Zur Entwicklung der Einheitsschulidee – Konsequenzen ... - Die Linke
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<strong>Zur</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> <strong>–</strong> <strong>Konsequenzen</strong> für die<br />
Bildungspolitik <strong>der</strong> Partei DIE LINKE<br />
Günter Wilms<br />
Referat auf <strong>der</strong> Bildungspolitischen Konferenz in Hamburg am 25. November 2007<br />
Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich erstmalig mit dem<br />
Problem einer Schule konfrontiert wurde, in <strong>der</strong> alle Schüler gemeinsam vom ersten<br />
bis zum achten Schuljahr lernen. Das war am 12. Dezember 1945, als wir<br />
Teilnehmer an einer sog. Laienlehrerprüfung gefragt wurden, wie <strong>der</strong> Unterricht in<br />
einer solchen Schule gestaltet sein müsste und wovon <strong>der</strong> Unterrichtserfolg<br />
abhänge.<br />
Wenig später, im Mai 1946, wurde in <strong>der</strong> Sowjetischen Besatzungszone das Gesetz<br />
zur Demokratisierung <strong>der</strong> deutschen Schule verabschiedet, in dem es heißt: „<strong>Die</strong><br />
demokratische Einheitsschule umfasst die gesamte Erziehung vom Kin<strong>der</strong>garten bis<br />
zur Hochschule.“ <strong>Die</strong> achtjährige für alle Kin<strong>der</strong> gemeinsame Grundschule ist<br />
grundlegen<strong>der</strong> Bestandteil dieser Einheitsschule.<br />
<strong>Die</strong> kommenden Wochen und Monate waren wir Lehrerinnen und Lehrer damit<br />
beschäftigt, neben unserem eigenen Unterricht und <strong>der</strong> Erledigung an<strong>der</strong>er<br />
pädagogischer Aufgaben in den Dörfern und Städten unseres Kreises den Eltern und<br />
überhaupt den Bürgern diese neue Schule vorzustellen und ihnen die <strong>der</strong><br />
Einheitsschule zugrunde liegenden schulpolitischen und pädagogischen Ideen zu<br />
erläutern. Unser eigenes Wissen darüber war nicht gerade groß und eigentlich<br />
unzureichend, aber im Prozess <strong>der</strong> Diskussion und vor allem in <strong>der</strong><br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zweifelnden und z.T. auch deutlich ablehnenden<br />
Äußerungen lernten wir und wurden von Veranstaltung zu Veranstaltung sicherer.<br />
Als zentrale Ideen <strong>der</strong> Einheitsschule hoben wir hervor:<br />
Das Bildungsprivileg <strong>der</strong> alten bürgerlichen Gesellschaft, das <strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
des Volkes eine höhere Bildung vorenthielt, soll überwunden werden.<br />
Jedem jungen Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, die Bildung zu<br />
erwerben, auf die er nach Anlage, Fähigkeit und Neigung Anspruch erheben kann;<br />
je<strong>der</strong> Einzelne hat das Recht auf volle <strong>Entwicklung</strong> aller in ihm angelegten Kräfte, auf<br />
<strong>Entwicklung</strong> seiner Persönlichkeit.<br />
Alle Kin<strong>der</strong> sollen unabhängig von sozialer Herkunft und Religion eine solide<br />
Grundbildung erwerben können -. das schloss damals ganz beson<strong>der</strong>s die Kin<strong>der</strong><br />
aus Umsiedler- und Flüchtlingsfamilien aus den Ostgebieten ein.<br />
In <strong>der</strong> Einheitsschule gilt das Prinzip <strong>der</strong> Koedukation: Mädchen und Jungen werden<br />
gemeinsam in einer Klasse unterrichtet.<br />
Alle Kin<strong>der</strong> sollen eine naturwissenschaftliche- und fremdsprachige Ausbildung<br />
erhalten, überhaupt ab Klasse 5 einen wissenschaftlich fundierten Fachunterricht.<br />
1
Bisherige Sackgassen im Bildungsgang von Schülern, die einen Aufstieg zu höherer<br />
Bildung verhin<strong>der</strong>n, werden abgeschafft.<br />
Private Schulen werden aufgelöst, da sie dem Prinzip <strong>der</strong> gemeinsamen Bildung aller<br />
Kin<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprechen und eine einseitige Bevorzugung einer kleinen finanziell<br />
starken Gruppe von Bürgern bedeuten.<br />
Mit diesen wenigen Stichworten aus dem Jahr 1946 sind <strong>–</strong> konfrontiert mit den<br />
heutigen Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>–</strong> schon wesentliche Elemente <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong><br />
charakterisiert. Ich betone <strong>Einheitsschulidee</strong>, denn auf diesen Elementen basiert<br />
nicht nur die demokratische Einheitsschule, wie sie 1945/46 in <strong>der</strong> Sowjetischen<br />
Besatzungszone entstand, son<strong>der</strong>n z.B. auch das Berliner Schulmodell von 1947/48<br />
o<strong>der</strong> auch die Schulreformbestrebungen in den westlichen Besatzungszonen in <strong>der</strong><br />
gleichen Zeit. Auch die Gesamtschulbewegung begründete später ihre Vorschläge<br />
zur <strong>Entwicklung</strong> und inneren Gestaltung von Gesamtschulen mit ähnlichen und z.T.<br />
gleichen Argumenten.<br />
<strong>Die</strong> aktuellen For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und des<br />
Gesamtschulverbandes nach einer gemeinsamen Schule für alle und die dafür<br />
vorgetragenen Begründungen knüpfen ebenfalls an jene Positionen an, die nach<br />
1945 die Einheitsschuldebatte in beiden Teilen Deutschlands <strong>–</strong> und auch in vielen<br />
an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n Europas <strong>–</strong> charakterisierten.<br />
Nicht zuletzt standen diese Positionen auch bei dem Konzept für Inhalt und<br />
Gestaltung von Gemeinschaftsschulen in den Bildungspolitischen Leitlinien <strong>der</strong> PDS<br />
von Weimar 2005 und bei dem Vorschlag <strong>der</strong> Linkspartei/PDS zum längeren<br />
gemeinsamen Lernen in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule Pate. Dabei gilt es zu beachten,<br />
dass die Bezeichnung „Gemeinschaftsschule“ in Vergangenheit und Gegenwart mit<br />
unterschiedlichem Inhalt gebraucht wurde und wird, z.B. als Schule, in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
verschiedener Konfessionen (katholisch, evangelisch) gemeinsam unterrichtet<br />
werden. Derzeit wird die Bezeichnung „Gemeinschaftsschule“ in verschiedenen<br />
Vorschlägen <strong>der</strong> SPD und z.T. auch praktischen Schritten in einzelnen<br />
Bundeslän<strong>der</strong>n für eine Schule verwandt, die lediglich <strong>–</strong> bei Beibehaltung einer<br />
beson<strong>der</strong>en gymnasialen Schule ab Klasse 5 <strong>–</strong> Haupt- und Realschüler gemeinsam<br />
unterrichten will und damit das dreigliedrige Schulsystem real verfestigt, also keinen<br />
Schritt in Richtung <strong>der</strong> „Einen Schule für alle“ darstellt. Daraus folgt die dringende<br />
Notwendigkeit, unser Konzept von <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule inhaltlich, pädagogisch,<br />
didaktisch und strukturell weiter gründlich auszuarbeiten und mögliche Wege und<br />
Zwischenschritte für seine Verwirklichung zu prüfen.<br />
Wenn ich deshalb in diesem Referat über die <strong>Einheitsschulidee</strong> spreche, ist das nicht<br />
ein Plädoyer für eine bestimmte Schulform <strong>–</strong> zumal mir bewusst ist, dass die Begriffe<br />
„Einheitsschule“ wie auch „Gemeinschaftsschule“ umstritten sind - , son<strong>der</strong>n für ein<br />
schulpolitisches und pädagogisches Prinzip <strong>der</strong> Gestaltung des Bildungswesens<br />
überhaupt, von <strong>der</strong> frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung bis zur<br />
Hochschule und Weiterbildung.<br />
Alle hier bisher skizzierten und an<strong>der</strong>e schul- und bildungstheoretischen<br />
Diskussionen und Aktivitäten trugen zugleich dazu bei, die bildungstheoretischen,<br />
2
schulpolitischen und pädagogischen Grundpositionen <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> weiter zu<br />
fundieren.<br />
Exkurs zur historisch-pädagogischen und historisch-bildungspolitischen<br />
<strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong><br />
Das Herangehen an eine grundlegende demokratische Bildungsreform <strong>–</strong> und darum<br />
geht es mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Partei DIE LINKE nach einem Bildungssystem mit<br />
einer integrativen Schule, eben <strong>der</strong> „Gemeinschaftsschule“, - erfor<strong>der</strong>t neben <strong>der</strong><br />
Analyse <strong>der</strong> konkreten, aktuellen Situation, <strong>der</strong> konkreten Bedingungen und des<br />
politischen Kräfteverhältnisses, dem Vergleich mit den Erfahrungen an<strong>der</strong>er Län<strong>der</strong><br />
und <strong>der</strong> Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie <strong>der</strong> umfassenden<br />
Einbeziehung aller Beteiligten nicht zuletzt auch die Auswertung historischer<br />
Erfahrungen und <strong>Entwicklung</strong>en einschließlich gewachsener Traditionen. Ein Blick in<br />
die Geschichte des Bildungswesens und <strong>der</strong> Pädagogik macht deutlich, dass die<br />
For<strong>der</strong>ung nach Bildung für alle Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen und die darauf basierende<br />
<strong>Einheitsschulidee</strong> tief in den pädagogischen und bildungspolitischen Auffassungen<br />
progressiver pädagogischer und philosophischer Denker <strong>der</strong> vergangenen<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te, in <strong>der</strong> sich im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelnden Lehrerbewegung und vor<br />
allem in <strong>der</strong> Arbeiterbewegung verankert ist. <strong>Die</strong>se Quellen zu erschließen und dabei<br />
Anregungen zu gewinnen für aktuelles schul- und bildungspolitisches Handeln linker<br />
politischer Kräfte in unserem Land, darf nicht gering geschätzt werden <strong>–</strong> vor allem,<br />
darf nicht versäumt werden.<br />
Einige Fakten mögen das belegen:<br />
Wolfgang Ratke und Jan Amos Komensky engagieren sich in <strong>der</strong> ersten Hälfte des<br />
17 Jahrhun<strong>der</strong>ts für eine universelle Menschenbildung. Pestalozzi erstrebte ein<br />
