Andreas Symank - FEG Zürich-Helvetiaplatz
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<strong>Andreas</strong> <strong>Symank</strong><br />
EINE BIBEL – VIELE ÜBERSETZUNGEN<br />
Wer die Wahl hat, hat die Qual …<br />
Seminar<br />
<strong>FEG</strong> <strong>Zürich</strong>-<strong>Helvetiaplatz</strong><br />
30.10.2010<br />
„Bibel“ kommt aus dem Griechischen und heißt ganz einfach „Buch“. 1 Die Bibel ist das Buch<br />
schlechthin, das „Buch der Bücher“. Ein einzigartiges Buch. Das Buch, durch das Gott zu uns<br />
spricht. Aber die Bibel ist noch in einem anderen Sinn „das Buch der Bücher“. Sie ist ein<br />
Buch, das aus vielen Büchern besteht. Eine Bibliothek, die 66 Bücher umfasst.<br />
Eines dieser Bücher ist der Brief des Apostels Paulus an die Christen in Philippi.<br />
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Hier sehen Sie ein Stück von diesem Brief, Kapitel 2, die Verse 6-11, den berühmtesten Teil<br />
des Briefes, das sogenannte carmen Christi, das „Lied“ vom Abstieg und Aufstieg von Jesus<br />
Christus. Hier sehen Sie aber auch sehr konkret, wieso es nötig ist, die Bibel zu übersetzen.<br />
Der Grund ist ganz einfach: Weil wir nicht alle Griechisch können. Die Originaltexte der<br />
Bibel sind in Sprachen abgefasst, die den meisten von uns vollkommen fremd sind –<br />
Griechisch (genauer: Altgriechisch), Hebräisch (genauer: Althebräisch) und Aramäisch.<br />
Deshalb müssen die biblischen Bücher in eine Sprache übersetzt werden, die wir verstehen,<br />
am besten in unsere Muttersprache.<br />
Übersetzen ist nötig<br />
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Müssen sie wirklich übersetzt werden? Nur weil wir nicht Griechisch können? Diese<br />
Begründung ist unvollständig. Es gibt noch einen Grund hinter diesem Grund: Die Texte<br />
müssen übersetzt werden, weil sie uns interessieren (und nicht nur, weil wir die fremde<br />
Sprache nicht verstehen).<br />
1 Eigentlich: Bibel < lateinisch biblia = die Bücher (nämlich der Heiligen Schrift) < griechisch / ta<br />
biblía, Plural zu / to biblíon = das Buch.
Als Paulus seine Briefe schrieb, gab es ja noch unzählige andere Leute, die griechische Texte<br />
verfassten. Denken Sie an die Korrespondenz der Geschäftsleute. Oder an die Manuskripte<br />
der Dozenten. Oder an den Rechenschaftsbericht eines römischen Staatsbeamten. Oder an den<br />
Notizzettel eines Handwerkers. Alles griechische Texte! Alles Texte, die wir nicht lesen<br />
können. Müssen sie deshalb übersetzt werden? Für einen Altertumsforscher vielleicht. Aber<br />
für uns? Wohl kaum. Dafür interessieren sie uns zu wenig. Uns fehlt die Zeit, uns intensiv mit<br />
jener längst vergangenen Epoche abzugeben.<br />
Aber die Bibel interessiert uns. Wir möchten wissen, was in diesem „Buch der Bücher“ steht.<br />
Und deshalb gibt es Bibelgesellschaften, die Übersetzer anstellen und dafür sorgen, dass der<br />
heutige Leser die Bibel in seiner Sprache lesen kann.<br />
Damit sind wir bereits bei einem eminent wichtigen Punkt: Wer die Bibel übersetzen will,<br />
muss das so genau wie nur irgend möglich tun. Den deutschen Leser interessiert nicht, wie<br />
Herr <strong>Symank</strong> in religiösen Fragen denkt; er möchte wissen, was der Prophet Jesaja, was der<br />
Apostel Petrus, was Jesus Christus selbst in Sachen Religion zu sagen hat. Der Übersetzer ist<br />
kein Autor. Er erfindet keinen Text. Er findet einen Text vor und hat diesen so sorgfältig und<br />
gewissenhaft wie möglich wiederzugeben.<br />
Eigentlich versteht sich das von selbst. Wenn ich eine Abhandlung des spanischen<br />
Philosophen Ortega y Gasset in englischer Übersetzung lese (ich kann nicht Spanisch), setze<br />
ich natürlich voraus, dass mir die Gedanken von Ortega y Gasset präsentiert werden und nicht<br />
die des Übersetzers. Wenn ich einen ins Deutsche übersetzten Roman des russischen<br />
Schriftstellers Dostojewski lese (ich kann nicht Russisch), gehe ich davon aus, dass ich es hier<br />
mit Dostojewski zu tun habe und nicht mit den Ansichten des Übersetzers. Der Leser eines<br />
übersetzten Werkes erwartet zu Recht, dass die Übersetzung den sprachlichen Graben<br />
überbrückt und ihn so nah wie möglich an das Original heranführt.<br />
Bei der Bibel ist es genauso, und hier ist diese Erwartung noch einmal so wichtig: Nach dem<br />
Selbstverständnis der Bibel handelt es sich beim Inhalt dieses Buches um Offenbarung, um<br />
Mitteilungen des einzig wahren Gottes. Es handelt sich um Worte der Wahrheit, um<br />
autoritative Aussagen der allerhöchsten Instanz. Kein Mensch – auch nicht der Übersetzer –<br />
käme von sich aus auf diese Gedanken. Kein Mensch – erst recht nicht der Übersetzer – dürfte<br />
es wagen, an diesen Gedanken auch nur das Geringste zu ändern! Der Bibelübersetzer ist –<br />
um einmal dieses etwas altertümliche Bild zu gebrauchen – wie ein Herold, der eine Botschaft<br />
seines Königs unter die Leute bringt. Ein Herold ist nicht Ausgangspunkt der Botschaft, er ist<br />
nur Vermittler. Wehe, er verfälscht etwas! Sein Auftrag ist es ja gerade, das königliche Wort<br />
so genau und so klar wie möglich weiterzugeben. Und die Menschen, die ihm zuhören, sehen<br />
nicht den Herold vor sich, sondern den König. Was der Herold zu ihnen sagt, sagt ihnen der<br />
König. Wenn es so etwas wie ein übersetzerisches Berufsethos gibt, dann hat sich der<br />
Bibelübersetzer doppelt und dreifach daran zu halten. Er muss bereit sein, sich ganz und gar<br />
zurückzunehmen und ausschließlich die biblischen Autoren zu Wort kommen zu lassen.<br />
Damit haben wir eine deutliche Abgrenzung vorgenommen, und zwar gegenüber solchen<br />
Texttransformationen, die bewusst etwas anderes wollen, als eine genaue Übersetzung zu<br />
liefern.<br />
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Denken Sie z. B. an eine Kinderbibel. Erstens wird dort nicht der gesamte biblische<br />
Stoff dargeboten, sondern eine Auswahl getroffen. Zweitens werden die ausgewählten<br />
Stücke z. T. sehr stark gerafft und z. T. sehr stark ausgeschmückt. Man bemüht sich,<br />
den Text dem kindlichen Aufnahmevermögen anzupassen. Daran ist überhaupt nichts<br />
Verkehrtes. Nur sollte man das nicht als Übersetzung bezeichnen. Es handelt sich um<br />
eine Bearbeitung.<br />
Denken Sie – um einen Schritt weiter zu gehen – an ein Theaterstück oder ein<br />
musikalisches Bühnenwerk zu biblischen Stoffen. Hier wird der Bibeltext teilweise<br />
2
völlig umgeschrieben, auf Rollen verteilt, dramaturgisch neu geformt. Wieder: Das ist<br />
völlig legitim, solange man klarstellt, dass es sich um eine Bearbeitung handelt und<br />
nicht um den eigentlichen Text.<br />
3<br />
Luca Signorelli: Kreuzigung Christi, um 1507<br />
<br />
Oder denken Sie – jetzt lösen wir uns völlig von der Sprache – an die bildliche<br />
Darstellung einer biblischen Erzählung. Im späten Mittelalter gab es die sogenannten<br />
