Universitätsblätter 2012 - Gießener Hochschulgesellschaft
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Leitwissenschaft. Nicht, weil niemand Biologie<br />
mag, und darunter verstehen die meisten einfach<br />
ihre Liebe zu Tieren und Pflanzen, sondern<br />
weil die Fülle des Lebens, die Vielfalt auf<br />
der organismischen Ebene, der zellulären, der<br />
stoffwechselphysiologischen, der genetischen<br />
Ebene und neuerdings die Vielfalt der RNA-<br />
Welt sie überfordert und ängstigt. Kühe sind<br />
angeblich in Teilen der Republik lila, Bären sind<br />
niedlich oder füllen Kondensmilch auf der Alm<br />
ab, Bienen sind gelb-schwarz, so wie die Biene<br />
Maja, Erdnüsse sind Nüsse auf Bäumen, bei<br />
Gewitter sind Eichen zu meiden und Buchen<br />
zu suchen. Es scheint, der Irrtum in Fragen der<br />
Natur ist allgegenwärtig, Wissen um die Zusammenhänge<br />
der Welt geht verloren. Die Ursachen<br />
sind vordergründig schnell ausgemacht:<br />
die sich ständig vermehrende Wissensund<br />
Stofffülle an Schulen und Universitäten<br />
zwingen zu intellektuellen Beschränkungen<br />
bzw. überfordern in ihrer Komplexität den naturwissenschaftlichen<br />
Laien. Hier versucht die<br />
Hermann-Hoffmann-Akademie durch den Einsatz<br />
von Studierenden als Lehrende frühzeitig<br />
Praxiserfahrung aufzubauen. Durch speziell<br />
auf die unterschiedlichen Wissensebenen abgestimmten<br />
Lehrveranstaltungen an der Akademie<br />
werden die vermittelnden Studierenden<br />
selbst zum Lehrer (Spiel den Prof!) und erfahren<br />
in der direkten Rückkopplung den Erfolg<br />
oder Misserfolg ihres Bemühens. In diesem reziproken<br />
Lernprozess von Studierenden und<br />
Schülern wird für die Studierenden als Wissensvermittler<br />
selbst Lehren zum Lernprozess.<br />
Wir sehen dies als die zentrale Voraussetzung,<br />
um im späteren Schulalltag aus dem Verständnis<br />
für die innere Befähigung der Zielgruppe<br />
(Schüler) heraus didaktisch anspruchsvolle und<br />
realitätsorientierte Wissensvermittlung durchzuführen.<br />
Aber was muss eingeschränkt werden, oder<br />
besser gefragt: wie müssen Bildungs- und Lernstrukturen<br />
in der ganz alltäglichen Lehrer- inkl.<br />
der Hochschullehrersituation aufgefasst werden.<br />
Sicher nicht durch Pseudoleuchttürme mit<br />
Schlagworten wie „Sexy Science“, Strukturen<br />
wie die „Pisa-Polizei“ oder Bildungsofferten<br />
unter dem Pidgin-Denglisch: „Come to where<br />
the knowledge is!“<br />
Es ist notwendig, sich als Lehrer und Lehrerin,<br />
Hochschullehrer und Hochschullehrerin einer<br />
radikalen Selbstbeschränkung zu unterwerfen,<br />
die jedoch nicht das Auswählen einzelner Inhalte<br />
bedeutet, sondern das Lehren von<br />
Grundlinien der Wissenschaft. Sie bilden im<br />
Lernprozess des gesamten Lebens die Richtschnur,<br />
oder wie immer etwas naserümpfend<br />
gesagt wird, die Schubkästen. Wer einmal<br />
weiß, wie die Schubkästen in seinem Denken<br />
geordnet sind, der kann sie öffnen und Teile<br />
herausnehmen, sie verbinden, mit ihnen spielen<br />
und experimentieren und am Ende erneut<br />
lösen und wieder einsortieren, oder als neues<br />
Ganzes einer Schublade zuordnen. Dieses<br />
Lehrprinzip muss jeder und jede für sich erarbeiten<br />
und erlernen, unabhängig von seiner<br />
oder ihrer Befähigung oder Profession, auch<br />
dieses ermöglicht die Akademie. In Form eines<br />
aufeinander abgestimmten und aufbauenden<br />
Lehr- und Lernprinzips wird innovativ und in<br />
dieser Form deutschlandweit einzigartig Lernen<br />
durch Lehren als eine 3-stufige Bildungskaskade<br />
verstanden, mit der Wissensvermittlung<br />
bei Schülern und Lehrkompetenz von Studierenden<br />
in einer Institution miteinander verschränkt<br />
werden.<br />
„Viel Stoff wenig Zeit“ heißt ein Lehrbuch für<br />
Hochschullehrer, in dem Strukturen und Prozesse<br />
aufgezeigt werden, dies zu erreichen. Allerdings<br />
ist der Dreh- und Angelpunkt, dass die<br />
Fähigkeit, große Denkzusammenhänge zu lehren<br />
und zu vermitteln, entscheidend von dem<br />
Umfang des Wissens des Lehrenden abhängt.<br />
Es genügt nicht, mit geringem Wissensstand<br />
eine Übersimplifizierung vorzunehmen, dann<br />
entsteht Banalität. Es muss eine innere Zusammenschau<br />
geben aus der Fülle des Einzelwissens,<br />
die dann die große Zusammenschau ermöglicht,<br />
nicht als Ausdruck eines nicht vorhandenen<br />
Wissens, sondern als Resultat eines<br />
übergreifenden Wissens, das die Zusammenhänge<br />
erkannt hat. Im Fach der Speziellen Botanik<br />
ist dieses Problem am besten zu verdeutlichen.<br />
Wenn wir uns alle Algen, Moose, alle<br />
Farne und alle Gymnospermen wegdenken, so<br />
verbleibt ein nicht gerade kleiner Rest von ca.<br />
250.000 Blüten- und Fruchtpflanzen. Nur diese<br />
250.000 Arten haben zu Beginn des 20.<br />
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