einheitliches Erziehungssystem, die freie, ungehin<strong>der</strong>te <strong>Entwicklung</strong> aller im<br />
Menschen schlummernden Kräfte und Anlagen über alle Schranken des Standes<br />
hinweg. Wilhelm von Humboldt, Johann Gottfried Her<strong>der</strong> und viele ihrer<br />
Zeitgenossen und Mitstreiter gehen davon aus, dass die Bildungsperiode bis zu<br />
Beginn <strong>der</strong> Berufsausbildung einen für alle im Prinzip gleichen allgemeinbildenden<br />
Inhalt und Charakter ausmachen soll. Humboldts Plan ging nicht zuerst von<br />
bildungsorganisatorischen Prinzipien aus, vielmehr von einer Bildungsidee, die <strong>der</strong><br />
Aufeinan<strong>der</strong>folge wesentlicher Stufungen in <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung folgt.<br />
Friedrich Wilhelm Wan<strong>der</strong> wollte ein einheitliches, nationales, weltliches, staatlich<br />
beaufsichtigtes und geleitetes Bildungswesen.<br />
Mit ihm for<strong>der</strong>ten in den Tagen <strong>der</strong> deutschen Revolution von 1848/49 viele deutsche<br />
Lehrer den Aufbau einer demokratischen deutschen Einheitsschule. <strong>Die</strong> erste<br />
allgemeine deutsche Lehrerversammlung 1848 in Eisenach formulierte die<br />
For<strong>der</strong>ung nach einem einheitlichen Aufbau des Bildungswesens vom Kin<strong>der</strong>garten<br />
bis zur Hochschule; damit verdeutlichte die deutsche Lehrerschaft ihren Standort und<br />
ihren Standpunkt in den revolutionären Kämpfen <strong>der</strong> Jahre 1848/49. Auf zahlreichen<br />
Lehrerversammlungen wurde in Vorträgen und Leitsätzen immer wie<strong>der</strong> die<br />
For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> deutschen Einheitsschule gestellt. Hervorzuheben ist hier die<br />
gesamtdeutsche Lehrerversammlung 1914 in Kiel. Sie verabschiedete eine<br />
Entschließung mit dem folgenden Text:<br />
3
„<strong>Die</strong> deutsche Lehrerversammlung for<strong>der</strong>t in Übereinstimmung mit den Ausführungen<br />
des Vortragenden (das war Georg Kerschensteiner) die organisch geglie<strong>der</strong>te<br />
nationale Einheitsschule, die einen einheitlichen Lehrerstand zur notwendigen<br />
Voraussetzung hat und in <strong>der</strong> jede Trennung nach sozialen und<br />
konfessionellen Rücksichten beseitigt ist.“<br />
Einer <strong>der</strong> Vorkämpfer für die Einheitsschule. Johannes Tews, Generalsekretär des<br />
deutschen Lehrervereins, betonte ausdrücklich:<br />
„Es darf, wie nur eine Schule, auch nur einen Lehrerstand geben, <strong>der</strong> sich allerdings<br />
vielfach glie<strong>der</strong>t nach den Bildungsstufen.“<br />
An die Seite <strong>der</strong> Lehrerschaft in ihrem Kampf um die soziale demokratische<br />
Einheitsschule stellte sich die politisch organisierte deutsche Arbeiterschaft, die<br />
damals durch die Sozialdemokratische Partei repräsentiert wurde. Ihr „Fachmann“<br />
Heinrich Schulz und Clara Zetkin begründeten auf dem Mannheimer Parteitag 1906<br />
das Schulprogramm <strong>der</strong> Partei. Es ging weit über die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Lehrerschaft<br />
hinaus und stellte die Erziehungsfragen hinein in den großen gesellschaftlichen<br />
Zusammenhang. Einige Stichworte aus dem Programm sollen das verdeutlichen:<br />
Das Kind muss als werdendes Glied <strong>der</strong> sozialen Gemeinschaft freier Arbeiter<br />
verstanden werden<br />
Alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten müssen zu möglichst hoher Vollendung<br />
entwickelt werden.<br />
Der Gegensatz zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen Theorie und Praxis, muss<br />
überwunden werden.<br />
Arbeit ist die Grundlager für die Erziehung in <strong>der</strong> sozialistischen Zukunft.<br />
Öffentliche Erziehung ist eine <strong>der</strong> wichtigsten sozialen Aufgaben.<br />
Organische Anglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> höheren an die nie<strong>der</strong>en Bildungsanstalten.<br />
Unentgeltlichkeit des Unterrichts, <strong>der</strong> Lehrmittel und <strong>der</strong> Verpflegung <strong>der</strong> Schüler.<br />
Mitwirkung <strong>der</strong> Eltern und <strong>der</strong> Lehrerschaft bei <strong>der</strong> Schulverwaltung.<br />
Errichtung von Kin<strong>der</strong>gärten und von Fortbildungsanstalten für die schulentlassene<br />
Jugend.<br />
Materielle und soziale Hebung <strong>der</strong> Lage <strong>der</strong> Lehrer und Lehrerinnen,<br />
Universitätsausbildung für sämtliche Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen.<br />
Der Mannheimer Parteitag <strong>der</strong> SPD war mit seinem Schulprogramm Ausgangspunkt<br />
und Einleitung des großen schulpolitischen Kampfes <strong>der</strong> Arbeiterschaft. <strong>Die</strong> Schulund<br />
Erziehungsfragen bildeten von da an einen wesentlichen Bestandteil des<br />
politischen Kampfes <strong>der</strong> klassenbewussten Arbeiterschaft.<br />
4
Nach dem 1. Weltkrieg wurden die Bestimmungen in <strong>der</strong> Weimarer Verfassung<br />
von 1919 Grundlage für die <strong>Entwicklung</strong> des Bildungswesens. Im § 146 heißt es:<br />
„... auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere<br />
Schulwesen auf.“ <strong>Die</strong> Vorstellungen darüber, wie viele Jahre die „gemeinsame<br />
Grundschule“ umfassen soll, waren unter den politisch aktiven Kräften extrem<br />
unterschiedlich. <strong>Die</strong> Reichsschulkonferenz vom Juni 1920, <strong>der</strong>en maßgeblicher<br />
Organisator <strong>der</strong> vorhin genannte Heinrich Schulz war, konnte sich auf Grund des<br />
starken Wi<strong>der</strong>standes <strong>der</strong> konservativen Kräfte nur auf eine vierjährige<br />
gemeinsame Grundschule einigen. Das ist <strong>der</strong> sog. „Weimarer<br />
Schulkompromiss“, unter dem das Bildungswesen in Deutschland noch heute zu<br />
leiden hat. Er wurde nicht stillschweigend hingenommen. Nicht wenige<br />
Pädagogen und Wissenschaftler, verschiedene linke politische Kräfte engagierten<br />
sich für seine Überwindung. <strong>Die</strong> schulpolitisch progressivste Richtung war<br />
zweifellos <strong>der</strong> „Bund entschiedener Schulreformer“ mit seinem Vorsitzenden Paul<br />
Östreich. Er wollte eine elastische Einheitsschule, gerichtet auf totale<br />
Menschenbildung, die als Lebensschule, als Produktionsschule charakterisiert<br />
wurde. Um eine solche Schule Wirklichkeit werden zu lassen, seien erfor<strong>der</strong>lich:<br />
die Einheitlichkeit bei persönlichkeitsför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Differenzierung <strong>der</strong><br />
Bildungswege,<br />
die konsequente Weltlichkeit <strong>der</strong> Schule,<br />
die Unentgeltlichkeit und Staatlichkeit des Bildungswesens und<br />
die Demokratisierung <strong>der</strong> Verwaltung des Bildungswesens.<br />
<strong>Die</strong> dargestellten historischen Fakten rufen eine Vielfalt von Assoziationen zu<br />
aktuellen For<strong>der</strong>ungen hervor. Sie machen deutlich, auf welchem wertvollen Erbe wir<br />
aufbauen können und for<strong>der</strong>n zum Nachdenken und zu <strong>Konsequenzen</strong> für das<br />
heutige Tun heraus.<br />
Erfahrungen aus <strong>der</strong> schulpolitischen <strong>Entwicklung</strong> in Europa nach dem 2.<br />
Weltkrieg und darin eingeordnet <strong>der</strong> <strong>Entwicklung</strong> in den beiden deutschen<br />
Teilstaaten.<br />
In fast allen Län<strong>der</strong>n Europas entwickeln sich nach <strong>der</strong> Zerschlagung des<br />
Faschismus <strong>–</strong> eingeordnet in die Prozesse einer gewiss unterschiedlich<br />
interpretierten und praktizierten allgemeinen Demokratisierung <strong>–</strong><br />
Einheitsschulsysteme. Demokratisierung verlangte auf bildungspolitischem Gebiet<br />
gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle und hohe Bildung für alle, nicht zuletzt als eine<br />
<strong>der</strong> notwendigen Voraussetzungen für die reale, aktive Teilnahme <strong>der</strong> Bürgerinnen<br />
und Bürger an politischen und kulturellen Prozessen. Unmittelbar bildungstheoretisch<br />
und bildungspraktisch verlangten sie die Überwindung des überkommenen<br />
Bildungsdualismus, ein einheitliches und ausgewogenes inhaltliches<br />
Bildungskonzept mit <strong>der</strong> Möglichkeit, <strong>der</strong> Vielfältigkeit in <strong>der</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong><br />
Heranwachsenden gerecht zu werden sowie eine breite gemeinsame<br />
Grundlagenbildung für alle später verschiedenen Ausbildung- und Lebenswege zu<br />
gewährleisten. Schul- und bildungsstrukturell stand also die Realisierung <strong>der</strong> Idee<br />
5
eines Einheitsschulsystems mit entsprechenden Differenzierungen auf <strong>der</strong><br />
historischen Tagesordnung.<br />
In allen Län<strong>der</strong>n, außer <strong>der</strong> BRD, Österreichs und einem Teil <strong>der</strong> Schweiz, wird <strong>der</strong><br />
Übergang von dualistischen bzw. vertikal mehrgliedrigen Schulsystemen mit einer<br />
frühen Auslese und Festlegung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf verschiedene Bildungswege<br />
unterschiedlicher Dauer hin zu einer gemeinsamen Schule vollzogen. Bei aller<br />
europäischen Vielfalt lässt sich in den Konzepten und <strong>–</strong> mit Einschränkungen <strong>–</strong> auch<br />
in den realen Prozessen die Tendenz zu folgenden allgemeinen Wesenszügen<br />
erkennen:<br />
• Es wird eine frühe Selektion in verschiedene Bildungswege ausgeschlossen,<br />
die sich auf die überholte Auffassung stützt, dass diese bestimmten<br />
Begabungstypen entsprächen, die ihrerseits konstant und frühzeitig erkennbar<br />
seien. In den sich entwickelnden Gesamtschulsystemen wird davon<br />
ausgegangen, dass es eine große Vielzahl von Begabungsprofilen gibt, <strong>der</strong>en<br />
<strong>Entwicklung</strong> nicht zuletzt von schulischen Angeboten, Motivierungen und<br />