bibliae pauperum, die „Armenbibeln“ – bebilderte Bibeln für die „Armen im Geist“,<br />
d. h. für alle diejenigen, die nicht lesen und schreiben konnten, für die Analphabeten.<br />
Auch die vielen biblischen Geschichten in den bunten Kirchenfenstern hatten unter<br />
anderem diese Funktion. Noch einmal: Solche Darstellungen können durchaus<br />
biblische Inhalte vermitteln, aber natürlich handelt es sich nicht um Übersetzungen im<br />
eigentlichen Sinn. Fachsprachlich gesagt, hat hier eine intersemiotische Transmutation<br />
stattgefunden, der Wechsel von einem Zeichensystem (Buchstaben) in ein anderes<br />
(Bilder). Intrasemiotische Bearbeitungen bleiben innerhalb desselben Zeichensystems<br />
(eine Kinderbibel z. B); intersemiotische Bearbeitungen überschreiten diese Grenze (z.<br />
B. Gemälde, Comics oder Filme zur Bibel).<br />
Texttransformation<br />
Übersetzung<br />
Bearbeitung<br />
intrasemiotisch<br />
z. B. Kinderbibel<br />
intersemiotisch<br />
z. B. Gemälde
4<br />
Alle diese Übertragungs-Vorgänge kann man unter dem Oberbegriff der Texttransformation<br />
zusammenfassen. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange bei den Unterbegriffen klar<br />
zwischen Übersetzung einerseits und Bearbeitung/Umformung andererseits unterschieden<br />
wird. Genau das ist heutzutage in manchen Wissenschaftskreisen nicht mehr der Fall. Man<br />
postuliert fließende Übergänge zwischen den verschiedenen Kategorien; man hebt die klaren<br />
Grenzen auf. Letztlich hat das damit zu tun, dass man den Ausgangstext grundsätzlich als ein<br />
vieldeutiges Gebilde ansieht. Er enthält – so wird gesagt – keine eindeutige Botschaft, sein<br />
Sinn ist nicht festgelegt. Möglich, dass der Autor etwas mitteilen wollte, aber das ist nicht<br />
massgebend. Vielmehr entscheidet erst der einzelne Leser, welche Auslegung für ihn in seiner<br />
Situation die richtige ist.<br />
Es gibt einige durchaus richtige Beobachtungen bei dieser sogenannten reader-response-<br />
Kritik (oder Rezeptionsästhetik, wie sie auch genannt wird). So stimmt es natürlich, dass mein<br />
Zugang zum Bibeltext immer ein Stück weit subjektiv ist. Man hat beim Bibellesen immer<br />
eine Brille auf. Sinnvoll lesen heißt verstehen, und damit ich verstehe, muss ich interpretieren,<br />
und jeder interpretiert wieder ein wenig anders. Aber – und das ist entscheidend: Wir können<br />
miteinander über unser unterschiedliches Verständnis diskutieren! Wir können unsere<br />
Interpretations-Ergebnisse miteinander vergleichen, im Text nach Argumenten pro und contra<br />
suchen und so nach und nach zu einer einheitlichen Auffassung kommen. Der<br />
Sprachwissenschaftler, der eine Vorlesung über die Rezeptionsästhetik hält, erwartet ja auch,<br />
dass seine Zuhörer ihn verstehen. Wenn er davon ausgehen müsste, dass jeder wieder etwas<br />
ganz anderes aus seinem Vortrag heraushört, brauchte er ihn gar nicht erst zu halten. Nein,<br />
notfalls lässt er Rückfragen zu oder schiebt Erklärungen nach, um sicherzustellen, dass er<br />
richtig verstanden wird! Genauso darf auch ein biblischer Autor erwarten, dass man ihn so<br />
versteht, wie er es beabsichtigt hat.<br />
Übersetzen ist möglich<br />
Machen wir uns nun also daran, den Bibeltext so genau wie möglich zu übersetzen. Was sich<br />
dabei abspielt, lässt sich sehr schön veranschaulichen, wenn man auf den Doppelsinn des<br />
deutschen Wortes „übersetzen“ zurückgreift.<br />
Der Übersetzer ist gewissermaßen ein<br />
Fährmann; der die sprachliche Ladung vom<br />
einen Ufer des Flusses ans andere übersetzt.<br />
Er übersetzt, indem er übersetzt. Der Fluss<br />
Übersetzer = Fährmann<br />
von einer Sprache in die andere übersetzen<br />
von einem Ufer ans andere übersetzen<br />
stellt die Sprachgrenze dar – auf der einen Seite wird Griechisch gesprochen, auf der anderen<br />
Seite Deutsch. Und der Übersetzer vermittelt zwischen den beiden Sprachwelten.<br />
Ist eine solche Vermittlung überhaupt möglich? An dieser Stelle kommt eine grundlegende<br />
Beobachtung ins Spiel: Jede sprachliche Äußerung (egal, ob<br />
Form und Inhalt – die zwei<br />
mündlich oder schriftlich) lässt sich von zwei Seiten her<br />
Seiten der Sprach-Medaille<br />
betrachten – von ihrer Form und von ihrem Inhalt her.<br />
Beide Aspekte sind strikt auseinander zu halten und gehören doch untrennbar zusammen.<br />
Form und Inhalt, Ausdruck und Bedeutung – die zwei Seiten der Sprach-Medaille.<br />
Als ich mich für dieses Seminar vorbereitete, habe ich mir zunächst mal überlegt, worüber ich<br />
zu Ihnen sprechen könnte. Dann habe ich mir die verschiedensten Gedanken zu dem<br />
gewählten Thema gemacht. Und jetzt stehe ich hier. Ich könnte einfach stumm dastehen und<br />
mir weiterhin Gedanken machen. Mein Kopf wäre voll interessanter Inhalte. Aber davon<br />
hätten Sie rein gar nichts. Damit Sie was davon haben, muss ich meine Gedanken zum<br />
Ausdruck bringen. Und zwar muss ich ihnen eine Form geben (mündlich oder schriftlich), mit<br />
der Sie etwas anfangen können. Konkret heißt das: Ich muss Deutsch zu Ihnen sprechen.<br />
Damit habe ich dem Inhalt eine für Sie angemessene Form gegeben; Sie verstehen, was ich<br />
Ihnen sagen möchte. Nehmen wir mal an, ich würde plötzlich beschließen, die Form – also
die Sprache – zu wechseln und den Rest des Vortrags auf Englisch zu halten. Und nehmen<br />
wir mal an, kein einziger von Ihnen könnte Englisch. Was jetzt? Ich würde dieselben<br />
Gedanken äußern, und trotzdem würde niemand mich verstehen!<br />
Haben Sie schon mal zugesehen, wenn jemand mit Zeichensprache zu einem Taubstummen<br />
spricht? Die Bewegungen und Gesten als solche sind uns nicht fremd; wir könnten sie alle<br />
nachahmen. Und trotzdem wissen wir nicht, was da mitgeteilt wird. Wieso? Weil es für uns<br />
im wahrsten Sinn des Wortes „Sinn-lose“ Bewegungen sind, Bewegungen, mit denen keine<br />
Bedeutung verknüpft ist. Es sind für uns keine Zeichen.<br />
Nicht nur die Taubstummensprache ist eine Zeichensprache; alle Sprachen sind<br />
Zeichensprachen. Wenn man z. B. ein Wörterbuch aufschlägt, findet man dort Wörter<br />
aufgelistet – sozusagen ein Zeicheninventar der deutschen Sprache. Die Wort-Zeichen<br />
verbinden wir mit bestimmten Inhalten, sie sind Bedeutungsträger. In einem englischen<br />
Lexikon sind ebenfalls Wörter aufgelistet. Aber solange jemand kein Englisch kann, ist das<br />
für ihn nur Druckerschwärze. Die Zeichen bedeuten ihm nichts; er ist sozusagen nicht in das<br />
Zeichensystem der Angelsachsen eingeweiht.<br />
Obwohl Engländer und Deutsche alle ihre Wörter aus denselben 26 Buchstaben desselben<br />
Alphabets zusammensetzen, sehen ihre jeweiligen Zeichen meist sehr unterschiedlich aus.<br />
Manchmal stößt man in beiden Lexika auf ein Zeichen, das tupfengleich aussieht. Und<br />
