir werden zu Zeugen realer Begebenheiten:<br />

der Hochzeit einer reichen Familie mit<br />

einer Braut, geschmückt mit schweren Goldmünzen,<br />

der musikalischen Virtuosität zahlreicher Roma und der<br />

Totenklage von Sängern und Musikern um einen alten<br />

Freund. Der verrückte Fremde erlebt das Unrecht, das<br />

der Romagemeinschaft widerfährt. Am Ende empfindet<br />

er seine Tonbandaufnahmen als Diebstahl an deren<br />

Kultur und vernichtet sie.<br />

Im Jahr 2000 dreht Gatlif mit andalusischen Gitanos<br />

VENGO, ein Familiendrama, eine Innenansicht der Welt,<br />

aus der seine Mutter stammt. Gatlif betont, es sei kein<br />

Film über Flamenco, sondern ein Flamencofilm. Auch<br />

SWING (2002) ist ein Musikfilm, mit dem großen Sintimusiker<br />

Tchavolo Schmitt, mit nordafrikanischen und<br />

jüdischen Musikern, mit Profis und mit Laien. Wie der<br />

von Moholy-Nagy 1930 aufgenommene Film von Sinti<br />

in der Berliner Müllerstraße zeigt auch VENGO Tanzende<br />

und Singende. Aber es ist nicht der Blick von<br />

außen auf das Fremde. Gatlif öffnet uns die Augen, gewährt<br />

uns einen Zugang zu einer anderen Welt, zu<br />

einer anderen Kultur. Der brennende Wohnwagen eines<br />

verstorbenen Sintimusikers hat eine andere Bedeutung<br />

als ein von der Dorfbevölkerung angezündeter.<br />

Gatlifs letzter Film zur Thematik des Roma-Volkes ist<br />

KORKORO (2009). Er schildert das Schicksal einer Fa-<br />

Tony Gatlif<br />

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