Einwirkungen abhängig und langzeitig verän<strong>der</strong>lich ist.<br />
• Was angestrebt wird, ist betont keine Schule <strong>der</strong> Gleichförmigkeit, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Mannigfaltigkeit, die sich sowohl gegen die verschiedenen<br />
„Zwangsjacken“ voneinan<strong>der</strong> getrennter Schulformen mit ihren jeweiligen<br />
Einengungen <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung richtet als auch gegen<br />
Gleichmacherei und Uniformität. Es geht ihr um die <strong>Entwicklung</strong> eines jeden<br />
gemäß seinem individuellen <strong>Entwicklung</strong>srhythmus und gemäß den jeweils<br />
geeigneten Zugangsweisen <strong>der</strong> Bildungsgüter und Tätigkeitsfel<strong>der</strong>.<br />
• <strong>Die</strong> Kin<strong>der</strong> sollen so lange wie möglich in heterogenen Klassen gemeinsam<br />
lernen. <strong>Die</strong> Bildungswegentscheidungen, die auf Neigung und Leistung, auf<br />
Selbsterprobung und Beratung beruhen, bleiben möglichst lange offen.<br />
<strong>Die</strong> internationalen Erfahrungen haben gezeigt, dass die genannten Aufgaben<br />
erst voll gelöst werden können, wenn ein flächendeckendes Gesamtschulsystem<br />
entsteht, welches das vertikal geglie<strong>der</strong>te ablöst. Ihre Erfüllung wird (meist sehr<br />
stark) beeinträchtigt, wenn einzelne Gesamtschulen neben an<strong>der</strong>en vertikal<br />
geglie<strong>der</strong>ten Schulformen bestehen.<br />
• <strong>Die</strong> internationale Tendenz scheint <strong>–</strong> auch angesichts <strong>der</strong> wachsenden<br />
Bedeutung permanenter Bildung und <strong>der</strong> Akzelerationsprozesse in <strong>der</strong> jungen<br />
Generation <strong>–</strong> auf eine kindgemäße integrierte gemeinsame Schule bis zu<br />
einem Alter von etwa 15/16 Jahren hinzugehen, <strong>der</strong> eine jugendgemäße und<br />
mehr additive Stufe folgt, die in verschiedener Weise allgemeine und spezielle<br />
(berufliche) Bildung o<strong>der</strong> Lernen und Arbeiten kombiniert.<br />
• Im Ergebnis dieser neuen Sicht auf die <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendlichen und auf die Bildungsziele, auf bessere Bildungschancen für<br />
alle, entwickelte sich auch ein an<strong>der</strong>er, neuer pädagogisch-methodischer<br />
Arbeitsstil. Dabei haben die soziale Erziehung und die „Schuldemokratie“<br />
einen hohen Stellenwert erhalten. Deshalb ist die Gesamtschulentwicklung<br />
auch meist mit Bestrebungen zur ganztägigen und mit ihrer Umwelt<br />
verbundenen Schule verknüpft und will Nachbarschafts-. und Gemeindeschule<br />
sein.<br />
6
Eigentlich geht es nicht nur um eine ganz an<strong>der</strong>e Schulform als in dem alten<br />
System, son<strong>der</strong>n insgesamt um ein neues pädagogisches Konzept, in dem<br />
dem Kind mehr als Subjekt seiner <strong>Entwicklung</strong> begegnet, seine Aktivität<br />
stärker geför<strong>der</strong>t und <strong>der</strong> Kräftebildung mehr Gewicht verschafft wird.<br />
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX<br />
Auch in Deutschland, sowohl in <strong>der</strong> sowjetischen wie in die westlichen<br />
Besatzungszonen, gab es nach <strong>der</strong> Zerschlagung des Faschismus Bestrebungen<br />
und Aktivitäten zur <strong>Entwicklung</strong> von Einheitsschulmodellen. Sie waren eingebettet in<br />
die von den Besatzungsmächten gefor<strong>der</strong>te und von progressiven deutschen Kräften<br />
aktiv betriebene Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und in<br />
die vom Potsdamer Abkommen gefor<strong>der</strong>te Erziehung <strong>der</strong> Jugend im Geiste des<br />
Friedens, des Antimilitarismus und Antifaschismus, <strong>der</strong> Völkerversöhnung und<br />
Völkerverständigung. <strong>Die</strong>se Bestrebungen stützten sich auf Erkenntnisse aus den<br />
Kämpfen <strong>der</strong> Arbeiterbewegung und <strong>der</strong> progressiven Lehrerbewegung des 19. und<br />
beginnenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. <strong>Die</strong>se lassen sich in den folgenden Grundsätzen<br />
zusammenfassen:<br />
Einheitlichkeit <strong>der</strong> Schule und des gesamten Bildungswesens<br />
Staatlichkeit des gesamten Bildungswesens<br />
Wissenschaftlichkeit in Inhalt und Gestaltung<br />
Unentgeltlichkeit auf allen Stufen des Bildungswesens<br />
In <strong>der</strong> Sowjetischen Besatzungszone regelten die Län<strong>der</strong>verfassungen von 1946/47:<br />
„<strong>Die</strong> öffentliche Erziehung erfolgt durch eine für Knaben und Mädchen gleiche,<br />
organisch geglie<strong>der</strong>te Einheitsschule mit demokratischem Schulsystem auf <strong>der</strong><br />
Grundlage <strong>der</strong> allgemeinen Schulpflicht.“<br />
In den Gesetzen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> zur Demokratisierung <strong>der</strong> deutschen Schule wird die<br />
achtjährige Grundschule als grundlegen<strong>der</strong> Bestandteil dieser Einheitsschule<br />
charakterisiert.<br />
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, die Direktive Nr. 54 des Alliierten<br />
Kontrollrates vom 25. Juni 1947 zu grundlegenden Richtlinien für die<br />
Demokratisierung des Bildungswesens in Deutschland zu lesen. Dort heißt es in<br />
Punkt 4:<br />
„<strong>Die</strong> Pflichtschulen sollen ein zusammenhängendes (comprehensive) Schulsystem<br />
bilden. <strong>Die</strong> Begiffe „Grundschule“ (elementary education) und „Höhere Schule“<br />
(secondary education) sollen zwei aufeinan<strong>der</strong> folgende Stufen <strong>der</strong> Ausbildung<br />
darstellen, nicht zwei sich überschneidende Ebenen verschiedenen Typs o<strong>der</strong><br />
verschiedener Qualität.“<br />
7
Auch in den westlichen Besatzungszonen gab es in <strong>der</strong> unmittelbaren Nachkriegszeit<br />
Reformansätze, durch die <strong>–</strong> z.T. unter amerikanischem Einfluss <strong>–</strong> das geglie<strong>der</strong>te<br />
Schulsystem in Richtung auf einen gestuften Schulaufbau verän<strong>der</strong>t werden sollte.<br />
Verfassungsrechtliche bzw. schulgesetzliche Bestimmungen einiger Län<strong>der</strong> weisen<br />
in eine solche Richtung.<br />
Zum Beispiel heißt es in <strong>der</strong> Verfassung Hessens vom 1. Dezember 1946, Art. 59:<br />
„...Der Zugang zu den Mittel-, höheren- und Hochschulen ist nur von <strong>der</strong> Eignung<br />
des Schülers abhängig zu machen.“<br />
Das Schulgesetz Hamburgs vom 23. September 1949 bestimmt:<br />
§ 8: <strong>Die</strong> allgemeine Volksschule fasst als Gemeinschaftsschule alle Schulpflichtigen<br />
ohne Unterschied des Bekenntnisses und <strong>der</strong> Weltanschauung zusammen.“<br />
§ 11: <strong>Die</strong> allgemeine Volksschule ist eine Einrichtung <strong>der</strong> Hansestadt Hamburg; sie<br />
glie<strong>der</strong>t sich in<br />
a) die für alle Schulpflichtigen gemeinsame sechsjährige Grundschule und<br />
b) die praktische (3 Jahre), technische (4 Jahre) und wissenschaftliche (7 Jahre)<br />
Oberschule.<br />
Im Zuge <strong>der</strong> Restauration <strong>der</strong> alten gesellschaftlichen Verhältnisse Ende <strong>der</strong> 40er /<br />
Anfang <strong>der</strong> 50er Jahre wurde das Schulwesen <strong>der</strong> Bundesrepublik im Anschluss an<br />
die Organisationsstrukturen <strong>der</strong> Weimarer Zeit wie<strong>der</strong>hergestellt und konsolidiert.<br />
Bereits durchgeführte Reformmaßnahmen wurden wie<strong>der</strong> aufgehoben. So<br />
verkürzten einzelne Bundeslän<strong>der</strong> die gemeinsame Grundschulzeit, die sie auf sechs<br />
Jahre verlängert hatten, um den Zeitpunkt <strong>der</strong> Übergangsauslese hinauszuschieben,<br />
wie<strong>der</strong> auf vier Jahre. 1955 vereinbarten die Bundeslän<strong>der</strong> im Düsseldorfer<br />
Abkommen zur Vereinheitlichung des Schulwesens die Dreigliedrigkeit, also das<br />
Nebeneinan<strong>der</strong> von Volksschule, Mittelschule und Gymnasium, als verbindliche<br />
Grundstruktur.<br />
Erst durch das Hamburger Abkommen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>regierungen von 1964 eröffnete<br />
sich wie<strong>der</strong> die Möglichkeit, Schulversuche mit abweichen<strong>der</strong> Organisationsstruktur<br />
durchzuführen. Damit konnten sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten<br />
Gesamtschulen entwickeln, die ihre Zukunft als „ersetzende“ Schulform verstanden,<br />
und die in ihrer bildungspolitischen Funktion und mit ihren pädagogischen Anliegen<br />
auf <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> fußten und sie schöpferisch zu verwirklichen suchten.<br />
Restriktive Bestimmungen <strong>der</strong> Kultusministerkonferenz zwangen sie allerdings in<br />
das mehrgliedrige System. Hervorragende pädagogische Innovationen,<br />
unterschiedlichste Formen <strong>der</strong> Beachtung und För<strong>der</strong>ung von Interessen und<br />
Neigungen, <strong>der</strong> Differenzierung <strong>der</strong> pädagogischen Arbeit und die Orientierung auf<br />
die Individualität <strong>der</strong> jungen Menschen <strong>–</strong> überhaupt gute pädagogische Arbeit <strong>–</strong><br />
brachten ihnen viel Anerkennung und auch Zuspruch <strong>–</strong> oft mehr Bewerber als<br />
staatlich zugelassen -, konnten aber letztlich die „Zwangsjacke“ bis heute nicht<br />
sprengen.<br />
In <strong>der</strong> Sowjetischen Besatzungszone wurde zielstrebig auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong><br />
Verfassungen und <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>gesetze zur Demokratisierung <strong>der</strong> deutschen Schule<br />
daran gearbeitet, die demokratische Einheitsschule und damit die Überwindung des<br />
alten bürgerlichen Bildungsprivilegs und das Recht auf Bildung für alle Wirklichkeit<br />
werden zu lassen. Damit verbunden waren die Schaffung einer neuen Lehrerschaft<br />
und die Bildung antifaschistisch-demokratischer Schulverwaltungen. Allen Kin<strong>der</strong>n<br />