trotzdem bedeutet es für einen Engländer etwas ganz anderes als für einen Deutschen. Das<br />
Wort ist im jeweiligen Zeichensystem mit anderen Inhalten verknüpft.<br />
Beispiele:<br />
deutsch/englisch<br />
- NOT (Substantiv „Bedrängnis“ / Partikel „nicht“)<br />
- GIFT (Substantiv „schädlicher Stoff“ / Substantiv „Geschenk“)<br />
deutsch/französisch<br />
- MANCHE (Indefinitpronomen „einige“ / Substantiv „Ärmel/Ärmelkanal“)<br />
- TUER (Substantiv „Eingang“ / Verb „töten“)<br />
Gehen wir nochmals zum letzten englischen Beispiel zurück: GIFT. Natürlich kann ein<br />
Engländer auch von Gift reden (Arsen ist in englischen Krimis besonders beliebt); aber er tut<br />
es mit anderen Zeichen (z. B. POISON). Die Buchstabenfolgen sind sozusagen kodiert,<br />
verschlüsselt, und zwar in jeder Sprache wieder anders. Die Kodierung unserer Muttersprache<br />
lernen wir wie von selbst; es kommt uns vor, als „wissen“ wir einfach, was dieses und jenes<br />
Zeichen bedeuten. Die Kodierung einer Fremdsprache kann man – mit viel größerem<br />
Aufwand – ebenfalls lernen, und dann wird man zum Wanderer zwischen zwei Sprachwelten.<br />
Aus all dem wird klar, wie wichtig die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt ist. Wenn<br />
es diese Unterscheidung nicht gäbe, gäbe es auch keine Übersetzung von einer Sprache in<br />
eine andere. Wenn der Inhalt ausschließlich an einen einzigen Zeichensatz gebunden wäre,<br />
wenn es nur eine Möglichkeit der Verschlüsselung/Kodierung gäbe, dann müssten eben alle<br />
Menschen diese eine Sprache lernen. Aber weil Inhalte sich auf beliebige Weise kodieren<br />
lassen, gibt es die vielen Sprachen, und deshalb ist es auch möglich, dieselben Inhalte in den<br />
verschiedensten Sprachen auszudrücken, mit anderen Worten: demselben Inhalt<br />
unterschiedliche Formen zu geben.<br />
Übrigens: Wenn Inhalte nur auf eine einzige Weise formuliert werden könnten, dürfte man<br />
letztlich auch nicht über sie nachdenken! Beim Nachdenken formuliere ich um; Nachdenken<br />
ist sozusagen ein intralinguales Übersetzen, ein Übersetzen innerhalb derselben Sprache. Wie<br />
wichtig dieser Zusammenhang zwischen interlingualem und intralingualem Übersetzen ist,<br />
kann man am Umgang vieler Muslime mit dem Koran sehen. Es ist mir immer wieder<br />
passiert, dass ich mit einem Muslim über eine Sure diskutieren wollte, die ich in deutscher<br />
5
Übersetzung gelesen hatte. Aber das wurde rundweg abgelehnt – der Koran könne nur in<br />
seiner Originalsprache Arabisch richtig verstanden werden. Die Konsequenz aus dieser<br />
Haltung sieht genauso aus, wie ich sie eben beschrieben habe: Wenn man nicht in einer<br />
fremden Sprache über den Koran nachdenken darf, darf man es letztlich auch nicht in<br />
Arabisch. In den Koranschulen in aller Welt lernen zahllose Kinder den arabischen Wortlaut<br />
der Suren auswendig, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen.<br />
Aus dem allem dürfte bereits klar geworden sein, worauf es beim Übersetzen vor allem<br />
ankommt: auf den Inhalt, nicht auf die Form. Übersetzen heißt eigentlich nichts anderes als:<br />
die Form ändern, den Inhalt belassen. Die Gedanken sind<br />
sozusagen Kleider, und die sprachliche Form ist der Koffer, in<br />
den die Kleider verpackt sind. Was der Fährmann tut, ist nichts<br />
anderes, als dass er erst an das – sagen wir – englische Ufer<br />
rudert, dort den Koffer öffnet, die Kleidungstücke auspackt, sie<br />
ins Boot lädt, dann ans deutsche Ufer übersetzt und die Kleidung dort wieder einpackt – in<br />
einen anderen Koffer.<br />
Wörter sind mehrdeutig<br />
„Möglichst die gesamte Ladung“ soll der Fährmann übersetzen. „So genau wie möglich“ soll<br />
der Übersetzer übersetzen. Wie macht man das?<br />
Viele stellen sich das so vor, dass man am besten Wort für Wort wiedergibt. Je wörtlicher<br />
eine Übersetzung, desto weniger läuft der Übersetzer Gefahr, etwas hineinzuinterpretieren. Je<br />
wörtlicher, desto zuverlässiger.<br />
Wenn das nur so einfach wäre! Die wenigsten Wörter sind eindeutig! Die meisten Wörter,<br />
gerade die, die zum Grundwortschatz gehören und ständig vorkommen, haben mehrere, oft<br />
zahlreiche Bedeutungen.<br />
Beginnen wir mit ein paar ganz einfachen Beispielen. Einem Wort in der einen Sprache<br />
stehen zwei in der anderen Sprache gegenüber: eine Eins-zu-zwei-Entsprechung.<br />
deutsch „Straße“ -> englisch „street“ [wenn mindestens an 1 Straßenseite Häuser] /<br />
„road“ [wenn keine Häuser]<br />
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deutsch „Himmel“ -> englisch „sky“ [Luftraum] / „heaven“ [religiöser Bereich]<br />
deutsch „Leben“ -> griechisch /bíos [physisches, irdisches Leben] / /zoë<br />
[geistliches Leben]<br />
griechisch /dáktylos -> deutsch „Finger“ / „Zehe“<br />
griechisch /psychë -> deutsch „Seele“ / „Leben“<br />
Übersetzen heißt:<br />
die Form ändern,<br />
den Inhalt belassen.<br />
Vor einiger Zeit schickte mir jemand einen Artikel zu Übersetzungsfragen. Darin beklagt sich<br />
der Autor darüber, dass selbst eine so „wortnahe“ Übersetzung wie die Elberfelder Bibel<br />
nicht immer mit „Seele“ wiedergibt, sondern fast genauso oft mit „Leben“, und er<br />
schreibt wörtlich: „Das ist nach meiner Auffassung geistlich kriminell.“ Mag er das sehen,<br />
wie er will – kriminell ist hier ganz und gar nichts. unterschiedlich wiederzugeben ist<br />
so wenig ein Verbrechen, wie wenn ein Engländer das deutsche „Himmel“ einmal mit „sky“<br />
und einmal mit „heaven“ übersetzt. Es ist nicht nur kein Verbrechen, es ist das einzig<br />
Richtige, was er tun kann, wenn er die Mehrdeutigkeit des sprachlichen Zeichens HIMMEL<br />
ernst nimmt.<br />
Nehmen wir ein etwas aufwendigeres Beispiel, das deutsche Wort „Gang“ (ein Substantiv,<br />
das interessanterweise nicht mit dem Verb „gehen“ verwandt ist, wie man meinen würde,<br />
sondern auf ein germanisches Verb mit der Bedeutung „schreiten“ zurückgeht). Man wird<br />
also vielleicht als erstes an die Bedeutung „Gangart“ denken:<br />
6
(a) Ich erkannte ihn sofort an seinem schleppenden Gang.<br />
Aber das ist keineswegs die einzige Bedeutung dieses Wortes. Sehen Sie sich mal die<br />
folgenden Beispielsätze an:<br />
(b) Er hatte einen schweren Gang vor sich. [das Gehen einer Strecke (mit einem<br />
bestimmten Ziel)]<br />
(c) Jetzt musst du in den vierten Gang schalten! [Getriebestufe des Automotors]<br />
(d) Der Kellner brachte den zweiten Gang. [einzelnes Gericht einer Speisenfolge]<br />
(e) Mein Büro befindet sich am Ende des Ganges. [Korridor in Haus/Wohnung]<br />
(f) Die Anlage ist die ganze Nacht über in Gang. [in Betrieb / in Bewegung]<br />
(g) Es gelang ihr, den Gang der Ereignisse zu rekonstruieren. [Ablauf]<br />
Vielleicht überrascht Sie diese Vieldeutigkeit. Aber sie ist der Normalfall. Dass ein Wort nur<br />
eine einzige Bedeutung hat, ist die Ausnahme und trifft eigentlich nur im Bereich der<br />
