Universitätsblätter 2012 - Gießener Hochschulgesellschaft
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Julian Mühlbauer<br />
<strong>Gießener</strong><br />
<strong>Universitätsblätter</strong><br />
45 | <strong>2012</strong><br />
Ein „weißer Fleck“ in Europa?<br />
Belarus’-Forschung an der Justus-Liebig-Universität<br />
Emblem der Belarussischen<br />
Staatlichen Universität, Minsk<br />
Weißrussland – das Land zwischen Polen und<br />
Russland, zwischen Litauen und der Ukraine –<br />
spielte und spielt in den mental maps europäischer<br />
Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle.<br />
Die seit 1991 unabhängige Republik Belarus’<br />
schafft es, abgesehen von der Eishockey-<br />
Weltmeisterschaft, allenfalls im Zuge der dortigen<br />
Präsidentschaftswahlen in die westliche<br />
Berichterstattung und mediale Aufmerksamkeit.<br />
Dieses Desinteresse an dem kleinen Staat<br />
in gar nicht so weiter Entfernung spiegelt sich<br />
auch in der deutschen Forschungslandschaft<br />
wider. Das ist schon daran ersichtlich, dass<br />
weitgehende Unklarheit darüber herrscht, wie<br />
Land und Leute eigentlich wissenschaftlich und<br />
politisch korrekt zu bezeichnen sind. So haben<br />
die Begriffe „belorussisch“, „weißrussisch“,<br />
„belarusisch“, „belarussisch“ und „weißruthenisch“<br />
ohne hinreichende Differenzierung Eingang<br />
in den Sprachgebrauch gefunden.<br />
Mit der Berufung von Prof. Dr. Thomas Bohn<br />
auf den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte<br />
mit dem Schwerpunkt Russisches Reich und<br />
Sowjetunion 2009 ging eine Hinwendung zur<br />
Geschichte und Kultur des unbekannten Weißrusslands<br />
an der Justus-Liebig-Universität Gießen<br />
einher.<br />
Am Lehrstuhl entstanden und entstehen seitdem<br />
mehrere Dissertationen zur weißrussischen<br />
Geschichte, die ein breites Themenfeld<br />
abdecken. Rayk Einax nahm in seiner soeben<br />
abgeschlossenen Dissertation die 1950er Jahre<br />
und die Phase der „Entstalinisierung“ in der<br />
Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />
(BSSR) in den Blick. Sein Plädoyer besteht darin,<br />
den unscharfen Begriff der „Entstalinisierung“<br />
nicht nur auf das kulturelle „Tauwetter“<br />
und das Ende stalinistischer Gewalt zu beziehen,<br />
sondern darüber hinaus auch die sozialen<br />
und ökonomischen Umbrüche der 1950/60er<br />
Jahre einzubeziehen. Julian Mühlbauer untersucht<br />
anhand von<br />
Eingaben und Beschwerden<br />
der belarussischen<br />
Bürger die<br />
Kommunikationsmechanismen<br />
und Konflikte<br />
der „Ära<br />
Brežnev“. Das Dissertationsprojekt<br />
fragt<br />
dabei nach den Möglichkeiten<br />
und Grenzen<br />
gesellschaftlicher<br />
und politischer Partizipation<br />
in der BSSR.<br />
Am Institut für Slawistik<br />
nimmt Natallia Savitskaya eine sprachwissenschaftliche<br />
Perspektive ein und versucht, die<br />
belarussische Sprache zwischen Sprachbewahrung<br />
und Pragmatismus zu verorten. Im Ergebnis<br />
soll eine diskursanalytische Untersuchung<br />
der Sprachattitüden in metasprachlichen belarussischen<br />
Online-Diskussionen entstehen.<br />
Einblicke in die neuere historische Forschung in<br />
Belarus bieten die Vorträge belarussischer Wissenschaftler<br />
im Oberseminar Osteuropäische<br />
Geschichte. So war im Wintersemester 2011/12<br />
beispielsweise der Minsker Historiker Zachar<br />
Šybeka zu Gast, der die Kulturgeschichte der<br />
mittelalterlichen Kleinstädte auf dem heutigen<br />
Gebiet Weißrusslands aus der Vergessenheit<br />
holte.<br />
Unter Beteiligung von Prof. Bohn und der Justus-Liebig-Universität<br />
wurde erst kürzlich das<br />
von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt<br />
„Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl“<br />
zum Abschluss gebracht. Es untersuchte<br />
die Katastrophenfolgen des GAUs im ukrainischen<br />
AKW Tschernobyl und setzte dabei<br />
Belarus, die Ukraine, Russland, Litauen und<br />
Deutschland in Beziehung. Aliaksandr Dalhouski<br />
verfasste in Gießen seine Dissertation<br />
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