8
eine einheitliche achtjährige Grundschulausbildung mit naturwissenschaftlichem<br />
Fachunterricht und Unterricht in einer Fremdsprache zu sichern, erfor<strong>der</strong>te in<br />
beson<strong>der</strong>em Maße auch, die Rückständigkeit des Landschulwesens zu überwinden<br />
und allen jungen Menschen nach <strong>der</strong> Schule eine berufliche Ausbildung und den<br />
mehrjährigen Besuch einer Berufsschule zu ermöglichen.<br />
<strong>Die</strong> erste Aufgabe einer Einheitsschulentwicklung, die Überwindung des<br />
Bildungsdualismus in <strong>der</strong> obligatorischen Schulzeit, konnte so in den 40er und frühen<br />
50er Jahren gelöst werden.<br />
<strong>Die</strong> weitere Ausgestaltung <strong>der</strong> demokratischen Einheitsschule begann in den 50er<br />
Jahren mit <strong>der</strong> schrittweisen Verlängerung <strong>der</strong> Pflichtschulzeit von acht auf zehn<br />
Jahre in einer zunächst Mittelschule genannten Schulform. Sie fand ihre umfassende<br />
rechtliche Ausgestaltung im Gesetz über das einheitliche sozialistische<br />
Bildungssystem von 1965. Auf <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> fußend und sie weiterführend<br />
charakterisiert dieses Gesetz erstmalig und bisher einmalig in <strong>der</strong> Geschichte des<br />
deutschen Bildungswesens über alle bisherigen Schranken hinweg die Gesamtheit<br />
<strong>der</strong> staatlichen und auch <strong>der</strong> gesellschaftlichen Bildungseinrichtungen und<br />
Bildungsbestrebungen von <strong>der</strong> frühen Kindheit bis zur Hochschul- und<br />
Erwachsenenbildung einschließlich <strong>der</strong> Aus- und Weiterbildung <strong>der</strong> PädagogInnen in<br />
ihrer inneren Einheit und Kontinuität. Damit wurden Voraussetzungen dafür<br />
geschaffen, die einzelnen Glie<strong>der</strong> des Bildungssystems so zusammenzufügen, dass<br />
sie eine geschlossene, kontinuierliche, in sich abgestimmte Gesamtstruktur bilden.<br />
Deshalb wird vom einheitlichen Bildungssystem gesprochen und nicht von<br />
Einheitsschule. <strong>Die</strong> Pflichtschule für alle Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen wird im Gesetz als<br />
„zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule“ ( kurz: POS )<br />
bezeichnet. Ihr Inhalt <strong>–</strong> die zu erwerbende polytechnischen Charakter tragende<br />
Allgemeinbildung - und ihr pädagogisch-didaktisches Konzept wurden in den<br />
nachfolgenden Jahren in umfassen<strong>der</strong> Gemeinschaftsarbeit von Wissenschaftlern<br />
und Pädagogen bestimmt.<br />
Auch aus heutiger Sicht muss betont werden, dass das Bildungswesen <strong>der</strong> DDR<br />
gute Bedingungen für eine umfassende <strong>Entwicklung</strong> und Bildung aller Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendlichen schuf. Dabei waren gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen, die<br />
allgemeinen Lebens- und <strong>Entwicklung</strong>sbedingungen für die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen<br />
sowie die hervorragende Arbeit zehntausen<strong>der</strong> Pädagoginnen und Pädagogen eine<br />
entscheidende Voraussetzung. Es ist auch alles an<strong>der</strong>e als Zufall, dass das<br />
Bildungswesen <strong>der</strong> DDR international hohe Anerkennung genoss. Dennoch dürfen<br />
mit dem Blick auf die Nutzung seiner Erfahrungen bestimmte Defizite, die sich vor<br />
allem in den letzten Jahren herausgebildet hatten, nicht negiert werden, z.B.<br />
mangelnde Differenzierungsmöglichkeiten vor allem in den oberen Klassenstufen,<br />
eine oft beklagte gewisse Einförmigkeit in <strong>der</strong> Gestaltung des Unterrichts und <strong>der</strong><br />
täglichen pädagogischen Arbeit o<strong>der</strong> eine nicht zu übersehende ideologische<br />
Überfrachtung.<br />
Aber trotzdem gilt:<br />
Das Bildungswesen <strong>der</strong> DDR hat insgesamt den Beweis erbracht, dass -<br />
eingebettet in eine das ganze gesellschaftliche Leben durchziehende For<strong>der</strong>ung und<br />
För<strong>der</strong>ung des Bildungsstrebens aller werktätigen Menschen und unter<br />
ausgeglicheneren <strong>Entwicklung</strong>sbedingungen <strong>der</strong> Heranwachsenden in Bezug auf die<br />
9
Unterschiede zwischen arm und reich und die Unterschiede zwischen Stadt und<br />
Land <strong>–</strong> hohe Bildungsziele und gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle erreichbar und<br />
realisierbar sind.<br />
Es darf allerdings dabei nicht übersehen werden, dass dafür die gemeinsame<br />
ganztägige vorschulische Betreuung, Bildung und Erziehung faktisch aller Kin<strong>der</strong><br />
entscheidende Bedeutung hatte, und auch die Nachmittags- bzw. Frühbetreuung <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klassen 1 <strong>–</strong> 4 in den Schulhorten ein wesentliches för<strong>der</strong>ndes Element<br />
war. <strong>Die</strong> Vielfalt von Möglichkeiten außerunterrichtlicher und außerschulischer<br />
Betätigungen und ein großes Angebot <strong>–</strong> nicht zuletzt auch von den Betrieben <strong>–</strong> zur<br />
Feriengestaltung für die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen gehört zu den notwendigen<br />
Bedingungen, um breite und qualifizierte Bildungs- und <strong>Entwicklung</strong>smöglichkeiten<br />
für alle zu gewährleisten. <strong>Die</strong> Schulen verstanden sich nicht nur als unterrichtende<br />
Schulen, son<strong>der</strong>n als in <strong>der</strong> Kommune, im Wohngebiet sozial verankerte<br />
Einrichtungen, die im Zusammenwirken mit „verbündeten“ Erziehungsträgern im<br />
Territorium das Leben <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen und damit auch die För<strong>der</strong>ung<br />
und <strong>Entwicklung</strong> ihrer Neigungen und Interessen, pädagogisch und in gewissem<br />
Umfang auch organisatorisch mitzugestalten halfen. Ein ganz entscheidendes<br />
Moment war schließlich, dass die Schule <strong>der</strong> DDR in einem sonst kaum<br />
anzutreffenden Maß mit <strong>der</strong> Polytechnik die Welt <strong>der</strong> Arbeit und <strong>der</strong> Technik in ihr<br />
Bildungskonzept eingebunden hatte, wenn auch die praktischen Lösungen in den<br />
80er Jahren nicht mehr in erfor<strong>der</strong>lichem Maße den verän<strong>der</strong>ten Bedingungen <strong>der</strong><br />
wissenschaftlich-technischen Revolution gerecht wurden.<br />
All das sind Faktoren, ohne die ein <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> folgendes Bildungswesen<br />
mit seinem längeren gemeinsamen Schulbesuch schwer vorankommt. Deshalb soll<br />
hier als allgemeine Erfahrung aus <strong>der</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> DDR-Schule mit dem Blick auf<br />
heutige Erfor<strong>der</strong>nisse ausdrücklich betont werden, dass eine organisch differenzierte,<br />
elastische Einheitsschule, eine die Mannigfaltigkeit för<strong>der</strong>nde Schule die Vielfalt <strong>der</strong><br />
Gestaltung des pädagogischen Geschehens an <strong>der</strong> Schule, die Vielfalt <strong>der</strong><br />
didaktisch-methodischen Gestaltung eines auf zunehmend selbständige Aneignung<br />
orientierten Unterrichts, die Aufarbeitung und Nutzung <strong>der</strong> individuellen Erfahrungen<br />
<strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler erfor<strong>der</strong>t und - was ganz beson<strong>der</strong>s wichtig ist <strong>–</strong><br />
<strong>der</strong>en individuelle Verschiedenheit und Originalität als Potenz für die Lösung<br />
allgemeiner Aufgaben und des Erreichens gemeinsamer Ziele versteht.<br />
<strong>Zur</strong> aktuellen <strong>Entwicklung</strong> des Bildungswesens in Deutschland<br />
Das öffentliche Bildungssystem <strong>der</strong> Bundesrepublik befindet sich sei langem in einer<br />
Krise, weil sich in ihm alle ökonomischen, sozialen und kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong><br />
Gesellschaft wi<strong>der</strong>spiegeln. <strong>Die</strong> Strategie <strong>der</strong> Kultusministerkonferenz ist gescheitert,<br />
mit Retuschen am Herkömmlichen, mit Verschärfung <strong>der</strong> Selektion über die Runden<br />
zu kommen. Auch die Verabredung, jegliche Diskussionen über strukturelle<br />
Reformen und Bildungsfinanzierung zu unterbinden, ließ und lässt sich offensichtlich<br />
nicht durchhalten. In dieser Situation nutzt das Kapital die Krise, um die<br />
Privatisierung auch im Bildungswesen zu forcieren.<br />
<strong>Die</strong> Folgen <strong>der</strong> in den vergangenen Jahren mehrfach versäumten Reformen<br />
bewirken, dass die Kritik am Bildungssystem in allen Gesellschaftsschichten enorm<br />
wächst. Internationale Vergleichsuntersuchungen, wie TIMMS, PISA und an<strong>der</strong>e<br />
10
ütteln die Öffentlichkeit immer wie<strong>der</strong> auf. Das gilt nicht zuletzt auch für den Bericht<br />
des UN-Son<strong>der</strong>berichterstatters für das Menschenrecht auf Bildung. Nicht zu<br />
übersehen ist, dass die Kritik immer stärker auf den in Deutschland beson<strong>der</strong>s<br />
auffälligen Zusammenhang von sozialer Herkunft bzw. sozialer Lage <strong>der</strong> Lernenden<br />
und <strong>der</strong>en Bildungschancen, <strong>der</strong>en weiteren Lebensweg, richtet und damit<br />
zunehmend auf die rigide und frühe Selektion und die Mehrgliedrigkeit des<br />
Schulwesens.<br />
Andreas Schleicher, <strong>der</strong> OECD-PISA-Koordinator, charakterisiert in einem Beitrag in<br />
„Erziehung und Wissenschaft“ (5/2007, S.2) die Situation zugespitzt mit den Worten:<br />
„Wenn wir die Kin<strong>der</strong> des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts weiterhin von Lehrern mit einem<br />
Ausbildungsstand des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts in einem Schulsystem unterrichten lassen,<br />
das im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t konzipiert wurde und sich seitdem nur graduell verän<strong>der</strong>t hat,<br />