Fachterminologie zu. Wörter sind in aller Regel mehrdeutig. Das ist in allen Sprachen so, im<br />
Griechischen und Hebräischen genauso wie im Deutschen und Englischen.<br />
Zum Glück ist das so! Stellen Sie sich mal vor, für all die verschiedenen Bedeutungen von<br />
„Gang“ gäbe es je eine eigene Vokabel! Da würde der deutsche Wortschatz, der ohnehin<br />
schon eine halbe Million Wörter umfasst, ins Astronomische anschwellen. Keiner wäre<br />
imstande, diese unüberschaubare Menge von Begriffen zu beherrschen. Die Situation würde<br />
dann jener ähneln, als das Alphabet noch nicht erfunden war und man für jedes Wort ein<br />
eigenes bildliches oder abstraktes Zeichen schrieb. 26 Buchstaben kann sich jeder merken.<br />
Aber wer hat schon die Zeit, sich tausende von Zeichen einzuprägen? Deswegen entwickelten<br />
sich damals eigene Schreiberkasten; eine Information schriftlich festhalten zu können wurde<br />
zu einem Beruf. Und genauso wäre sprachliche Kommunikation unter normal begabten<br />
Menschen kaum mehr möglich, wenn die Sprache nicht so ökonomisch wäre und viele<br />
verschiedene Bedeutungen unter einem Zeichen, einem Symbol, einem Wort zusammenfassen<br />
würde.<br />
Was bedeutet diese Mehrdeutigkeit nun für die Übersetzung? Ganz einfach: Es gibt für ein<br />
bestimmtes griechisches Wort in der Regel nicht nur ein deutsches. Man muss bereit sein, das<br />
eine griechische Wort immer wieder anders wiederzugeben.<br />
Nochmals zurück zu dem deutschen „Gang“; übersetzen wir es ins Englische. Im ersten<br />
Beispielsatz könnte man es mit „walk“ wiedergeben, im zweiten mit „way“, im dritten mit<br />
„gear“, im vierten mit „course“, im fünften mit „corridor“, im sechsten müsste man es mit<br />
einem Verb umschreiben („the machine ist running“), und im siebten würde wieder „course“<br />
passen („course of events“). Also: Für 6 mal „Gang“ mindestens 5 verschiedene englische<br />
Wörter! Eine Eins-zu-viele-Entsprechung.<br />
Das Ganze ginge ja noch, wenn es dabei bliebe. Aber die sprachliche Wirklichkeit ist noch<br />
wesentlich komplexer. Nehmen wir mal den zweiten Beispielsatz: „Gang“ lässt sich mit<br />
„way“ wiedergeben. Aber „way“ kann z. B. auch die „Art und Weise“ bedeuten, was<br />
überhaupt nichts mit „Gang“ zu tun hat („the american way of life“ – die amerikanische<br />
Lebensweise). In diesem Fall muss also mit „Weise“ übersetzt werden, nicht mit „Gang“. Das<br />
deutsche „Weise“ wiederum kann auch „Melodie“ bedeuten; und „Melodie“ heißt im<br />
Englischen nicht „way“, sondern „tune“. „Tune“ seinerseits bedeutet unter anderem auch<br />
„Stimmung“, „Laune“. Und so geht das immer weiter – eine beinahe endlose Wörterkette.<br />
7
8<br />
Gang Weise Laune<br />
way<br />
tune<br />
Die deutschen und englischen Wörter stehen zueinander also nicht in einem Eins-zu-eins-<br />
Verhältnis, auch nicht in einem Eins-zu-viele-Verhältnis, sondern in einem Viele-zu-viele-<br />
Verhältnis! Alles ist irgendwie mit allem verkettet und verzahnt. Ein Wort überschneidet sich<br />
mit einem anderen, bildet mit ihm sozusagen eine Teilmenge. Gleichzeitig überschneidet es<br />
sich mit einem anderen und bildet auch mit ihm eine Teilmenge.<br />
deutsch englisch französisch<br />
(1) Generischer<br />
Begriff<br />
Mensch<br />
man<br />
homme<br />
(2) Komplementärbegriffe<br />
Mann Frau man woman<br />
homme femme<br />
(3) Relationale<br />
Begriffe<br />
Mann – Frau<br />
husband – wife<br />
mari – femme<br />
Ein klassisches Beispiel sind die Komplementärbegriffe „Mann“ – „Frau“. Im Englischen<br />
lauten sie „man“ – „woman“ und im Französischen „homme – femme“. Das sind die<br />
absoluten Begriffe. Dazu gibt es ein Untersystem mit den relationalen Bezeichnungen (also<br />
den Begriffen, die eine Beziehung ausdrücken): „Mann“ – „Frau“ bzw. „husband“ – „wife“<br />
bzw. „mari“ – „femme“. Interessant daran ist die Asymetrie: Das Deutsche verwendet für den<br />
verheirateten Mann dasselbe Wort wie für den unverheirateten und genauso bei der Frau, das<br />
Französische nicht beim Mann und das Englische weder beim Mann noch bei der Frau!<br />
(Wenn man also eine deutsche Aussage mit „Frau“ ins Englische übersetzt, muss man erst
klären, ob es um eine ledige oder verheiratete Person geht, und je nachdem einen anderen<br />
Begriff wählen.) Außerdem gibt es zu den anfangs genannten Begriffspaaren auch noch<br />
Oberbegriffe, die generischen Bezeichnungen „Mensch“ bzw. „man“ (oder „human being“)<br />
bzw. „homme“. Wieder verlaufen die Trennlinien verschieden. Das Deutsche kennt einen<br />
eigenen Oberbegriff; im Englischen und Französischen ist der generische Begriff identisch<br />
mit einem der beiden Pole. [Damit lassen sich hübsche Wortspiele machen: „La moitié des<br />
hommes sont des femmes“ – was im Deutschen natürlich nicht funktioniert: „Die Hälfe der<br />
Männer sind Frauen“ (das ist definitiv falsch) / „Die Hälfte der Menschen sind Frauen“ (da<br />
fehlt das Entscheidende, der Witz).] Jede der drei Sprachen hat also ihr eigenes Trennlinien-<br />
Muster.<br />
Die unterschiedliche Aufteilung dieses Bedeutungsfeldes wirkt sich auch auf die Übersetzung<br />
biblischer Texte aus. Die erste Hälfte von 1. Korinther 11 ist dem Verhältnis von Mann und<br />
Frau gewidmet. Das griechische gyne kann – genau wie im Deutschen und<br />
Französischen – sowohl die ledige Frau bezeichnen als auch die verheiratete. Aber übersetzen<br />
Sie 1. Korinther 11 mal ins Englische! Jetzt können wir uns nicht mehr vor der Entscheidung<br />
drücken. Sagen wir „wife“, dann gelten die Anweisungen des Textes nur den Ehefrauen.<br />
Sagen wir „woman“, dann gelten sie allen Frauen, unabhängig von ihrem Zivilstand.<br />
In manchen afrikanischen Sprachen fehlt das Wort „Bruder“. Es gibt nur den älteren Bruder<br />
und den jüngeren Bruder. Und wenn man vom älteren Bruder spricht, muss man noch dazu<br />
angeben, ob er beschnitten ist oder nicht. Überlegen Sie mal, wie schwierig das wird, wenn<br />
das Neue Testament Brüderpaare einführt: Petrus und <strong>Andreas</strong>, Jakobus und Johannes. Woher<br />
soll der Übersetzer wissen, welcher jeweils der ältere war?!<br />
Um nochmals auf die unterschiedliche Aufteilung der Bedeutungsfelder zurückzukommen:<br />
Man kann die Sprache mit einem Puzzle vergleichen. Jedes Puzzleteilchen entspricht einem<br />
Wort. Alle Teilchen zusammen ergeben das vollständige Bild. Ein Deutschsprachiger kann<br />
mit Hilfe der deutschen Wörter alle Dinge und Vorgänge und Eigenschaften und Abstrakta<br />
erfassen, die zu seiner Lebenswelt gehören. Genauso konnte in alttestamentlicher Zeit ein<br />
Israelit mit Hilfe der hebräischen Wörter alle Dinge und Vorgänge und Eigenschaften und<br />
Abstrakta erfassen, soweit sie zu seiner Lebenswelt gehörten. Der Unterschied ist jedoch der:<br />
