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Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts

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Die freie Meinung 117<br />

Scheue Dich nicht, als Mitläufer angesehen<br />

und eingestuft zu werden. Dies insbesondere<br />

dann, wenn die eigentlich wünschenswerte<br />

Selbstdarstellung als Widerstandskämpfer<br />

wegen <strong>des</strong> Erinnerungsvermögens und<br />

der Mißgunst von Zeitgenossen oder mangels<br />

diesbezüglicher Zeugnisse nicht mit<br />

hinlänglichen Erfolgsaussichten vertreten werden<br />

kann. Schließlich leben wir in der Bun<strong>des</strong>republik<br />

Deutschland, in der seit ihrer<br />

Gründung die Selbstbezichtigung als Mitläufer<br />

unzählige Karrieren bis in höchste<br />

Ämter eröffnet und gefördert hat. Gelegentliche<br />

herabsetzende Bemerkungen zu<br />

diesem Status werden durch die zu erlangenden<br />

Vorteile mehr als wettgemacht.<br />

Belaste Dich nicht mehr als irgend nötig<br />

und zweckmäßig mit überkommenen freundschaftlichen,<br />

kollegialen und sonstigen sogenannten<br />

zwischenmenschlichen Beziehungen,<br />

die der erfolgreichen Mitwirkung an<br />

der Bewältigung der Vergangenheit anderer<br />

Leute und der Verdrängung Deiner eigenen<br />

abträglich sein könnten. Vielmehr schließe Dich<br />

jenen an, die bereits mit sichtbarem Erfolg<br />

ihren rein menschlich verständlichen Eigennutz<br />

als Beweis der Läuterung <strong>im</strong> Sinne<br />

der f. d. G. O. oder gar der überlieferten Grundsätze<br />

<strong>des</strong> Berufsbeamtentums darbieten.<br />

Merke, daß nicht die Art und Schwere der<br />

früheren Vergehen an sich, sondern die<br />

Absichten und Zwecke, aus denen sie erwuchsen,<br />

entscheidend dafür sind, wie<br />

hartnäckig und rigoros jemand aus der Volksgemeinschaft<br />

ausgesondert zu werden verdient.<br />

Unter Deutschen ist es in der Regel günstig,<br />

einen vaterländischen und damit schicksalhaften<br />

Zusammenhang geltend machen zu<br />

können. Da lassen sich auch Mord und<br />

Totschlag unter „Verstrickungen“ erledigen<br />

und behindern nicht die berufliche Karriere<br />

oder soziale Stellung. Dagegen wirkt es<br />

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überwiegend rufschädigend, wenn linke,<br />

fremdländische oder überhaupt undeutsche<br />

Absichten und Handlungen vorliegen oder<br />

auch nur glaubwürdig unterstellt werden können.<br />

Zeichne die umstrittene Vergangenheit in<br />

kräftigen Grau- und Schwarztönen. Jeder<br />

Zuhörer oder Leser möge das erlebte Grauen,<br />

den alltäglichen Terror und die stets allgegenwärtige<br />

Furcht, überhaupt die ganze noch<br />

nie dagewesene Unmenschlichkeit der Diktatur<br />

(<strong>des</strong> Unrechtsreg<strong>im</strong>es, <strong>des</strong> Stasi-Staats,<br />

der SED-Herrschaft u. ä.) in vollen Zügen<br />

erfassen und nacherleben. Aus den Medien<br />

kannst Du entnehmen, daß auf diesem Gebiet<br />

pingelige Vorstellungen von Wahrheit und<br />

Ausgewogenheit nicht gefragt sind und<br />

kleinlich oder beschönigend wirken. Schließlich<br />

ist aus solcher Schilderung zu entnehmen,<br />

wie befreit und beglückt die Gegenwart erfahren<br />

wird. Abwegig und bösartig erscheinen<br />

damit alle Versuche, diese mit fadenscheinigen<br />

Vorwänden herabzusetzen - beispielsweise<br />

mit Anspielungen auf Arbeitslosigkeit,<br />

Berufsverbote, Verbrechensentwicklung,<br />

Mieterhöhungen und Obdachlosigkeit<br />

oder auf Randerscheinungen wie eine<br />

angebliche Kinder- und Frauenfeindlichkeit.<br />

Beachte rechtzeitig, daß Du Dich nicht in<br />

weniger wohlgelittenen Minderheiten wiederfin<strong>des</strong>t<br />

(„Unterprivilegierte“ heißt man sie<br />

<strong>im</strong> gehobenen akademischen Deutsch, ohne<br />

sich ob der absurden Wortbildung zu genieren).<br />

Zumin<strong>des</strong>t sollte es auch <strong>im</strong> ungünstigsten<br />

Fall gelingen, noch Minoritäten unter<br />

sich zu wissen. Aus der Distanz zu<br />

ihnen wächst Hoffnung auf neue Chancen<br />

und Aufstieg sowie auf die Rückerstattung,<br />

wenn schon nicht eines verlorenen Grundbesitzes,<br />

Werkes oder Mietshauses, zumin<strong>des</strong>t<br />

doch der bürgerlichen Ehrenrechte,<br />

deren auch die Ostdeutschen irgendwann teilhaftig<br />

sein dürfen.<br />

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