dann werden Bildungsqualität und Chancengerechtigkeit von Län<strong>der</strong>n wie Finnland,<br />
Japan o<strong>der</strong> Kanada auch in Zukunft unerreichbar bleiben.“<br />
Spätestens seit PISA <strong>–</strong> aber in Wirklichkeit schon viel früher <strong>–</strong> ist das längere<br />
gemeinsame Lernen in <strong>der</strong> deutschen pädagogischen und gesellschaftlichen<br />
Öffentlichkeit ein Thema geworden. In nicht wenigen Dokumenten, Beschlüssen<br />
verschiedenster Organisationen und Institutionen bis hin zum neuen Programm <strong>der</strong><br />
SPD kann man entsprechende For<strong>der</strong>ungen finden. Sie sind allerdings mit sehr<br />
unterschiedlichen, z.T. sogar einan<strong>der</strong> ausschließenden, strukturellen und<br />
inhaltlichen Vorstellungen und Vorschlägen verbunden. Gleich hier muss deshalb<br />
aus unserer konsequent linken Sicht gesagt werden:<br />
<strong>Die</strong> Verwirklichung des längeren gemeinsamen Lernens ist sowohl eine inhaltliche<br />
wie eine strukturelle Frage! Eine Trennung dieser beiden „Seiten einer Medaille“ darf<br />
nicht zugelassen werden! Es geht nicht nur um Bildung für alle gleichermaßen, es<br />
geht um hohe Bildung für alle! Es geht um die bestmögliche <strong>Entwicklung</strong> jedes<br />
Einzelnen und die dafür erfor<strong>der</strong>lichen Bedingungen!<br />
In einer Schule. die das längere gemeinsame Lernen über die Klasse 4 bzw. 6<br />
hinaus praktiziert, geht es zuerst um eine solide, hohe Allgemeinbildung für alle<br />
Schülerinnen und Schüler, um eine solche Gestaltung <strong>der</strong> pädagogischen Arbeit in<br />
dieser Schule, im täglichen Unterricht, die es den Schülerinnen und Schüler<br />
ermöglicht, sich diese Bildung anzueignen, um das aktive Mitwirken und<br />
Mitbestimmen aller an diesem Prozess Beteiligten, und es geht nicht zuletzt um die<br />
Schaffung und Sicherung <strong>der</strong> bildungsökonomischen Rahmenbedingungen, ohne die<br />
alle guten Vorstellungen nur sehr begrenzt realisierbar sind!<br />
<strong>Zur</strong> <strong>Entwicklung</strong> bildungspolitischer Positionen in <strong>der</strong> PDS<br />
Von solchen bildungspolitischen Positionen ließen sich die PDS und ihre<br />
Bundesarbeitsgemeinschaft Bildungspolitik seit ihrer Konstituierung 1989/90 leiten,<br />
wenn sie konsequent bis heute für ein integriertes Bildungssystem und darin<br />
eingeschlossen für längeres gemeinsames Lernen in <strong>der</strong> Pflichtschulzeit eingetreten<br />
sind - auch wenn die Begrifflichkeiten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich<br />
waren. Ein kurzer Überblick soll das verdeutlichen:<br />
11
Bereits in <strong>der</strong> Abschlusserklärung des 1. bildungspolitischen Treffens <strong>der</strong> PDS (März<br />
1991) mit dem Titel „Es geht um breite Bildung für alle“ for<strong>der</strong>ten wir „die schrittweise<br />
Umwandlung <strong>der</strong> Schulen zu demokratischen Gesamtschulen als alleiniger<br />
Regelschule (Klasse 1-10)“.<br />
Und in <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Teilnehmer <strong>der</strong> 4. Bildungspolitischen Konferenz<br />
(November 1993) heißt es kurz und knapp: „Alle Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen besuchen<br />
mindestens zehn Jahre eine allgemeinbildende Schule.“<br />
Im Programm <strong>der</strong> PDS von 1993 for<strong>der</strong>te die Partei, „zum grundlegenden Schultyp<br />
die integrierte Gesamtschule zu machen und Ganztagsschulen zu för<strong>der</strong>n.“<br />
Auf <strong>der</strong> Grundlage soli<strong>der</strong> wissenschaftlicher Vorarbeiten konnte auf <strong>der</strong> 6.<br />
Bildungspolitischen Konferenz (Oktober 1997) ein neues Schulkonzept beraten und<br />
als Bestandteil eines umfangreichen Dokuments „Positionen, For<strong>der</strong>ungen und<br />
Vorschläge <strong>der</strong> PDS zur Bildungspolitik“ publiziert werden. <strong>Die</strong>ses Konzept ließ sich<br />
von <strong>der</strong> „Gesamtschulidee“ leiten, ohne sich auf eine Schulform festzulegen. In ihm<br />
wird eindeutig formuliert:<br />
„Ein neues Schulkonzept wird an die Stelle <strong>der</strong> frühzeitigen Auslese mit ihren<br />
negativen sozialen und psychischen Wirkungen den Grundsatz <strong>der</strong> bestmöglichen<br />
För<strong>der</strong>ung jedes Einzelnen und die Ausbildung seiner Stärken als wichtige Impulse<br />
für seine Gesamtentwicklung setzen. In ihm wird es die <strong>der</strong>zeit nach einer vier- o<strong>der</strong><br />
sechsjährigen Grundschule erfolgende Aufspaltung <strong>der</strong> Schüler in nach Abschlüssen<br />
ungleichwertige Schulformen nicht mehr geben, und es wird vorsehen, alle Schüler in<br />
einer gemeinsamen, nach Stufen geglie<strong>der</strong>ten Schule zumindest bis zum Ende des<br />
8. Schuljahres <strong>–</strong> für die meisten Schüler aber bis zur 10. Klasse <strong>–</strong> vereinen.“<br />
<strong>Die</strong>ses Konzept war Ausgangspunkt auch für die Beratung <strong>der</strong> 8. Bildungspolitischen<br />
Konferenz (März/April 2001) und beeinflusste maßgeblich den Beschluss <strong>der</strong><br />
Konferenz „Gleiche Bildungs- und <strong>Entwicklung</strong>smöglichkeiten für alle! Gegen<br />
wachsende Ungleichheit im Bildungswesen!“ mit <strong>der</strong> Aussage: „Darum muss in <strong>der</strong><br />
BRD die eine einheitliche Schule für alle als Ganztagsschule mit Wahlangeboten und<br />
Differenzierungsmöglichkeiten ausgebaut werden.“<br />
<strong>Die</strong>se Position fand auch Eingang in das 2003 beschlossene neue Programm <strong>der</strong><br />
PDS: „<strong>Die</strong> PDS tritt für ein integriertes Bildungssystem ein, das vor allem dazu<br />
beiträgt, soziale Ungleichheit abzubauen. Es soll gemeinsame Bildung ... und<br />
zugleich individuelle, differenzierte För<strong>der</strong>ung sowie Nachteilsausgleich<br />
ermöglichen.“<br />
Schließlich wurden auf <strong>der</strong> 9. Bildungspolitischen Konferenz (Juni 2005)<br />
„Bildungspolitische Leitlinien <strong>der</strong> PDS“ beraten, die nach wie vor Grundlage unseres<br />
bildungspolitischen Wirkens sind.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e mit dem Schulkonzept von 1997 und dem Abschnitt 8 <strong>der</strong><br />
Bildungspolitischen Leitlinien von 2005 zur Gemeinschaftsschule wurden auf <strong>der</strong><br />
Grundlage <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> wissenschaftlich begründete konzeptionelle<br />
Überlegungen für eine zukünftige Schule in Deutschland vorgelegt und konkrete<br />
Vorschläge für mögliche Schritte zu ihrer Verwirklichung unterbreitet.<br />
Einige von <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> abgeleitete grundlegende<br />
gesellschaftspolitische, bildungspolitische und pädagogische Positionen für<br />
unsere weitere Arbeit am Konzept <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule und für unser<br />
bildungspolitisches Wirken<br />
Doch zuvor ein paar Bemerkungen zum Terminus „Gemeinschaftsschule“:<br />
12
<strong>Die</strong> von uns angestrebte Schule „Gemeinschaftsschule“ zu nennen, war Ergebnis <strong>der</strong><br />
Diskussionen im Prozess <strong>der</strong> Erarbeitung <strong>der</strong> Bildungspolitischen Leitlinien<br />
2004/2005. Ausgangspunkt war, dass wir eine Schule <strong>der</strong> Integration und <strong>der</strong><br />
Inklusion wollen -- und die damit verbundene Überlegung, dass in dieser Schule die<br />
Schülerinnen und Schüler viele Jahre gemeinsam lernen und sich in einer Klassenbzw.<br />
Schulgemeinschaft soziale Erfahrungen und entsprechende Verhaltensweisen<br />
aneignen. Dabei spielte eine wesentliche Rolle unsere Überzeugung, dass das<br />
Individuum für die <strong>Entwicklung</strong> seiner Persönlichkeit <strong>der</strong> Gemeinschaft bedarf und<br />
lernen muss, sich in <strong>der</strong> Gemeinschaft zu bewegen und ggf. auch Verantwortung in<br />
<strong>der</strong> Gemeinschaft zu übernehmen.<br />
Eine große Bedeutung kommt dabei auch <strong>der</strong> Tatsache zu, dass wir eine Schule<br />
wollen, die in das territoriale gesellschaftliche Umfeld eingebunden ist und die von<br />
allen in diesem Territorium wohnenden Schülerinnen und Schülern besucht wird, die<br />
die damit verbundenen Potenzen für die Bildung und Erziehung <strong>der</strong> jungen<br />
Menschen nutzt - also auch hier möglichst gut koordinierte Gemeinschaftsarbeit<br />
vonnöten ist.<br />
Schließlich sieht die von uns konzipierte Schule die Schülerinnen und Schüler als<br />
Subjekte ihrer <strong>Entwicklung</strong>, Bildung und Erziehung und kann nur erfolgreich wirken,<br />
wenn sie auf das wechselseitige Engagement von Pädagogen und Schülern baut.<br />
Und nicht zuletzt, was wäre eine solche Schule ohne das konstruktive Miteinan<strong>der</strong><br />
von Pädagogen und Eltern, die sich gemeinsam um jeden Einzelnen sorgen und<br />
auch gemeinsam mit den Schülern das Leben <strong>der</strong> Schulgemeinschaft gestalten?<br />
Kurz gesagt:<br />
Eine „Gemeinschaftsschule“ ist eine Schule vielfacher pädagogischer und<br />
organisatorischer Gemeinschaftsarbeit!<br />
Dass <strong>der</strong> Begriff „Gemeinschaftsschule“ z.Zt. von verschiedenen Kräften mit<br />
Inhalten und Organisationsformen verbunden wird, die dem Wesen dieser Schule<br />
und unseren Vorstellungen von ihrer Gestaltung z.T. diametral wi<strong>der</strong>sprechen,<br />
spricht nicht gegen den Begriff, son<strong>der</strong>n ist vielmehr eine Herausfor<strong>der</strong>ung, unsere<br />
Positionen in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit diesen Surrogaten von<br />
Gemeinschaftsschule zu fundieren.<br />
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX<br />
<strong>Die</strong> Idee <strong>der</strong> Einheitsschule beruht auf grundlegenden politischen, philosophischweltanschaulichen<br />