Die Puzzleteilchen sind total anders geschnitten. Das Gesamtbild ist dasselbe, aber es ist<br />
komplett anders aufgeteilt.<br />
9<br />
Sprache 1 Sprache 2<br />
Wenn der Fährmann also denkt: Ich sehe mir jetzt ein bestimmtes hebräisches Teilchen ganz<br />
genau an, und dann setze ich ans andere Ufer über und suche dort so lange, bis ich das genau<br />
gleich geformte deutsche Teilchen gefunden habe – wissen Sie, wie die Geschichte dann
weitergeht? „Und wenn er nicht gestorben ist, dann sucht der Mann noch heute.“ Denn dieses<br />
Teilchen gibt es nicht!<br />
Noch ein letztes simples Beispiel hierzu:<br />
Der Tagungsleiter stellt die Teilnehmer vor. „Unter uns befindet sich ein<br />
ausgewiesener Fachmann“, sagt er.<br />
Dann informiert er über die Tagungsstätte: „Unter uns befindet sich der Keller.“<br />
Und schließlich erklärt er: „Leider war ich letzte Woche krank. Es war mir nur unter<br />
großen Schmerzen möglich, mich für diesen Kurs vorzubereiten.“<br />
Dreimal verwendet er die Präposition „unter“, jedesmal mit einem völlig anderen Inhalt.<br />
Natürlich kann man die drei Aussagen in jede Sprache der Welt übersetzen, aber es wäre ein<br />
großer Zufall, wenn es auch nur eine einzige Sprache gäbe, in der für „unter“ wie im<br />
Deutschen jedesmal dasselbe Wort verwendet würde.<br />
Das alles macht deutlich: Beim Übergang von einer Sprache in eine andere bleiben die<br />
Bedeutungsfelder der Wörter nicht deckungsgleich; sie sind in jeder Sprache wieder anders<br />
organisiert. Diese Deckungsungleichheit ist der Normalfall. Deckungsgleichheit, der<br />
Sonderfall, ist gewöhnlich nur bei der regulierten Fachterminologie anzutreffen. Wer eine<br />
konkordante Übersetzung anstrebt, die einen bestimmten Ausdruck der einen Sprache immer<br />
mit demselben Ausdruck der anderen Sprache wiedergibt, nimmt eine grundlegende Eigenschaft<br />
natürlicher Sprachen nicht zur Kenntnis.<br />
Was ich bis jetzt ausgeführt habe, hat Sie hoffentlich misstrauisch gemacht gegenüber den<br />
Wort-für-Wort-Übersetzungen, die angeblich besonders genau sind. Wenn eine englische<br />
Übersetzung das deutsche „Gang“ immer mit – sagen wir – „way“ wiedergibt, hat der Leser<br />
nur einen einzigen Vorteil: Er weiß jetzt, wo in der deutschen Vorlage überall „Gang“ steht.<br />
Was er nicht weiß (und ohne gute Deutschkenntnisse auch gar nicht wissen kann), ist die<br />
Bedeutung im jeweiligen Zusammenhang („way“ trifft jedenfalls nur ganz gelegentlich zu).<br />
Der formale Gewinn wird durch den inhaltlichen Verlust zunichte gemacht – und auf den<br />
Inhalt kommt es doch vor allem an!<br />
Aussagen sind eindeutig<br />
Gehen wir einen Schritt weiter. Ich sagte vorhin, dass uns die Vieldeutigkeit der Wörter<br />
verwirrt. Unserem Empfinden nach ist Sprache doch dazu da, dass man sich eindeutig<br />
ausdrückt. Recht haben Sie! Die Vieldeutigkeit existiert nur im Wörterbuch, wo die<br />
wichtigsten möglichen Bedeutungen aufgelistet sind. Beim Sprachvollzug hingegen wird in<br />
der Regel immer nur eine dieser Bedeutungen aktualisiert. Und deshalb haben wir<br />
normalerweise auch keine Verständigungsprobleme.<br />
Woher wissen wir denn, welche Bedeutung jeweils die richtige, die gemeinte ist? Ich könnte<br />
auf das Gang-Beispiel zurückgreifen, aber ich nehme zur Abwechslung mal was anderes, ein<br />
Verb: „eingehen“. Was bedeutet „eingehen“? Wahrscheinlich würde es Ihnen schwer fallen,<br />
so aus dem Stegreif eine gute Definition zu geben. Aber jetzt geben Sie mal acht. Ich verbinde<br />
dieses etwas unklare Verb mit verschiedenen Subjekten:<br />
(a) Der Pullover ist eingegangen [nach zu heißer Wäsche; er ist geschrumpft].<br />
(b) Der Wellensittich ist eingegangen [nach dem Verzehr von Mottenkugeln; er ist<br />
gestorben].<br />
(c) Der Geldbetrag ist eingegangen [auf dem Konto; er ist eingezahlt worden].<br />
(d) Die Gegenpartei ist darauf eingegangen [auf einen Versöhnungsvorschlag; sie hat<br />
zugestimmt].<br />
Bei jedem dieser Beispielsätze wissen wir sofort, was „eingehen“ bedeutet. Es bedeutet jedes<br />
Mal etwas anderes (etwas völlig anderes!), aber wir haben keinerlei Problem, auf die jeweils<br />
10
ichtige Bedeutung zu kommen. Woran liegt das? Es liegt daran, dass „eingehen“ jetzt nicht<br />
mehr isoliert dasteht, sondern in einen Aussage-Zusammenhang gestellt ist. Hätten wir nur<br />
über „eingehen“ nachgedacht, wären wir vielleicht gar nicht auf alle diese Bedeutungen<br />
gekommen; sie waren sozusagen deaktiviert. Aber sobald ich ganze Sätze damit bilde, stehen<br />
sie mir mit aller Selbstverständlichkeit zur Verfügung.<br />
Also: Der Kontext, der Wort-Zusammenhang entscheidet über den genauen Sinn des<br />
Einzelwortes. Lediglich Fachbegriffe haben in der Regel eine vorgegebene, vom Kontext<br />
unbeeinflusste Bedeutung. Ansonsten gilt: Bedeutung existiert nicht an und für sich, sondern<br />
ist an einen Kontext gebunden.<br />
Testen wir es nochmals an einem Verb –<br />
„einschlagen“, diesmal verbunden mit<br />
verschiedenen Objekten:<br />
(a) einen Nagel<br />
(b) ein Schulheft<br />
(c) eine Fensterscheibe<br />
(d) eine juristische Laufbahn<br />
(e) die Räder<br />
(f) den Rocksaum<br />
Wieder ist man überrascht, wie viele unterschiedliche Vorgänge ein Verb bezeichnen kann,<br />
und wieder zeigt sich: Seine genaue Bedeutung bekommt ein einzelnes Wort erst in<br />
Verbindung mit einer Aussage.<br />
Und noch ein Beispiel.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
„Herr Pohl schlägt seine Frau.“ Klarer Fall von Gewaltanwendung; „schlagen“<br />
heißt soviel wie „prügeln“.<br />
Erweitern wir den Kontext ein bisschen: „Herr Pohl schlägt seine Frau 6:4 und<br />
7:5.“ Plötzlich ist klar: Hier wird gar nicht geprügelt. Es geht um ein Tennisspiel,<br />
und „schlagen“ heißt soviel wie: „im sportlichen Wettkampf besiegen“.<br />
„Nadal schlägt Federer“: Klarer Fall! Man kennt die beiden Herren und weiß, dass<br />
es sich um Tennisspieler handelt.<br />
Fügen wir eine präzisierende Angabe hinzu: „Nadal schlägt Federer ins Gesicht.“<br />
Hoppla, jetzt scheint es plötzlich, als sei da noch was anderes im Gang gewesen als<br />
ein sportlicher Wettkampf!<br />
Manchmal wechselt die Bedeutung eines Wortes sogar im selben Satz. „Ich habe jetzt ohne<br />
Unterbrechung zwei Tage Tag und Nacht gearbeitet.“ Das erste „Tag“ bezeichnet den 24-<br />
Stunden-Tag, das zweite, unmittelbar darauf folgende den Zeitraum zwischen Sonnenaufgang<br />
und Sonnenuntergang.<br />
Es gibt sogar Wörter, die je nach Zusammenhang genau das Gegenteil bedeuten.<br />
<br />
<br />
<br />
Seine genaue Bedeutung<br />
bekommt ein einzelnes Wort erst<br />
in Verbindung mit einer Aussage.<br />
Das griechische xénos kann sowohl den Gast als auch den Gastgeber<br />
bezeichnen (aber natürlich nicht beide gleichzeitig).<br />
„leihen“ kann vom Geber oder vom Empfänger gesagt werden; was gemeint ist,<br />
