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Frauen im Umbruch der Arbeit - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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336 Ruth Rehmann<br />

aufgeschlagen. Nun läßt er seinen Schmerz heraus, aber nicht als Schmerz, Trauer,<br />

Enttäuschung - Gefühle die verstanden, geteilt und mitgelitten werden könnten-,<br />

son<strong>der</strong>n als bitteren Spott, <strong>der</strong> wie ein Kälteschock in die Zuhörer hineinfährt.<br />

Das hatten sie nicht erwartet. Sie sind ja die Gutwilligen, Verständnisvollen,<br />

Hilfreichen, die jahrelang Päckchen an die Brü<strong>der</strong> und Schwestern gesandt<br />

haben, Hilfsaktionen organisiert, Besuche gemacht, Partnergemeinden unterstützt,<br />

die ganz <strong>im</strong> stillen nicht gerade Belohnung erwarten, aber doch Anerkennung<br />

- ein bißchen Dankbarkeit. Seine St<strong>im</strong>me tut ihnen weh. Wenn er von einer<br />

gelungenen Co-Produktion zwischen Westfernsehen und Demonstranten<br />

spricht, von DM-Schwindel und gebrochenen Versprechen, überzieht ein Grauschleier<br />

die schönen Bil<strong>der</strong>, die sie Abend <strong>für</strong> Abend gesehen haben: Strahlende<br />

Gesichter, Umarmungen, Jubel, zusammenbrechende Mauern - das Gefühl, auf<br />

<strong>der</strong> richtige Seite zu sein, das Richtige gedacht, gehofft, getan zu haben.<br />

Unruhe wird spürbar, Blicke hinüber, herüber, unwilliges Geflüster. Merkt er<br />

das nicht? Will er's nicht merken? Was will er überhaupt? An Sympathiewerbung<br />

und St<strong>im</strong>menfang liegt ihm offenbar nichts. Er ist schließlich kein Politiker mehr,<br />

son<strong>der</strong>n doch und wie<strong>der</strong> Pfarrer, einer, <strong>der</strong> die Wahrheit sagen will, und weil<br />

die Wahrheit seiner Wirklichkeit bitter ist, spricht er .sie bitter aus, und weil er<br />

persönlich verletzt ist, wehrt er sich mit Verletzungen. Das ist sein gutes Recht,<br />

nur die, die ihin zuhören sind nicht diejenigen, die ihn verletzt haben.<br />

Nun steht ein älterer Herr auf und spricht von historischen Zwängen, maro<strong>der</strong><br />

Wirtschaft, <strong>im</strong>mensen Hilfsleistungen des Westens, von Anspruchsdenken,<br />

Undankbarkeit, Lethargie <strong>im</strong> Osten. Auch er will nur die Wahrheit seiner Wirklichkeit<br />

sagen - sein gutes Recht -, und während er spricht und Schorlemmer<br />

antwortet, spüre ich, wie die Klischees in den Köpfen zusammenwachsen und<br />

hart werden, zwischen ihnen die Mauer, die die Wahrheiten trennt, so daß die<br />

eine die an<strong>der</strong>e nicht sehen kann: Die undankbaren, ewig nörgelnden, for<strong>der</strong>nden<br />

Ossis - die selbstzufriedenen, besserwissenden, <strong>im</strong> Wohlstand strotzenden<br />

Wessis - ein Körnchen Wahrheit in beiden, aber nicht so viel davon, daß es nicht<br />

an<strong>der</strong>s hätte sein o<strong>der</strong> werden können ... ( ... )<br />

Es ist Winter geworden. Berlin Ost und West versinken <strong>im</strong> Einheitsgrau.<br />

Deutschland ist wie<strong>der</strong> vereint, <strong>der</strong> Beitritt nach Art. 23 GG vollzogen. Run<strong>der</strong><br />

Tisch, Verfassungsentwurf, Plebiszitdiskussion, Artikel 146 GG sind schon vergessen.<br />

Vom eigenen Weg zur Demokratie, von ökologischer Weichenstellung,<br />

von <strong>der</strong> Vermeidung <strong>der</strong> bekannten Entwicklungsfehler redet kein Mensch mehr.<br />

Das Ozonloch wächst, die Bäume sterben. Der Zug ist abgefahren - alte Richtung,<br />

alte Signale. Die Propheten dreh'n sich <strong>im</strong> Fahrtwind.<br />

Ich bemerke, daß mein Interesse an Informationen nachläßt. In meinem Z<strong>im</strong>mer<br />

in <strong>der</strong> WG häufen sich die angelesenen Zeitungen, die zur gründlichen Lektüre<br />

zurückgelegt sind. Aber die gründliche Lektüre findet nicht statt. Schon<br />

be<strong>im</strong> Anblick <strong>der</strong> Schlagzeilen empfinde ich eine Art mentalen Brechreiz, als<br />

ginge ich, winzige Häppchen kostend, an einem überladenen Festbuffet entlang<br />

und nähme mit jedem Mundvoll vom Krabbencocktail bis zum Dessert den<br />

gleichen nie<strong>der</strong>trächtigen Trangeschmack wahr.<br />

Während ich die Zeitungen in den Container beför<strong>der</strong>e, kommen mir Worte in<br />

den Sinn, die ich in meiner Schulzeit vor einem halben Jahrhun<strong>der</strong>t gelesen und

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