und pädagogisch-psychologischen Erkenntnissen bzw.<br />
Positionen, die humanistische Grundüberzeugungen verkörpern. Dazu zählen vor<br />
allem:<br />
1. <strong>Die</strong> Überzeugung von <strong>der</strong> Bildungs- und <strong>Entwicklung</strong>sfähigkeit jedes<br />
Menschen und die Achtung vor seiner Würde und Persönlichkeit. Der Mensch<br />
ist nicht Objekt seiner Verhältnisse, er ist aktiver Gestalter seiner<br />
Lebensbedingungen. Er kann nicht in ein biologisches und ein<br />
gesellschaftliches Wesen getrennt werden. Indem er seine Umwelt verän<strong>der</strong>t,<br />
verän<strong>der</strong>t und entwickelt er sich auch selbst!<br />
2. <strong>Die</strong> Überzeugung, dass je<strong>der</strong> Mensch das Recht auf Bildung und Ausbildung<br />
entsprechend seinen Fähigkeiten, Neigungen und Interessen hat. Je<strong>der</strong><br />
Mensch hat das Recht auf <strong>Entwicklung</strong> seiner Persönlichkeit, je<strong>der</strong> Mensch<br />
wird „gebraucht“! Das Menschenrecht auf Bildung und die For<strong>der</strong>ung nach<br />
gleichen Bildungsmöglichkeiten für alle und die Verantwortung <strong>der</strong><br />
13
Gesellschaft und des Staates für die Schaffung <strong>der</strong> dafür erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Bedingungen sind für linke Politik unabdingbar!<br />
3. <strong>Die</strong> Überzeugung, dass je<strong>der</strong> Mensch begabt ist, dass Begabung nicht etwas<br />
durch Geburt Vorherbestimmtes ist. Je<strong>der</strong> Heranwachsende entwickelt im<br />
Verlauf seines Lebens unter dem Einfluss von Familie, Schule, Medien,<br />
Freunden u.a. unterschiedliche Interessen, Fähigkeiten und Talente! Damit<br />
entwickeln sich Begabungen für sehr unterschiedliche Lern-, Bildungs- und<br />
Betätigungsfel<strong>der</strong>! Daraus leitet sich ab: Jede Kind ist begabt, unterschiedlich,<br />
wofür! Für „Alles“ Begabte, das ist eher die Ausnahme!<br />
4. <strong>Die</strong> Überzeugung, dass das Kind, <strong>der</strong> Jugendliche seine Individualität, seine<br />
Persönlichkeit in <strong>der</strong> Gemeinschaft mit an<strong>der</strong>en, als Teil dieser Gemeinschaft,<br />
ausprägt. Sie regt mit ihren Zielen, ihrer Kommunikation und Kooperation den<br />
Einzelnen an. Dabei wirken Unterschiede als produktive Kraft, findet <strong>der</strong><br />
Einzelne Hilfe, Anregung, Bestätigung, Anerkennung.<br />
5. Wenn alle Menschen das Recht auf Bildung und <strong>Entwicklung</strong> ihrer<br />
Persönlichkeit haben, dann haben Staat und Gesellschaft nicht das Recht,<br />
einzelne Menschen o<strong>der</strong> Menschengruppen von Bildung auszuschließen bzw.<br />
ihre Bildungsmöglichkeiten einzuschränken. Im Gegenteil: Integration und<br />
Inklusion aller sind unabdingbar und müssen praktiziert werden!<br />
In <strong>der</strong> Arbeiterbewegung wurde die <strong>Einheitsschulidee</strong> immer als Bestandteil des<br />
Kampfes um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen verstanden. Vorstellungen,<br />
allein über das Bildungswesen gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen erreichen zu<br />
können, haben sich als unrealistisch erwiesen. Gleichzeitig ist aber allgemein<br />
anerkannt, dass grundlegende gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen einer Neugestaltung<br />
des Bildungswesens im Sinne <strong>der</strong> Verwirklichung gleicher Bildungsmöglichkeiten für<br />
alle bedürfen.<br />
Aus diesen Erfahrungen und Erkenntnissen gilt es, für unser heutiges Ringen um das<br />
längere gemeinsame Lernen in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule Schlussfolgerungen zu<br />
ziehen: Der Kampf für die Gemeinschaftsschule muss mit dem Kampf um solche<br />
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbunden werden, die diese<br />
Gemeinschaftsschule überhaupt erst in ihrer vollen Ausgestaltung möglich machen,<br />
die Voraussetzungen dafür sind, den Wi<strong>der</strong>stand konservativer Kräfte gegen die<br />
Gemeinschaftsschule, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong>er, die um ihre Privilegien fürchten, zu<br />
überwinden. Und es muss heute und hier um gesellschaftliche und gute<br />
bildungsökonomische Rahmenbedingungen gerungen werden, die für qualifizierte<br />
pädagogische Arbeit erfor<strong>der</strong>lich sind<br />
Nicht zuletzt geht es um gesellschaftliche Rahmenbedingungen für ein kin<strong>der</strong>- und<br />
jugendfreundliches Klima im Land. <strong>Die</strong> jungen Menschen sollen in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
Voraussetzungen vorfinden, die ihnen die Möglichkeit bieten, sich zu betätigen, sich<br />
zu beweisen und an <strong>der</strong> Gestaltung und Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse aktiv teilzunehmen.<br />
Schlussfolgerung:<br />
Bildungspolitik darf in unserer Partei DIE LINKE nicht nur Sache von uns<br />
„Spezialisten“ sein. Allerdings dürfen wir nie vergessen, dass wir dafür eine<br />
beson<strong>der</strong>e Verantwortung tragen.<br />
Bildungspolitik ist Bestandteil <strong>der</strong> Gesamtpolitik und deshalb ist <strong>der</strong> Kampf für das<br />
längere gemeinsame Lernen in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule Sache und Aufgabe <strong>der</strong><br />
Gesamtpartei! Und wir „Spezialisten“ dürfen unseren Blick nicht verengen und nur<br />
auf das Bildungswesen schauen <strong>–</strong> unser Blick muss auf die gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit und <strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ung gerichtet sein!<br />
14
<strong>Die</strong> <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> war in <strong>der</strong> Arbeiterbewegung immer<br />
verbunden mit dem Kampf für bessere Lebens- und <strong>Entwicklung</strong>sbedingungen vor<br />
allem <strong>der</strong> Arbeiterkin<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> aus an<strong>der</strong>en sozial benachteiligten<br />
Schichten <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft. Auch heute gilt, dass das längere<br />
gemeinsame Lernen allein nicht ausreicht, soziale Unterschiede aufzubrechen und<br />
allen Kin<strong>der</strong>n annähernd gleiche Lebens- und <strong>Entwicklung</strong>sbedingungen zu<br />
gewährleisten. Der vor wenigen Tagen vorgestellte „Kin<strong>der</strong>report 2007“ spricht von<br />
wachsen<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>armut. 2,5 Millionen Kin<strong>der</strong> sind <strong>der</strong>zeit auf Sozialgeld<br />
angewiesen. Für ein reiches Land wie Deutschland kann das nicht an<strong>der</strong>s als mit<br />
dem Wort „Skandal“ bewertet werden.<br />
Armut bedeutet viel mehr als wenig Geld zu haben. Benachteiligte Kin<strong>der</strong> bleiben<br />
immer häufiger in isolierten Wohnvierteln unter sich, ohne gute Schulen, ohne gute<br />
Ausbildungsmöglichkeiten und ohne ausreichende soziale Unterstützung. Dazu<br />
zählen beileibe nicht nur Kin<strong>der</strong> und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Armut<br />
„produziert“ schlechte Bildungschancen wie umgekehrt fehlende<br />
Bildungsmöglichkeiten „Armutskarrieren“ programmieren. Das Ringen am annähernd<br />
gleiche Lebens-, Bildungs-, <strong>Entwicklung</strong>s- und Sozialisationsbedingungen für alle<br />
Kin<strong>der</strong> und die Sicherung spezieller Unterstützung und För<strong>der</strong>ung für benachteiligte<br />
junge Menschen ist ein Teil des Kampfes für die Gemeinschaftsschule und Sache<br />
aller progressiven Kräfte dieser Gesellschaft. Das gilt sowohl für die materiellen und<br />
finanziellen Voraussetzungen als auch für das gesamte gesellschaftliche „Klima“, für<br />
den sozialen Rahmen.<br />
<strong>Die</strong> Verwirklichung <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> unter den heutigen Bedingungen kann und<br />
darf nicht auf die Pflichtschule beschränkt werden. Sie schließt ein die Schaffung und<br />
Sicherung von Voraussetzungen für eine frühkindliche Betreuung, Bildung und<br />
Erziehung aller Kin<strong>der</strong> durch pädagogisch wie medizinisch qualifizierte<br />
Pädagoginnen und schließt auch ein die Möglichkeit, dass alle Kin<strong>der</strong> ganztägig in<br />
Kin<strong>der</strong>gärten unter Anleitung gut ausgebildeter Erzieherinnen und Erziehern in nicht<br />
zu großen Gruppen gemeinsam spielen, soziale Erfahrungen sammeln, spielend<br />
lernen und sich auf den Schulbesuch vorbereiten können.<br />
Längeres gemeinsames Lernen in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule bedarf <strong>der</strong> Ergänzung<br />
durch ein vielseitiges Angebot von außerunterrichtlichen und außerschulischen Lernund<br />
Betätigungsmöglichkeiten, damit die jungen Menschen hier ihren speziellen<br />
Neigungen und Interessen nachgehen und sie ausprägen und so ihre Bildung<br />
erweitern und ergänzen und sich als Persönlichkeit entwickeln können.<br />
Dazu gehört auch, dass für die jüngeren Schülerinnen und Schüler in den<br />
Gemeinschaftsschulen Horte existieren, die für die Kin<strong>der</strong> außerhalb des Unterrichts<br />
Betätigungsmöglichkeiten und Unterstützung beim Lernen bieten.<br />
Aus dem Gesagten leitet sich ab, dass Gemeinschaftsschulen schrittweise zu<br />
Tagesschulen gestaltet werden müssen, denn in ihnen kann am besten das<br />
Zusammenspiel von Unterricht und außerunterrichtlicher Betätigung mit dem Ziel<br />
einer guten Bildung für alle Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen und <strong>der</strong> <strong>Entwicklung</strong> ihrer<br />
Persönlichkeit gewährleistet werden. Das heißt: es geht dabei nicht um eine<br />
Verlängerung des Unterrichts über den ganzen Tag!<br />
<strong>Die</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> war we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Vergangenheit noch ist sie in dem aktuellen<br />
Konzept <strong>der</strong> Partei DIE LINKE für die Gemeinschaftsschule zu verwechseln mit<br />