entscheidet der Satzzusammenhang („jemandem Geld leihen“ bzw. „von<br />
jemandem Geld leihen“).<br />
„etwas passt wie die Faust aufs Auge“ heißt entweder: Es passt sehr gut, oder: Es<br />
passt überhaupt nicht.<br />
11
„Untiefe“ bezeichnet entweder eine sehr flache Stelle in einem Gewässer oder aber<br />
eine besonders tiefe Stelle.<br />
griechisch /áfixis bedeutet „Ankunft“ oder „Abreise“ – je nachdem.<br />
griechisch /anairéobedeutet in Apostelgeschichte 7,21 „jemanden<br />
(schützend) bei sich aufnehmen“ und 7 Verse weiter genau das Gegenteil:<br />
„jemanden umbringen“.<br />
Angesichts von dieser verwirrenden Vieldeutigkeit der Begriffe muss dem armen Übersetzer<br />
schwarz vor Augen werden. Wie kann er je sicher sein, was im Einzelfall gemeint ist? Es gibt<br />
nur eine Antwort: Exegese, und zwar so gründlich wie möglich. Exegesieren (auslegen) heißt:<br />
herausfinden, was der Text sagt. Wie man das herausfindet, haben wir jetzt ja festgestellt:<br />
Indem man den Kontext beachtet, den sprachlichen und sachlichen Zusammenhang der<br />
einzelnen Wörter, der Sätze, des Abschnitts und des ganzen Buches. Und indem man den<br />
Text vor seinem historischen und kulturellen Hintergrund liest. Durch den Kontext löst sich –<br />
wie wir gesehen haben – die Mehrdeutigkeit der Begriffe und Sätze auf. Je gründlicher also<br />
der Übersetzer den innerbiblischen und außerbiblischen Kontext berücksichtigt, desto leichter<br />
fällt ihm die Entscheidung darüber, was jeweils die angemessene Bedeutung ist.<br />
Zwei kleine Nachträge zur Wortbedeutung, ehe wir die Ebene des Vokabulars verlassen und<br />
uns auf die Ebene der Sätze und Satzteile begeben.<br />
Der erste Nachtrag: Die bisherigen Beispiele zeigten, dass ein Wort verschiedene<br />
Bedeutungen haben kann. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Verschiedene Wörter<br />
haben dieselbe Bedeutung.<br />
Die landläufige Auffassung sieht so aus: Wenn das Griechische zwei verschiedene Begriffe<br />
verwendet, müssen diese auch unterschiedliche Bedeutung haben und folglich unterschiedlich<br />
übersetzt werden. /psychë, /zoë und /kardía – so wird gefordert – müssten<br />
auch im Deutschen immer streng unterschieden werden: „Seele“, „Leben“ und „Herz“. Dabei<br />
übersieht man aber ein sprachliches Gesetz, die sogenannte Neutralisierung.<br />
So kann zum Beispiel ein Journalist die Rede eines Politikers folgendermaßen<br />
zusammenfassen: „Herr A. wies auf die Bedeutung von ... hin. Es sei unerlässlich, dass ...,<br />
erklärte er. Er sagte, man müsse ... In solchen Fällen, so meinte er, gäbe es nur eine Lösung ...<br />
Deshalb freue er sich über ..., hob er hervor. Er sei überzeugt, dass es nichts Besseres gebe als<br />
...“ usw. Betrachtet man die vom Berichterstatter gebrauchten Verben einzeln, dann stellt man<br />
rasch fest, dass weite Teile ihres jeweiligen Bedeutungsfeldes sich stark voneinander<br />
unterscheiden. „sagen“ ist (je nach Zusammenhang!) etwas völlig anderes als „hervorheben“,<br />
„hinweisen“ etwas anderes als „erklären“, „meinen“ das Gegenteil von „überzeugt sein“.<br />
Aber im angeführten Beispiel, wo alle diese Begriffe nebeneinander gestellt sind, zählt nur<br />
noch der Teil ihres Bedeutungsspektrums, den sie gemeinsam haben. Die Unterschiede heben<br />
sich gegenseitig auf; die Begriffe „neutralisieren“ sich. Man könnte jeden durch jeden<br />
ersetzen, ohne dass sich an der Gesamtaussage das Geringste ändern würde. Probieren Sie es<br />
einmal aus! Ein geübter Redner/Schreiber wechselt vielleicht aus stilistischen Gründen von<br />
einem Begriff zum anderen, aber er will damit gerade nicht Unterschiede hervorheben,<br />
sondern im Gegenteil immer dasselbe ausdrücken (und so verstehen ihn seine Hörer/Leser<br />
auch!).<br />
Diese Neutralisierung ist beim Sprechen (und Zuhören) gewissermaßen allgegenwärtig. Wir<br />
berücksichtigen sie ganz automatisch, wenn wir säkulare Texte interpretieren. Aber sobald es<br />
an biblische Texte geht, „vergessen“ viele Christen ihr natürliches Sprachempfinden und<br />
interpretieren Dinge hinein bzw. lesen Dinge heraus, die sie, wenn sie den Text „normal“<br />
angehen würde, niemals darin finden würden.<br />
12
(Natürlich handelt es sich bei der Bibel um Offenbarung: Gott teilt uns Dinge mit, die wir von<br />
uns aus nicht wissen. Insofern erwarten wir in der Bibel zu Recht neue, unserem Denken<br />
fremde Inhalte. Aber damit wir diese Inhalte verstehen, hat Gott sie uns in einer uns<br />
vertrauten Sprache mitgeteilt. Die Bibel ist in natürlichen, irdischen Sprachen verfasst; sie<br />
respektiert die Gesetzmäßigkeiten der Sprache. Und gerade damit baut sie uns Menschen eine<br />
Brücke zu den Gedanken Gottes.)<br />
Auf das richtige Verständnis von angewandt: Sicherlich gibt es viele biblische<br />
Aussagen, wo z. B. nicht dasselbe bedeutet wie /pneuma, „Geist“, sondern<br />
sogar in Abgrenzung davon verwendet wird. Aber gerade dort, wo solche potentiell<br />
synonymen Begriffe im selben Sachzusammenhang auftauchen, liegt es nahe, dass sie sich<br />
gegenseitig „neutralisieren“, also annähernd deckungsgleich gebraucht werden. So heißt es in<br />
Lukas 1,46.47: „Meine preist den Herrn, und mein jubelt über Gott …“ <br />
und bezeichnen hier nicht zwei verschiedene anthropologische Größen, genauso<br />
wenig wie „Herr“ und „Gott“ zwei verschiedene Objekte der Anbetung sind und genauso<br />
wenig wie „preisen“ und „jubeln“ unterschiedliche Vorgänge beschreiben. Die Häufung von<br />
annähernd gleichen Aussagen ist typisch für die semitische Poesie (bei Lukas 1,46ff handelt<br />
es sich um einen Lobgesang!), und sie ist typisch für die Gebetssprache (die ja tendenziell<br />
immer etwas feierlicher und emotionaler/exaltierter ist als die Alltagssprache) – übrigens auch<br />
im Deutschen! Ein typisches Gebet könnte z. B. so lauten: „Herr, wir loben und preisen dich!<br />
Bitte führe und leite uns!“ loben/preisen bzw. führen/leiten – so unterschiedlich sie manchmal<br />
auch gebraucht werden, sind hier völlig synonym; der Beter wäre erstaunt und befremdet,<br />
wenn wir ihm unterstellen würden, er dächte jeweils an zwei verschiedene Vorgänge!<br />
Der zweite Nachtrag: Es gibt Textsorten, bei denen bewusst damit gespielt wird, dass ein<br />
Wort mehrere Bedeutungen hat – z. B. der Witz oder der Werbespruch.<br />
<br />
<br />
„Zwei Jäger trafen sich. Beide waren sofort tot.“ Hier wird mit dem Doppelsinn des<br />
deutschen Verbs „treffen“ gespielt. Vom ersten Satz her denkt man an „treffen“ im<br />
Sinn von „sich begegnen“. Liest man dann aber weiter, wird dieses zunächst nahe<br />
liegende Verständnis auf den Kopf gestellt; plötzlich bedeutet „treffen“ so viel wie<br />
„schießen“. Der Witz ist so gut wie unübersetzbar – es sei denn, es gäbe neben dem<br />
Deutschen noch eine zweite Sprache, in der diese beiden Bedeutungen zufällig mit<br />
