10.11.2013 Aufrufe

Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts

Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts

Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Hubert Kiesewetter: Die offene Gesellschaft ohne ihre Feinde 99<br />

leitet aus dieser Überlegung dialektisch<br />

ab, daß die Bürger freiheitlich-demokratischer<br />

Gesellschaften ohne feindliche<br />

Bedrohung nicht mehr „ohne viel Überlegung<br />

gewillt sein (werden) , notfalls<br />

ihr Leben zur ‘Verteidigung der Freiheit’<br />

einzusetzen“. Aber haben uns nicht gerade<br />

die totalitären Systeme <strong>im</strong> Ostblock<br />

gezeigt, daß durch brutale Gewalt und<br />

Einschüchterung Überlebensängste in einem<br />

großen Ausmaß hervorgerufen wurden?<br />

Für kritisch-rationales Denken und<br />

für eine Verteidigung der Freiheit war<br />

dort fast gar kein Platz mehr übrig. Demokratien<br />

dürfen es sich nicht zur Aufgabe<br />

machen, Heldentum zu züchten.<br />

Und kann man nicht vermuten, daß<br />

sich hinter dem folgenden Satz eine antidemokratische<br />

Einstellung verbirgt:<br />

„Die westliche Gesellschaft ist ihrer<br />

Tendenz nach eine todverneinende Gesellschaft,<br />

die den Tod als nichtnatürlichen,<br />

als Opfertod nicht zu rechtfertigen<br />

vermag.“ Jede demokratische<br />

Gesellschaft, so glaube ich, sollte versuchen,<br />

Tötungen zu vermeiden. Durch<br />

menschliches Verhalten erweist sie sich<br />

erst <strong>im</strong> echten Sinn als demokratisch.<br />

Eine humane, eine christliche Gesellschaft<br />

darf weder die To<strong>des</strong>strafe noch<br />

die große Zahl an Verkehrstoten tolerieren.<br />

Gleichzeitig sollte sie bestrebt sein,<br />

das Leben ihrer Bürger zu verlängern.<br />

Die Rechtfertigung <strong>des</strong> „Opferto<strong>des</strong>“ darf<br />

niemals Aufgabe einer freiheitlichen Gesellschaft<br />

sein. Derjenige, der ein solches<br />

Opfer auf sich n<strong>im</strong>mt, aus welchen<br />

Gründen auch <strong>im</strong>mer, kann sich nur vor<br />

seinem eigenen Gewissen rechtfertigen.<br />

Noltes Beispiel enthält <strong>des</strong>halb eine<br />

undemokratische Tendenz.<br />

Welche Konsequenzen zieht Nolte aus<br />

diesem Beispiel? Er schreibt: „Trotz aller<br />

Fortschritte der Medizin und der sozialen<br />

Sicherungen kann keine Frau, die<br />

ein Kind gebiert, die To<strong>des</strong>folge ausschließen,<br />

und in jedem Falle sieht sie<br />

eine Fülle von Opfern vor sich.“ Wir<br />

haben Ende 1992 genau das Gegenteil<br />

erlebt: eine hirntote, 18jährige Frau, die<br />

schwanger war, wurde in der Universitätsklinik<br />

Erlangen über Monate künstlich<br />

ernährt, damit ein Kind leben sollte.<br />

Es starb Mitte November 1992. Ich<br />

glaube eher, daß die meisten Frauen<br />

weniger pess<strong>im</strong>istisch sind als Nolte und<br />

sich auf das neugeborene Kind freuen.<br />

Nur wenige denken daran, daß sie oder<br />

das Kind bei oder nach der Geburt sterben<br />

können. Ausschließen können wir<br />

<strong>im</strong> Zusammenleben von Menschen oder<br />

<strong>im</strong> gegenseitigen Verhältnis von Staaten<br />

überhaupt nichts. Ein Beispiel ist der<br />

wahnsinnige Krieg <strong>im</strong> ehemaligen Jugoslawien,<br />

der Tausende von Toten fordert,<br />

ohne daß die westlichen Gesellschaften<br />

diesem Morden endlich ein<br />

Ende setzen.<br />

Es ist unbestreitbar, daß die „Fortschritte<br />

der Medizin“ etwa die Kindersterblichkeit<br />

in den letzten 150 Jahren<br />

um ein Vielfaches gesenkt haben. Was<br />

will Nolte uns mit seinem Beispiel also<br />

sagen? Er will ohne moralisches Pathos<br />

zeigen, daß eine freiheitliche Gesellschaft<br />

die Opferbereitschaft von Soldaten, Polizisten<br />

und Frauen, die alle nach Nolte<br />

neben Feuerwehrleuten „potentielle<br />

Tote“ sind, nicht mehr überzeugend begründen<br />

kann. Unsere freiheitliche Demokratie,<br />

so folgert er daraus, „ist in all<br />

ihrem Individualismus eine antiindividuelle,<br />

nämlich sterbende Gesellschaft“.<br />

Diesen dialektischen Umschlag,<br />

dem offenbar ein großer Kultur-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!