Gleichmacherei. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass <strong>–</strong> solange es die<br />
15
<strong>Einheitsschulidee</strong> gibt, sie immer mit diesem Vorwurf konfrontiert war und auch<br />
wie<strong>der</strong> ist. <strong>Die</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung damit gehört zum alltäglichen Ringen um die<br />
Realisierung unseres Konzepts. <strong>Die</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> war von Anfang an <strong>–</strong> und ist<br />
es bis heute <strong>–</strong> auf die bestmögliche Bildung und <strong>Entwicklung</strong> eines jeden Kindes, auf<br />
die Entfaltung <strong>der</strong> Individualität eines jeden Kindes gerichtet. Darin ist<br />
eingeschlossen die beson<strong>der</strong>e Fürsorge für solche Kin<strong>der</strong>, die Schwierigkeiten beim<br />
Lernen haben o<strong>der</strong> in ihrem Verhalten Probleme bereiten. In gleicher Weise ist<br />
eingeschlossen die beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit für Kin<strong>der</strong>, bei denen spezifische<br />
Begabungen sichtbar werden. Das alles hat allerdings <strong>Konsequenzen</strong> für die<br />
Arbeitsbedingungen <strong>der</strong> Pädagogen und für ihren Einsatz im Unterricht, für die<br />
Klassenfrequenzen und auch für die materiell-räumlichen Voraussetzungen in den<br />
Schulen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> beinhaltet ausdrücklich auch die Möglichkeit, sich über die<br />
Pflichtschule hinausgehende Bildung anzueignen und die Hochschulreife zu<br />
erwerben. Bei einer entsprechenden Gestaltung <strong>der</strong> pädagogischen Arbeit in <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschule und <strong>der</strong> Nutzung aller in ihr gegebenen Möglichkeiten <strong>der</strong><br />
individuellen För<strong>der</strong>ung wird die Zahl <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler, die das Abitur<br />
anstreben und erfolgreich die Hochschulreife erwerben, zunehmend größer werden.<br />
Das erfor<strong>der</strong>t entsprechende Differenzierungsmaßnahmen in den oberen Klassen<br />
<strong>der</strong> Pflichtschule bis hin zu Überlegungen, ob und zu welchem Zeitpunkt auch eine<br />
schulorganisatorische Differenzierung zweckmäßig ist. Vor allem aber gehört zu<br />
unserem Verständnis <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong>, dass es mehrere gleichberechtigte<br />
Wege zum Abitur geben muss, vor allem verschiedene Wege, in denen Vertiefung<br />
und Erweiterung <strong>der</strong> Allgemeinbildung mit verschiedenen Formen <strong>der</strong> beruflichen<br />
Ausbildung kombiniert werden. Überhaupt erscheint unabdingbar eine inhaltliche<br />
Reform <strong>der</strong> Abiturbildung und eine inhaltliche Profilierung <strong>der</strong> verschiedenen zur<br />
Hochschulreife führenden Bildungswege.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> erfor<strong>der</strong>t unter den heutigen Bedingungen, dass das Konzept<br />
des längeren gemeinsamen Lernens in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule Integration im<br />
umfassendsten Sinne - dafür steht <strong>der</strong> Terminus „Inklusion“ - vorsieht. Das<br />
erfor<strong>der</strong>t die Integration von Kin<strong>der</strong>n mit Behin<strong>der</strong>ungen und ihre spezielle För<strong>der</strong>ung<br />
im schulischen Alltag und wendet sich mit Nachdruck gegen das „Abschieben“ von<br />
Kin<strong>der</strong>n in die sog. För<strong>der</strong>schulen, womit ihr weiterer Bildungs- und Lebensweg<br />
weitgehend vorgezeichnet ist. Worum es uns gehen muss, das ist die Schaffung von<br />
solchen Bedingungen, die es den Kin<strong>der</strong>n mit Behin<strong>der</strong>ungen ermöglicht, sich in <strong>der</strong><br />
Gemeinschaft mit an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n eine hohe Bildung anzueignen bzw. ihre<br />
Persönlichkeitsentwicklung zu sichern. Mit den Aktivitäten zur <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschule wird dafür ein Tor weit aufgestoßen, wobei wir uns, was das<br />
Tempo <strong>der</strong> Realisierung einer solchen Aufgabe anbetrifft, vor Illusionen hüten sollten,<br />
denn <strong>–</strong> wie wir alle wissen <strong>–</strong> die Schaffung <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lichen Bedingungen ist<br />
außerordentlich aufwendig. Aber gerade das muss uns zu größten Anstrengungen<br />
herausfor<strong>der</strong>n. Es gilt aber auch: Dort, wo die erfor<strong>der</strong>lichen Bedingungen nicht<br />
gegeben sind und trotz größter Anstrengungen kurzfristig nicht geschaffen werden<br />
können, muss im Interesse dieser Kin<strong>der</strong> von Fall zu Fall geprüft und entschieden<br />
werden, welche Art <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung für das betreffende Kind die beste Lösung ist.<br />
In diesem Zusammenhang sei nachdrücklich betont, dass Inklusion in beson<strong>der</strong>er<br />
Weise für die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wirksam gemacht<br />
werden muss. Kein Kind, kein Jugendlicher - auch wenn er/sie nur zeitweise in<br />
16
Deutschland lebt - darf von Bildung ausgeschlossen sein! „Gleiche<br />
Bildungsmöglichkeiten“: das gilt auch für diese Kin<strong>der</strong>, wobei die<br />
Gemeinschaftsschule <strong>der</strong> spezifischen För<strong>der</strong>ung und Unterstützung beson<strong>der</strong>e<br />
Aufmerksamkeit widmen wird.<br />
<strong>Die</strong> Verwirklichung <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> erfor<strong>der</strong>t, die Gemeinschaftsschule<br />
inhaltlich und strukturell so zu gestalten, dass sich die jungen Menschen eine solide<br />
allgemeine und polytechnische Bildung und außerhalb des Unterrichts in vielfältigen<br />
Formen ergänzendes Wissen sowie erweiterte Kompetenzen entsprechend ihren<br />
Neigungen und Interessen aneignen können. Hierfür ist eine solide wissenschaftliche<br />
Arbeit bei aktiver Mitwirkung erfahrener Lehrerinnen und Lehrer für eine Erneuerung<br />
des Inhalts <strong>der</strong> schulischen Bildung, für ein neues Konzept von polytechnischer<br />
Allgemeinbildung gefragt. Ganz wichtig ist, dass die jungen Menschen die für das<br />
weitere Lernen und überhaupt das weitere Leben erfor<strong>der</strong>lichen fachlichen und<br />
sozialen Kompetenzen erwerben können. Ohne eine neue Lernkultur, ohne ein<br />
neues Herangehen an die didaktisch-methodische Gestaltung <strong>der</strong> Lehr- und<br />
Lernprozesse, ohne ein produktives Miteinan<strong>der</strong> von PädagogInnen und<br />
SchülerInnen wird das nicht erfolgreich zu bewältigen sein. Gerade auf diesem<br />
Gebiet gibt es vielfältige Erfahrungen in <strong>der</strong> Praxis, nicht zuletzt in <strong>der</strong> Praxis vieler<br />
Gesamtschulen, die für die Weiterentwicklung des Konzepts <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschulen aufgearbeitet und fruchtbar gemacht werden müssen. Es sei<br />
dabei ausdrücklich hervorgehoben, dass die innere Demokratisierung <strong>der</strong> Schulen,<br />
die aktive Beteiligung von Pädagogen und Schülern an <strong>der</strong> Gestaltung des Lernens<br />
und Lebens in <strong>der</strong> Schule und die Sicherung entsprechen<strong>der</strong> Mitwirkungsrechte<br />
dafür von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung sind.<br />
<strong>Die</strong> Vorstellungen, wie eine Einheitsschule inhaltlich und strukturell zu gestalten ist,<br />
haben sich in <strong>der</strong> Vergangenheit mehrfach verän<strong>der</strong>t. Auch die Praxis <strong>der</strong><br />
Verwirklichung <strong>der</strong> Einheitsschule in <strong>der</strong> DDR war nicht statisch, so wie auch das<br />
Ringen um die Gesamtschule in <strong>der</strong> Bundesrepublik unterschiedlichste Erfahrungen<br />
hervorbrachte. Ein Blick in an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>, z.B. in die nordischen Staaten, zeigt<br />
Lösungen, die für unsere weitere Arbeit außerordentlich anregend sind. Auch das auf<br />
<strong>der</strong> Grundlage des Schulkonzepts von 1997 mit den Bildungspolitischen Leitlinien<br />
vorgelegte Modell <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule darf nicht als endgültig verstanden<br />
werden, son<strong>der</strong>n wird im Verlauf weiterer Diskussionen, wissenschaftlicher<br />
Untersuchungen und vor allem im Kampf um seine Verwirklichung, verän<strong>der</strong>t,<br />
vervollkommnet werden.<br />
Es muss als ein „offenes Konzept“ gestaltet und verstanden werden. Das schließt<br />
ein, dass die Verwirklichung ein langfristiger und schwieriger Prozess sein wird, <strong>der</strong><br />
durch unterschiedliche Wege und Teilschritte gekennzeichnet sein wird. Zum<br />
Beispiel wird es aus ganz praktischen Gründen <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Schulstruktur und <strong>der</strong><br />
vorhandenen Schulgebäude unterschiedliche Lösungen geben, wie die<br />
schulorganisatorische Trennung zwischen Grundschule und Sekundarstufe I<br />
überwunden werden kann, denn die Gemeinschaftsschule versteht sich als<br />
Einrichtung, „in <strong>der</strong> die in einem bestimmten Territorium, einem bestimmten<br />
Schulbezirk wohnenden Mädchen und Jungen von <strong>der</strong> 1. Klasse bis in <strong>der</strong> Regel zur<br />
10.Klasse gemeinsam lernen, und auf die die Bildungseinrichtungen <strong>der</strong><br />
Sekundarstufe II aufbauen“ - so wird sie in den Bildungspolitischen Leitlinien<br />
charakterisiert.<br />
17
Aus all diesen Gründen ist es deshalb so wichtig, praktische Versuche <strong>der</strong><br />
Verwirklichung <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule, wie sie z.B. in Berlin in Vorbereitung sind,<br />
gründlich zu verfolgen, was konkrete Vorschläge und ggf. auch Kritik einschließt.<br />
Auch Versuche, bei denen zunächst noch offen ist, ob sie in die richtige Richtung<br />
gehen, müssen beobachtet und analysiert werden, um positive Erfahrungen zu<br />