demselben Wortsymbol bezeichnet werden. Selbstverständlich könnte man aus der<br />
einen Aussage mit „treffen“ zwei Aussagen machen, um beide Bedeutungen zu<br />
berücksichtigen: „Zwei Jäger begegneten sich. Dabei schossen sie aufeinander. Beide<br />
waren sofort tot.“ Sachlich korrekt – aber das Entscheidende, die Sprachpointe, ist auf<br />
der Strecke geblieben. Es gibt nichts mehr zu lachen.<br />
Ein politischer Witz aus dem Nazideutschland. 2 Männer grüßen sich. „Heil Hitler!“<br />
brüllt der eine. Darauf der andere: „Bin ich denn ein Psychiater?“ Dieser Witz spielt<br />
mit der deutschen Morphologie, der Wortbildung. „Heil“ kann ein Substantiv sein,<br />
dann ist es eine Wunschformel („Heil dem Hitler!“). „Heil“ kann aber auch die<br />
Befehlsform des Verbs „heilen“ sein; dann ist es eine Aufforderung („Heil den<br />
Hitler!“). Auch das funktioniert wahrscheinlich nur im Deutschen und lässt sich daher<br />
nicht übersetzen.<br />
Vom Wort zum Satz<br />
Sprachen sind unterschiedlich organisiert und strukturiert. Wir sind bisher – um diesen<br />
Sachverhalt zu belegen – immer von einzelnen Wörtern ausgegangen. Wir haben uns<br />
sozusagen auf der untersten Ebene der Sprache bewegt, auf der Wortebene. (Strenggenommen<br />
gibt es natürlich noch eine tiefer gelegene Ebene – die der Laute/Buchstaben, aus denen sich<br />
die Wörter zusammensetzen. Aber was Inhalt und Bedeutung angeht, empfinden wir nicht die<br />
Laute/Buchstaben, sondern die Wörter als die kleinsten sprachlichen Bausteine.) Nun<br />
13
estehen Aussagen jedoch aus vielen Wörtern, aus Wörtern, die nicht willkürlich<br />
zusammengewürfelt, sondern nach bestimmten grammatischen Regeln miteinander verknüpft<br />
sind. Die Art, wie Wörter zu Wortgruppen und ganzen Sätzen verbunden werden, nennt man<br />
Syntax – die Technik des Satzbaus. Und was auf der Wortebene gilt, gilt ganz genauso auch<br />
auf der Satzebene: Jede Sprache hat ihre eigene Syntax. Über die Syntax unserer<br />
Muttersprache machen wir uns in der Regel keinerlei Gedanken. Sie ist uns mit der<br />
Muttermilch buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen. Aber wenn wir einer fremden<br />
Sprache begegnen, wenn wir anfangen, eine deutsche Aussage z. B. ins Englische zu<br />
übersetzen, merken wir plötzlich, wie stark der Satzaufbau der beiden Sprachen voneinander<br />
abweicht.<br />
Ein einfaches Beispiel, so selbstverständlich, dass es uns gar nicht mehr auffällt: „Seine Frau<br />
kaufte ein Buch.“ / „His wife bought a book.“ In beiden Sätzen haben wir dieselbe Abfolge<br />
grammatischer Elemente: erst das Subjekt (die handelnde Person), dann das Prädikat (das,<br />
was die handelnde Person tut) und als letztes das Objekt (der Gegenstand, an dem gehandelt<br />
wird). So weit, so gleich. Aber jetzt fügen wir eine Zeitangabe hinzu: „Gestern kaufte seine<br />
Frau ein Buch.“ Englisch: „Yesterday his wife bought a book.“ Und prompt haben wir das<br />
Durcheinander. Im Englischen ist die Reihenfolge gleich geblieben: Subjekt – Prädikat –<br />
Objekt. Im Deutschen dagegen haben Subjekt und Prädikat die Plätze getauscht. Selbst<br />
jemand, der den Satz Wort für Wort übersetzt, würde nicht sagen: „Gestern seine Frau kaufte<br />
ein Buch.“ Zum Übersetzen gehört eben, dass man die syntaktischen Gesetzmäßigkeiten der<br />
Zielsprache ernst nimmt.<br />
Übrigens: Im Hebräischen würde diese Aussage wörtlich so lauten: „Kaufte seine Frau ein<br />
Buch.“ Denn im Hebräischen steht das Prädikat normalerweise am Anfang des Satzes. Man<br />
könnte das im Deutschen nachahmen, indem man sagt: „Es kaufte seine Frau ein Buch.“ Aber<br />
das klingt altertümlich und gespreizt. Und inhaltlich ändert sich überhaupt nichts.<br />
Wenn man die hebräische Wortfolge (Verb – Substantiv) ansieht, könnte man auf den<br />
Gedanken kommen, das sei auch für die Informationsabfolge wichtig. Zunächst erfährt der<br />
Leser, was getan wird, und erst danach, wer es tut. Und man könnte versuchen, daraus<br />
irgendwelche exegetischen oder sprachphilosophischen Schlüsse zu ziehen. Aber das wäre<br />
natürlich Unsinn. Wenn ich einen Satz lese, gehe ich ja nicht fragmentierend vor, sondern<br />
ganzheitlich. Ich lese nicht zuerst das erste Wort, denke über seine Bedeutung nach, dann das<br />
nächste, denke über dessen Bedeutung nach, dann das dritte usw. Nein, ich lese die Aussage<br />
als Ganzes und erfasse sie als Einheit. Es stimmt, die Aussage setzt sich aus Puzzleteilchen<br />
zusammen. Aber in meiner Wahrnehmung muss ich diese nicht erst aneinanderfügen; das<br />
Bild ist bereits zusammengebaut.<br />
Es scheint mir daher auch völlig legitim zu sein, wenn eine Bibelübersetzung aus<br />
syntaktischen oder stilistischen Gründen einmal eine Umstellung vornimmt. So heißt es in<br />
Johannes 3,16 wörtlich:<br />
„… damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat.“<br />
Nun ist aber die Kombination „jeder + verneintes Verb“ im Deutschen nicht korrekt. Die<br />
Negation steht (anders als im Griechischen) beim Subjekt, also: „keiner + Verb“. Daraus<br />
ergibt sich: „… damit keiner, der an ihn glaubt, verloren geht, sondern damit jeder das ewige<br />
Leben hat.“ Leider hat man sich damit eine unschöne Subjekt-Wiederholung (keiner/jeder)<br />
eingehandelt. Um das zu vermeiden, bietet es sich an, die beiden Prädikate umzustellen –<br />
zuerst das positive und dann das negative: „… damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben<br />
hat und nicht verloren geht“ (so ist es in der Neuen Genfer Übersetzung wiedergegeben).<br />
Inhaltlich ist damit nichts verändert. Die Prädikatsabfolge im Griechischen ist ja nicht zeitlich<br />
zu verstehen (dann allerdings dürfte man sie nicht auf den Kopf stellen), sondern kontrastiv.<br />
Dasselbe Ereignis wird einmal negativ und einmal positiv umschrieben. „Dagobert ist nicht<br />
14
etwa sparsam, sondern geizig“ sagt dasselbe wie: „Dagobert ist geizig und nicht etwa<br />
sparsam.“<br />
Hier noch ein weiteres Beispiel aus dem syntaktischen Bereich. In Matthäus 26,51 heißt es<br />
ganz wörtlich:<br />
„Und siehe, einer derer mit Jesus, ausstreckend die Hand, zog sein Schwert, und<br />
schlagend den Diener des Hohenpriesters, hieb er ab sein Ohr.“<br />
(Eigentlich wäre noch wörtlicher: „zog das Schwert sein … hieb er ab sein das Ohr“. Im<br />
Deutschen steht entweder der Artikel – „das Schwert“ – oder das Possessivpronomen – „sein<br />
Schwert“ –; im Griechischen steht beides nebeneinander, und das Possessivpronomen steht<br />
entweder ganz am Anfang oder ganz am Ende der Fügung – „sein das Schwert“ bzw. „das<br />
Schwert sein“. Hier nehmen auch die wörtlichsten Übersetzungen stillschweigend eine<br />
Anpassung an den deutschen Sprachgebrauch vor. In gewissem Sinn brechen sie ihre<br />
selbstauferlegte Regel der Wort-Wörtlichkeit, ohne es dem Leser mitzuteilen. Oder<br />
