Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts
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Hubert Kiesewetter: Die offene Gesellschaft ohne ihre Feinde 99<br />
leitet aus dieser Überlegung dialektisch<br />
ab, daß die Bürger freiheitlich-demokratischer<br />
Gesellschaften ohne feindliche<br />
Bedrohung nicht mehr „ohne viel Überlegung<br />
gewillt sein (werden) , notfalls<br />
ihr Leben zur ‘Verteidigung der Freiheit’<br />
einzusetzen“. Aber haben uns nicht gerade<br />
die totalitären Systeme <strong>im</strong> Ostblock<br />
gezeigt, daß durch brutale Gewalt und<br />
Einschüchterung Überlebensängste in einem<br />
großen Ausmaß hervorgerufen wurden?<br />
Für kritisch-rationales Denken und<br />
für eine Verteidigung der Freiheit war<br />
dort fast gar kein Platz mehr übrig. Demokratien<br />
dürfen es sich nicht zur Aufgabe<br />
machen, Heldentum zu züchten.<br />
Und kann man nicht vermuten, daß<br />
sich hinter dem folgenden Satz eine antidemokratische<br />
Einstellung verbirgt:<br />
„Die westliche Gesellschaft ist ihrer<br />
Tendenz nach eine todverneinende Gesellschaft,<br />
die den Tod als nichtnatürlichen,<br />
als Opfertod nicht zu rechtfertigen<br />
vermag.“ Jede demokratische<br />
Gesellschaft, so glaube ich, sollte versuchen,<br />
Tötungen zu vermeiden. Durch<br />
menschliches Verhalten erweist sie sich<br />
erst <strong>im</strong> echten Sinn als demokratisch.<br />
Eine humane, eine christliche Gesellschaft<br />
darf weder die To<strong>des</strong>strafe noch<br />
die große Zahl an Verkehrstoten tolerieren.<br />
Gleichzeitig sollte sie bestrebt sein,<br />
das Leben ihrer Bürger zu verlängern.<br />
Die Rechtfertigung <strong>des</strong> „Opferto<strong>des</strong>“ darf<br />
niemals Aufgabe einer freiheitlichen Gesellschaft<br />
sein. Derjenige, der ein solches<br />
Opfer auf sich n<strong>im</strong>mt, aus welchen<br />
Gründen auch <strong>im</strong>mer, kann sich nur vor<br />
seinem eigenen Gewissen rechtfertigen.<br />
Noltes Beispiel enthält <strong>des</strong>halb eine<br />
undemokratische Tendenz.<br />
Welche Konsequenzen zieht Nolte aus<br />
diesem Beispiel? Er schreibt: „Trotz aller<br />
Fortschritte der Medizin und der sozialen<br />
Sicherungen kann keine Frau, die<br />
ein Kind gebiert, die To<strong>des</strong>folge ausschließen,<br />
und in jedem Falle sieht sie<br />
eine Fülle von Opfern vor sich.“ Wir<br />
haben Ende 1992 genau das Gegenteil<br />
erlebt: eine hirntote, 18jährige Frau, die<br />
schwanger war, wurde in der Universitätsklinik<br />
Erlangen über Monate künstlich<br />
ernährt, damit ein Kind leben sollte.<br />
Es starb Mitte November 1992. Ich<br />
glaube eher, daß die meisten Frauen<br />
weniger pess<strong>im</strong>istisch sind als Nolte und<br />
sich auf das neugeborene Kind freuen.<br />
Nur wenige denken daran, daß sie oder<br />
das Kind bei oder nach der Geburt sterben<br />
können. Ausschließen können wir<br />
<strong>im</strong> Zusammenleben von Menschen oder<br />
<strong>im</strong> gegenseitigen Verhältnis von Staaten<br />
überhaupt nichts. Ein Beispiel ist der<br />
wahnsinnige Krieg <strong>im</strong> ehemaligen Jugoslawien,<br />
der Tausende von Toten fordert,<br />
ohne daß die westlichen Gesellschaften<br />
diesem Morden endlich ein<br />
Ende setzen.<br />
Es ist unbestreitbar, daß die „Fortschritte<br />
der Medizin“ etwa die Kindersterblichkeit<br />
in den letzten 150 Jahren<br />
um ein Vielfaches gesenkt haben. Was<br />
will Nolte uns mit seinem Beispiel also<br />
sagen? Er will ohne moralisches Pathos<br />
zeigen, daß eine freiheitliche Gesellschaft<br />
die Opferbereitschaft von Soldaten, Polizisten<br />
und Frauen, die alle nach Nolte<br />
neben Feuerwehrleuten „potentielle<br />
Tote“ sind, nicht mehr überzeugend begründen<br />
kann. Unsere freiheitliche Demokratie,<br />
so folgert er daraus, „ist in all<br />
ihrem Individualismus eine antiindividuelle,<br />
nämlich sterbende Gesellschaft“.<br />
Diesen dialektischen Umschlag,<br />
dem offenbar ein großer Kultur-