nutzen und ggf. Fehlentscheidungen zu vermeiden und dabei nicht zuletzt auch<br />
unsere Positionen zu festigen und sie in <strong>der</strong> gesellschaftlichen wie pädagogischen<br />
Öffentlichkeit bekannt, bekannter zu machen. Das schließt auch die prinzipielle Kritik<br />
und die konstruktive Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den verschiedenen letzten Endes in<br />
eine Sackgasse führenden, aber das Schild „Gemeinschaftsschule“ vor sich<br />
hertragenden Modellen und Vorschlägen ein, die bekannterweise nicht selten mit<br />
dem Anspruch auftreten, das mehrgliedrige System überwinden zu wollen, in<br />
Wirklichkeit aber seiner Verfestigung dienen.<br />
XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX<br />
Das Vorgetragene zur <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> und den aus ihr<br />
erwachsenen <strong>Konsequenzen</strong> für unser Konzept des längeren gemeinsamen Lernens<br />
in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule hat wohl deutlich gemacht, wie groß und kompliziert die<br />
Aufgaben sind, die vor unserer Partei DIE LINKE und insbeson<strong>der</strong>e vor unserer<br />
Arbeitsgemeinschaft Bildungspolitik stehen. Der Entwurf unserer Abschlusserklärung<br />
steckt dafür den großen Rahmen ab.<br />
Einige Schlussfolgerungen für die Arbeit <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft<br />
Bildungspolitik.<br />
1. <strong>Die</strong> Verwirklichung des Zieles, das längere gemeinsame Lernen in <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschule im ganzen Land, erfor<strong>der</strong>t, dass wir uns als<br />
Bildungspolitiker und als Arbeitsgemeinschaft einbringen in das Ringen<br />
unserer Partei „für soziale, demokratische und friedensstiftende Reformen zur<br />
Überwindung des Kapitalismus“, „für eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Kräfteverhältnisse als Voraussetzung für einen Richtungswechsel“ <strong>–</strong> wie es in<br />
den Programmatischen Eckpunkten formuliert ist. Das schließt ein den Kampf<br />
gegen Armut, beson<strong>der</strong>s gegen wachsende Kin<strong>der</strong>armut und gegen die<br />
Privilegien <strong>der</strong> Reichen. Wir müssen unsererseits alles tun, dass das Ringen<br />
um die Gemeinschaftsschule alltägliches Anliegen <strong>der</strong> Gesamtpartei wird und<br />
immer bleibt!<br />
2. Erfor<strong>der</strong>lich ist, unser Konzept des längeren gemeinsamen Lernens in <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschule weiter inhaltlich auszuarbeiten und zugleich<br />
verschiedene mögliche Wege zur praktischen Verwirklichung des Konzepts zu<br />
erkunden bzw. zu analysieren und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.<br />
Dazu müssen wir praktische Erfahrungen studieren und aufgreifen, darunter<br />
vor allem solche von Schulen, die schon seit Jahren Integration praktizieren,<br />
wie etwa die Gesamtschulen. Erfor<strong>der</strong>lich ist auch, Irrwege und Fehler<br />
aufzuzeigen und uns mit allem auseinan<strong>der</strong>zusetzen, was auf eine<br />
Verfestigung des mehrgliedrigen Systems hinausläuft.<br />
3. Zum Ringen um die Verwirklichung unseres Zieles gehört auch das<br />
Engagement<br />
• für eine qualifizierte frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung,<br />
18
• für die Schaffung von Schulhorten und <strong>der</strong>en qualifizierter<br />
pädagogischer Arbeit,<br />
• für die <strong>Entwicklung</strong> von Ganztagsschulen,<br />
• für die Schaffung einer Vielfalt von außerunterrichtlichen und<br />
außerschulischen Betätigungsmöglichkeiten für alle Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendlichen,<br />
• für die Schaffung und Sicherung von Bedingungen für die Inklusion von<br />
Kin<strong>der</strong>n mit Behin<strong>der</strong>ungen in die allgemeinbildende Schule und in die<br />
Berufsbildung,<br />
• für das Einhalten und die Sicherung des Wohnortprinzips für die<br />
Grundschulen und für die Pflichtschulzeit überhaupt,<br />
• für Ausbildungsplätze für alle Jugendlichen, die nicht ein Studium<br />
aufnehmen und für einen Arbeitsplatz für alle Absolventen <strong>der</strong><br />
Berufsausbildung bzw. <strong>der</strong> Hochschulausbildung<br />
4. Generell kämpfen wir für einen „Stop!“ je<strong>der</strong> weiteren Privatisierung im<br />
Bildungswesen, seien es zusätzlich gefor<strong>der</strong>te Elternbeiträge für Lehrmittel<br />
und den Schulweg, Gebühren für das Hochschulstudium o<strong>der</strong> die sich immer<br />
weiter ausbreitenden kommerziellen Nachhilfeeinrichtungen. <strong>Die</strong> z.Zt. rasch<br />
wachsende Zahl von Privatschulen konterkariert die <strong>Entwicklung</strong> zur<br />
Gemeinschaftsschule. Auch daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, für eine<br />
qualifizierte pädagogische Arbeit <strong>der</strong> öffentlichen Schulen um eine solide<br />
materielle, personelle und finanzielle Ausstattung zu kämpfen. Dazu gehört<br />
nicht zuletzt die Unterstützung <strong>der</strong> Kommunen, bestmögliche Bedingungen für<br />
die <strong>Entwicklung</strong> <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen, für <strong>der</strong>en Freizeitgestaltung und<br />
für die Arbeit <strong>der</strong> Schulen und Kin<strong>der</strong>einrichtungen zu schaffen<br />
5. Das längere gemeinsame Lernen in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule erfor<strong>der</strong>t eine<br />
langfristig konzipierte Fort- und Weiterbildung und natürlich auch eine<br />
grundlegende Neugestaltung <strong>der</strong> Lehrer- und Erzieherausbildung, die für alle<br />
Gruppen von Pädagogen eine Universitäts- bzw. Hochschulausbildung sein<br />
muss. Gemeinsame Grundausbildung aller Lehrerstudenten und auf dieser<br />
Basis Differenzierung nach Schulstufen <strong>–</strong> das ist unser Programm.<br />
Praxisbezug und pädagogisch-psychologische Ausbildung incl. Diagnostik<br />
während des gesamten Studiums, Berufsbezogenheit von Anfang an,<br />
spezielle didaktisch-methodische Ausbildung incl. Praxisübungen, Vermittlung<br />
sozial-pädagogischer Kenntnisse - das alles sind Anfor<strong>der</strong>ungen, die in<br />
Verbindung mit <strong>der</strong> Aneignung fundierter fachwissenschaftlicher Kenntnisse<br />
gemeistert werden müssen. Nicht zuletzt wegen dieser notwendigen Breite<br />
und <strong>der</strong> von <strong>der</strong> späteren beruflichen Tätigkeit gestellten hohen qualitativen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen muss das Pädagogik-Studium mit dem „Master“ abschließen.<br />
Damit wir diese u.a. Aufgaben realisieren können, müssen wir in <strong>der</strong> nächsten<br />
Wochen und Monaten hart arbeiten! Das wird nur zu schaffen sein, wenn wir in<br />
unserer Arbeitsgemeinschaft möglichst viele aktive Mitstreiter haben, wenn wir auf<br />
demokratische Weise die nächsten Schritte abstecken und unsere Kraft darauf<br />
konzentrieren, und wenn es uns gelingt, das Zusammenwirken und den<br />
Erfahrungsaustausch zwischen Bundes <strong>–</strong> AG und Län<strong>der</strong> <strong>–</strong> AG zu organisieren.<br />
Meine Erfahrungen lehren mich, dass das nicht leicht sein wird - aber sie lehren<br />
mich auch, dass wir es schaffen können - wir müssen es nur wollen!!<br />
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Benutzte Literatur<br />
1. DIE LINKE „Programmatische Eckpunkte“ 2007<br />
2. Bildungspolitische Leitlinien <strong>der</strong> PDS<br />
( „Zukunftswerkstatt Schule“, 2/2006 )<br />
3. Parteivorstand DIE LINKE: „ Längeres gemeinsames Lernen in <strong>der</strong><br />
Gemeinschaftsschule“ ( 2007 )<br />
4. Parteivorstand DIE LINKE: „Gute Betreuungsangebote für alle Kin<strong>der</strong> <strong>–</strong> ein Beitrag<br />
zur frühkindlichen För<strong>der</strong>ung“ ( 2007 )<br />
5. Günter Wilms: „Das Bildungswesen <strong>der</strong> DDR“<br />
( Arbeitsgemeinschaft Bildungspolitik beim Parteivorstand <strong>der</strong> PDS, Berlin 2004 )<br />
6. Das Bildungswesen in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland <strong>–</strong> ein Bericht des Max-<br />
Planck- Instituts für Bildungsforschung, 2003<br />
7. Bildungspolitik in Deutschland 1945 - 1990<br />
( Bundeszentrale für politische Bildung , 1992<br />
8. „Eine Schule für alle“ <strong>–</strong> Beiträge von Ingrid Wenzler, Günter Wilms, Rolf<br />
Jüngermann, Wolfgang Jantzen und Peter Balnis<br />
( „Marxistische Blätter“ 6/2006 )<br />
9. Günter Wilms: „Historische Quellen <strong>der</strong> <strong>Einheitsschulidee</strong> und des Konzepts des<br />
längeren gemeinsamen Lernens in <strong>der</strong> Gemeinschaftsschule“<br />
( „ Zukunftswerkstatt Schule“ 2/2007 )<br />
10. Günter Wilms: „Länger gemeinsam lernen! Bildungspolitisches Konzept <strong>der</strong><br />
Linkspartei.PDS seit langem, nicht erst seit PISA“<br />
( „Zukunftswerkstatt Schule“ 1/2007 )<br />
11. „Mit <strong>der</strong> Gesamtschule zur einen Schule für alle Kin<strong>der</strong>!“<br />
( Resolution <strong>der</strong> GGG, beschlossen am 18.11.2006 in <strong>der</strong> Gesamtschule<br />
Braunschweig <strong>–</strong> Querum )<br />
12.Werner Kienitz: „Europäische Trends und <strong>der</strong> Eigenweg <strong>der</strong> DDR im<br />
Problemkreis von Einheitlichkeit und Differenziertheit im Schulsystem <strong>der</strong> 60er bis<br />
80er Jahre“<br />
( „Erziehung und Erziehungswissenschaft in <strong>der</strong> BRD und in <strong>der</strong> DDR,<br />
Deutscher Studienverlag Weinheim 1996 )<br />
13.Valentin Merkelbach: „Wie lange noch eine Lehrerbildung für das „nie<strong>der</strong>e“ und<br />
das „höhere Schulwesen“?“<br />
( Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, Institut für Deutsche<br />
Sprache<br />
Prof.Dr.habil. Günter Wilms ist Mitglied des Sprecherrates <strong>der</strong><br />
Bundesarbeitsgemeinschaft Bildungspolitik<br />
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