GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz
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BILDUNGSPOLITIK<br />
„REALSCHULE PLUS“ = „BBS MINUS“<br />
Mit einer Mischung aus Entsetzen, Wut und Resignation wurde<br />
der von Bildungsministerin Ahnen nach monatelanger Vorbereitungsarbeit<br />
auf höchster Geheimhaltungsstufe vorgelegte<br />
Entwurf zu strukturellen Veränderungen der allgemein bildenden<br />
Schulen an den berufsbildenden Schulen in <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong><br />
aufgenommen. Aus der Sicht der beruflichen Bildung lautet die<br />
zwischen den Zeilen zu lesende Botschaft: Es gibt zwei Klassen<br />
von Menschen - die „theoretisch Begabten“ und die „praktisch<br />
Begabten“ - und die „intellektuell Minderbegabten“ und leistungsschwachen<br />
Jugendlichen gehen in die berufliche Bildung.<br />
Die berufsbildenden Schulen werden auf ihr Kerngeschäft, die<br />
Teilzeitberufsschule im Dualen System, sowie die Benachteiligtenförderung,<br />
zurückgeführt.<br />
Nachdem die seit langem bestehenden Herausforderungen<br />
der demografischen Entwicklung, das<br />
veränderte Bildungswahlverhalten und die sinkende<br />
Akzeptanz der Hauptschulen jahrelang mit der<br />
stereotypen Abwehr einer Schulstrukturdiskussion<br />
für die Sekundarstufe I beantwortet wurden, mussten<br />
endlich Konsequenzen aus dem dramatischen<br />
Rückgang der SchülerInnenzahlen an Hauptschulen<br />
gezogen werden. Aus den steigenden Qualifikationsanforderungen<br />
des Beschäftigungssystems an alle ArbeitnehmerInnen<br />
in einer Wissensgesellschaft ziehen<br />
immer mehr Eltern die richtige Konsequenz, dass sie ihren Kindern nur<br />
mit einem möglichst hohen Bildungsabschluss gute Zukunftsperspektiven<br />
sichern können. Die restriktiven Errichtungsbedingungen für<br />
die von immer mehr Eltern gewünschten Integrierte Gesamtschulen<br />
führten deshalb zu einem Run auf das Gymnasium und aufgrund<br />
der dort herrschenden Selektionspraxis zu Schulversagen, Klassenwiederholungen,<br />
Rückstufungen und dem damit verbundenen Verlust an<br />
Selbstwertgefühl.<br />
Da diese Probleme auch im Ministerium bekannt sind, bestand die<br />
Hoffnung, dass die zuständige Ministerin nun endlich den Mut finden<br />
würde, die frühe Aufteilung der SchülerInnen auf unterschiedliche<br />
Schularten sowie die Leistungsniveaudifferenzierung innerhalb der<br />
Schulen durch individuelle Förderung aller SchülerInnen zu beenden.<br />
Einige Zielsetzungen hörten sich dann auch ganz positiv an: „Bildungsabschlüsse<br />
in zumutbarer Entfernung sichern“, „Weitergehende<br />
Optionen für längeres gemeinsames Lernen“, „Individuelle Förderung<br />
für alle Schülerinnen und Schüler durch Förderkonzepte mit gezielter<br />
Ressourcen-Zuweisung“, „Noch gezieltere Förderung leistungsschwächerer<br />
Schülerinnen und Schüler“, „Drastische Reduzierung der<br />
Schulabbrecherquote (Keine und Keiner darf verloren gehen)“, „Abschluss<br />
mit besserem Übergang - Stärkung der Berufsorientierung“. Das<br />
Ministerium schien endlich die richtigen Konsequenzen aus den mit<br />
jeder PISA-Untersuchung neu bestätigten Mängeln des Schulsystems<br />
zu ziehen.<br />
nach der 9. Klasse, wobei für abschlussgefährdete SchülerInnen spezielle<br />
Angebote bis hin zum Projekt „Keiner ohne Abschluss“ in einem optionalen<br />
10. Schuljahr vorgesehen sind. Die besondere Förderung dieser<br />
SchülerInnen besteht - welch eine Überraschung - in einer vertieften<br />
Berufsorientierung mit einem wöchentlichen Praxistag im Betrieb. Es<br />
ist schon absurd: Ausgerechnet die „funktionalen AnalphabetInnen“<br />
mit grundlegenden Problemen in der Lese-, Schreib- und Mathematikkompetenz<br />
erhalten keine zusätzliche schulische Förderung in diesen<br />
Bereichen, sondern sie werden aus der Schule herausgenommen und verbringen<br />
Praxistage in Betrieben. Gut organisierte Betriebspraktika sind<br />
sicher geeignet, die Lernmotivation in der Schule zu stärken - aber was<br />
können sie zur Beseitigung der Grundbildungsdefizite beitragen? Und<br />
wieso wurde nicht auf die Erfahrungen der berufsbildenden Schulen<br />
und die Förderkonzepte der Bundesagentur für Arbeit hinsichtlich der<br />
Benachteiligtenförderung zurückgegriffen?<br />
Darüber, was nach dem Abschluss der Hauptschule mit diesen jungen<br />
Menschen geschehen soll, gibt das neue Konzept keinen Aufschluss. Es<br />
ist zu vermuten, dass die VerliererInnen der gegliederten Sekundarstufe<br />
I nach wie vor in einem - neuerdings euphemistisch als „Übergangsmanagement“<br />
bezeichneten - System von Warteschleifen (von der<br />
Bundesagentur für Arbeit und damit von der Arbeitslosenversicherung<br />
finanziert!) und danach in Minijobs oder in Hartz IV landen. Der<br />
Anteil an Arbeitsplätzen, für die „praktisch Begabte“ offensichtlich<br />
ausgebildet werden sollen, geht in unserer Wissensgesellschaft immer<br />
weiter zurück. Und auch in Handwerksberufen reicht es schon längst<br />
nicht mehr aus „geschickte Hände“ zu haben.<br />
Damit findet das Aussortieren allerdings immer noch kein Ende: Wer<br />
den qualifizierten Sekundarabschluss I erhält und von der neuen<br />
„Realschule plus“ als „bildungsfähig“ betrachtet wird, darf dann die<br />
Fachhochschulreife an seiner Realschule erwerben. Die leistungsschwächeren<br />
AbsolventInnen werden - natürlich - wieder in die „weniger<br />
anspruchsvolle“ Berufsbildung abgeschoben.<br />
Die Ansiedlung einer Fachoberschule - offensichtlich als Köder erforderlich,<br />
damit die Realschulen sich überhaupt darauf einlassen, die<br />
„praktisch begabten HauptschülerInnen“ aufzunehmen - stellt einen<br />
gravierenden Systembruch in der beruflichen Bildung dar. Man könnte<br />
ja noch verstehen, dass die Realschule nach zwei weiteren Schuljahren<br />
mit allgemeinen Inhalten eine allgemeine Fachhochschulreife vergeben<br />
Und das Ergebnis?<br />
Das längere gemeinsame Lernen besteht aus einer „gemeinsamen Orientierungsstufe“,<br />
in der in einer neuen „kooperativen Realschule“ die<br />
Kinder für die nach wie vor bestehenden Bildungsgänge „Realschule“<br />
und „Hauptschule“ sortiert werden. Danach endet dann ausgerechnet<br />
für die leistungsschwächeren SchülerInnen der Hauptschulbildungsgang<br />
4<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 12 / 2007