Andreas Symank - FEG Zürich-Helvetiaplatz
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weitergeht? „Und wenn er nicht gestorben ist, dann sucht der Mann noch heute.“ Denn dieses<br />
Teilchen gibt es nicht!<br />
Noch ein letztes simples Beispiel hierzu:<br />
Der Tagungsleiter stellt die Teilnehmer vor. „Unter uns befindet sich ein<br />
ausgewiesener Fachmann“, sagt er.<br />
Dann informiert er über die Tagungsstätte: „Unter uns befindet sich der Keller.“<br />
Und schließlich erklärt er: „Leider war ich letzte Woche krank. Es war mir nur unter<br />
großen Schmerzen möglich, mich für diesen Kurs vorzubereiten.“<br />
Dreimal verwendet er die Präposition „unter“, jedesmal mit einem völlig anderen Inhalt.<br />
Natürlich kann man die drei Aussagen in jede Sprache der Welt übersetzen, aber es wäre ein<br />
großer Zufall, wenn es auch nur eine einzige Sprache gäbe, in der für „unter“ wie im<br />
Deutschen jedesmal dasselbe Wort verwendet würde.<br />
Das alles macht deutlich: Beim Übergang von einer Sprache in eine andere bleiben die<br />
Bedeutungsfelder der Wörter nicht deckungsgleich; sie sind in jeder Sprache wieder anders<br />
organisiert. Diese Deckungsungleichheit ist der Normalfall. Deckungsgleichheit, der<br />
Sonderfall, ist gewöhnlich nur bei der regulierten Fachterminologie anzutreffen. Wer eine<br />
konkordante Übersetzung anstrebt, die einen bestimmten Ausdruck der einen Sprache immer<br />
mit demselben Ausdruck der anderen Sprache wiedergibt, nimmt eine grundlegende Eigenschaft<br />
natürlicher Sprachen nicht zur Kenntnis.<br />
Was ich bis jetzt ausgeführt habe, hat Sie hoffentlich misstrauisch gemacht gegenüber den<br />
Wort-für-Wort-Übersetzungen, die angeblich besonders genau sind. Wenn eine englische<br />
Übersetzung das deutsche „Gang“ immer mit – sagen wir – „way“ wiedergibt, hat der Leser<br />
nur einen einzigen Vorteil: Er weiß jetzt, wo in der deutschen Vorlage überall „Gang“ steht.<br />
Was er nicht weiß (und ohne gute Deutschkenntnisse auch gar nicht wissen kann), ist die<br />
Bedeutung im jeweiligen Zusammenhang („way“ trifft jedenfalls nur ganz gelegentlich zu).<br />
Der formale Gewinn wird durch den inhaltlichen Verlust zunichte gemacht – und auf den<br />
Inhalt kommt es doch vor allem an!<br />
Aussagen sind eindeutig<br />
Gehen wir einen Schritt weiter. Ich sagte vorhin, dass uns die Vieldeutigkeit der Wörter<br />
verwirrt. Unserem Empfinden nach ist Sprache doch dazu da, dass man sich eindeutig<br />
ausdrückt. Recht haben Sie! Die Vieldeutigkeit existiert nur im Wörterbuch, wo die<br />
wichtigsten möglichen Bedeutungen aufgelistet sind. Beim Sprachvollzug hingegen wird in<br />
der Regel immer nur eine dieser Bedeutungen aktualisiert. Und deshalb haben wir<br />
normalerweise auch keine Verständigungsprobleme.<br />
Woher wissen wir denn, welche Bedeutung jeweils die richtige, die gemeinte ist? Ich könnte<br />
auf das Gang-Beispiel zurückgreifen, aber ich nehme zur Abwechslung mal was anderes, ein<br />
Verb: „eingehen“. Was bedeutet „eingehen“? Wahrscheinlich würde es Ihnen schwer fallen,<br />
so aus dem Stegreif eine gute Definition zu geben. Aber jetzt geben Sie mal acht. Ich verbinde<br />
dieses etwas unklare Verb mit verschiedenen Subjekten:<br />
(a) Der Pullover ist eingegangen [nach zu heißer Wäsche; er ist geschrumpft].<br />
(b) Der Wellensittich ist eingegangen [nach dem Verzehr von Mottenkugeln; er ist<br />
gestorben].<br />
(c) Der Geldbetrag ist eingegangen [auf dem Konto; er ist eingezahlt worden].<br />
(d) Die Gegenpartei ist darauf eingegangen [auf einen Versöhnungsvorschlag; sie hat<br />
zugestimmt].<br />
Bei jedem dieser Beispielsätze wissen wir sofort, was „eingehen“ bedeutet. Es bedeutet jedes<br />
Mal etwas anderes (etwas völlig anderes!), aber wir haben keinerlei Problem, auf die jeweils<br />
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