Ernst Topitsch: Naturrecht im Wandel des Jahrhunderts

106 AUFKLÄRUNG UND KRITIK März 1994 Nr. 1
Die freie Meinung
Hermann Kraus:
Warum ich heute noch Sozialist bin
Die von Marx initiierten wissenschaftlichen
Erkenntnisse des Historischen und
Dialektischen Materialismus wurden durch den
Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“
oder Staatssozialismus in Europa nicht
nur nicht widerlegt, sondern ganz im Gegenteil
nur allzu grandios bestätigt. Das schließt
dialektischerweise nicht aus, sondern stachelt
vielmehr dazu an, diese sozialistische Theorie
- und Praxis - (einmal mehr) weiterzuentwickeln,
zu erneuern. Dabei ist die Frage
recht unwesentlich, ob das darauf aufbauende
Theoriesystem namens Marxismus als
wissenschaftlicher Sozialismus beizubehalten
ist oder nicht. Jedenfalls wurde das antagonistisch-widersprüchliche
Verhältnis zwischen
Sozialismus und Kapitalismus durch den vorübergehenden
Triumph des letzteren über den
offensichtlichen (allenfalls) Früh-Sozialismus
ebenso auf die Spitze getrieben, wie es im
wünschenswerteren umgekehrten Fall des Triumphes
des Sozialismus über seinen antagonistischen,
d.h. feindlichen Gegensatz zu verzeichnen
gewesen wäre.
Die Dialektik bestätigend,...
...löste eben dies eine ungeahnt rasante
Weiterentwicklung des wissenschaftlichen
Sozialismus in Theorie und hoffentlich, sicherlich
bald auch in Praxis aus. Die typisch antidialektische
Erstarrung des neueren Marxismus
in staatlich verordnetem geisttötenden
Dogmatismus wurde mitsamt der „marxistischen“
Staatsgewalttäter zumindest in der DDR
hinweggefegt.
Die materialistische Bestätigung...
...von Opa Marx und seinen eher
antistaatlichen Apo- JüngerInnen in unserer
Zeit ist dabei: Es hat sich - vorerst!- wieder
einmal in der Weltgeschichte das produktivere,
rationeller arbeitende Ökonomiesystem
durchgesetzt; heute eben der hierin wahrscheinlich
sogar unschlagbare Kapitalismus. Er
bietet auch den arbeitenden Menschen - nicht
nur ihren Ausbeutenden - höheren Konsum
(nicht nur) von tiefstmaterieller Nahrung,
Kleidung, Wohnung, also einen, nach herkömmlicher
Definition, "höheren Lebensstandard"
als im (Staats-) Sozialismus.
Aber eben nur vorerst...
ist das der "Fall", allein schon deswegen:
Gerade die spezifisch marxistische Theorie
ist bereits deshalb zu erneuern, weil das altehrwürdige
ökonomische Wettbewerbsprinzip
(siehe oben), nach welchem bisher die jeweils
an die sich ändernden Produktivkräfte angepaßteren
Gesellschaftssysteme sich durchsetzten,
in dem heutigen geschichtlichen Entwicklungsabschnitt
an seinem von Marx nicht
voraussehbaren Ende angelangt ist. Das heißt:
eine weitere ökonomische Eskalation - der
schadstoffreichen Industrieproduktion, man
denke nur an die Autoindustrie - ist überhaupt
nicht mehr wünschenswert, auf die Dauer
auch gar nicht mehr möglich. Denn sie vernichtet
unsere natürliche Umwelt, die materielle
Grundlage auch der höchstgeistigen,
der menschlichen Gattung, die menschliche
Gesellschaft überhaupt. An die Stelle des
ökonomischen Wettbewerbsprinzips tritt in der
geschichtlichen Entwicklung der Menschheit
nun ebenso notwendig das ökologische.
Nach diesem neuen Wettbewerbsprinzip
tritt an die Stelle des heute noch in Europa
wie US-Amerika, Japan triumphierenden Konsumismus
der kapitalistischen Zweidrittelgesellschaft
ein eher gegenteilig funktionierendes
neues Gesellschaftssystem - bei Strafe
des Untergangs der Menschheit (oder ihres
Rückfalls in die Barbarei, wie schon im Kom-