andersherum gesagt: Sie befolgen – völlig zu Recht – ein Stück weit die Regeln der deutschen<br />
Grammatik. Nur: Warum respektieren sie diese Regeln nicht durchgehend?)<br />
So, wie oben formuliert, ist der Vers natürlich kaum verständlich. Man muss ihn mehrfach<br />
lesen, ehe man sich einen Reim darauf machen kann. Die Schwerfälligkeit und<br />
Unverständlichkeit ist vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass hier gleich zweimal ein<br />
präsentisches Partizip einem Hauptverb zugeordnet ist (ausstreckend ziehen, schlagend<br />
abhauen). Das Griechische (und z. B. auch das Englische und das Französische) operiert<br />
ständig mit solchen Partizipien, aber nicht das Deutsche (ich müsste genauer sagen: nicht<br />
mehr; vor langer Zeit waren auch im Deutschen die participia praesentis rege im Gebrauch;<br />
inzwischen sind sie fast ausgestorben).<br />
Was tun, um den Satz natürlicher und verständlicher zu formulieren? Sehen Sie sich die<br />
Lösung der Revidierten Elberfelder Bibel an, die als eine besonders genaue Übersetzung gilt<br />
(und deren Verdienste ich keineswegs bestreite):<br />
„Und siehe, einer von denen, die mit Jesus waren, streckte die Hand aus, zog sein<br />
Schwert und schlug den Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein Ohr ab.“<br />
Wie ist die Elberfelder mit den Partizipien umgegangen? Sie hat sie zu selbständigen Verben<br />
gemacht und den beiden anderen Verben gleichgeordnet. Im Griechischen haben wir zwei<br />
Haupthandlungen (das Schwert ziehen / das Ohr abhauen). Die beiden Partizipien sind diesen<br />
beiden Vorgängen beigeordnet, um sie noch genauer zu beschreiben. Bei der Elberfelder<br />
hingegen haben wir plötzlich vier Haupthandlungen: die Hand ausstrecken / das Schwert<br />
ziehen / den Knecht schlagen / sein Ohr abhauen. Versuchen Sie doch mal ganz praktisch,<br />
diese vier Vorgänge nachzuvollziehen (ich karikiere bewusst ein bisschen). Petrus streckt also<br />
zunächst die Hand aus – aber mit ausgestrecktem Arm kommt er natürlich nicht an sein<br />
Schwert heran. Man dürfte daher erwarten, dass es als nächstes heißt: Er ließ den Arm wieder<br />
sinken. Statt dessen zieht er plötzlich das Schwert. Vielleicht mit der anderen Hand?? Nun<br />
schlägt er den Knecht des Hohenpriesters. Das scheint ein eigenständiger Akt zu sein; man<br />
sieht Petrus vor sich, wie er auf den Knecht einschlägt (wobei ziemlich unklar bleibt, wie er<br />
das bewerkstelligt, wo er doch immer noch das Schwert in der Hand hält – schlägt er ihn mit<br />
der Flachseite des Schwerts, oder gibt er ihm mit der freien Hand Faustschläge?). Und zu<br />
guter Letzt (zu böser Letzt) haut er ihm dann noch ein Ohr ab. Wir merken: Hier stimmt etwas<br />
nicht. Die Abläufe sind nicht korrekt wiedergegeben. Und das liegt daran, dass die<br />
griechische Syntax nicht angemessen berücksichtigt und nicht angemessen ins Deutsche<br />
umgesetzt worden ist.<br />
Sehen wir uns als Gegenbeispiel die Wiedergabe der Neuen Genfer Übersetzung an:<br />
15
„Da griff einer von Jesu Begleitern nach seinem Schwert, ging damit auf den Diener<br />
des Hohenpriesters los und schlug ihm ein Ohr ab.“<br />
Formal gesehen, ist das erste Partizip verschwunden; hier steht nur noch das Hauptverb. Aber<br />
es heißt jetzt nicht mehr „das Schwert ziehen“, sondern „nach dem Schwert greifen“. Damit<br />
ist der Vorgang des „Die-Hand-Ausstreckens“ sachlich korrekt umschrieben. Dass Petrus<br />
nicht nur nach dem Schwert greift, sondern es auch tatsächlich aus der Scheide zieht, muss im<br />
Deutschen nicht ausdrücklich gesagt werden. Gesagt werden müsste nur das Gegenteil –<br />
wenn er danach greift, es dann aber doch nicht zieht. Solange man keine Misserfolgsmeldung<br />
durchgibt, geht der Hörer davon aus, dass die geplante Handlung auch vollzogen wurde.<br />
(Vergleiche z. B.: „Er ging noch schnell in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Dann<br />
machte er sich an die Arbeit.“ Formal wird nur die Absicht zur Sprache gebracht: „um ein<br />
Glas Milch zu trinken.“ Aber weil anschließend von einem neuen Geschehen die Rede ist –<br />
„er machte sich an die Arbeit“ –, ist klar: Er hat die Milch tatsächlich getrunken. Andernfalls<br />
müsste der Berichterstatter expressis verbis darauf aufmerksam machen: „… doch leider war<br />
keine Milch mehr da“ / „… doch dann überlegte er es sich anders“ o. ä.). Das andere Partizip<br />
ist – wie bei der Elberfelder – in ein selbständiges Verb umgewandelt und mit „und“<br />
angeschlossen. Aber in der Neuen Genfer Übersetzung wird nicht gesagt: „er schlug ihn“ (das<br />
wäre eine vom Ohr-Abhauen unabhängige Handlung), sondern „er ging auf ihn los“ (und das<br />
wird korrekterweise als Auftakt zum Abhauen des Ohres verstanden). Formal ist hier also<br />
gegenüber dem Originaltext ziemlich viel verändert worden. Aber nur so gelingt es einerseits,<br />
den Finessen der griechischen Syntax gerecht zu werden, und andererseits, diese Aspekte in<br />
einer Weise wiederzugeben, die sich an die deutsche Syntax hält. Inhaltlich jedenfalls scheint<br />
in der deutschen Wiedergabe nach bestem Wissen und Gewissen alles berücksichtigt zu sein,<br />
was im Griechischen steht. Und darauf kommt es ja letztlich an.<br />
In dem Bereich, von dem wir jetzt sprechen (die Verbindung von einzelnen Wörtern zu<br />
Aussagen) sind auch die Gebrauchsnormen zu beachten, die von Sprache zu Sprache<br />
verschieden sind.<br />
Wenn der Engländer nach der Uhrzeit fragt, sagt er: „What time is it?“ Der Franzose fragt:<br />
„Quelle heure est-il?“ Und der Deutsche: „Wie spät ist es?“ In allen drei Fällen handelt es<br />
sich um feste Wortkombinationen. Man kann solche Wendungen nur als Ganzes angemessen<br />
übersetzen, nicht Wort für Wort. Wenn jemand das Englische so wiedergibt: „Welche Zeit ist<br />
es?“ und das Französische: „Welche Stunde ist es?“, dann hat er nicht bewiesen, dass er<br />
besonders genau übersetzen kann. Nein, er setzt sich dem Verdacht aus, nicht begriffen zu<br />
haben, dass hier im Englischen und im Französischen Gebrauchsnormen vorliegen, die man<br />
nur korrekt wiedergibt, wenn man auch im Deutschen die entsprechende Gebrauchsnorm<br />
wählt.<br />
Ein Beispiel aus dem Neuen Testament. In Lukas 2,37 heißt es von der Prophetin Hanna<br />
wörtlich:<br />
„Sie diente Gott Nacht und Tag mit Fasten und Beten.“<br />
Der deutsche Leser bleibt sofort an der ungewöhnlichen Abfolge hängen: „Nacht und Tag“.<br />
Wir sind die umgekehrte Reihenfolge gewohnt: „Tag und Nacht“. Und danach hat sich der<br />
Übersetzer zu richten; er hat die Gebrauchsnormen der Zielsprache zu respektieren. Es gäbe<br />
lediglich einen Grund, davon abzuweichen und die griechische Reihenfolge zu übernehmen:<br />
Wenn man aus dem Zusammenhang der Aussage nachweisen könnte, dass die Abfolge<br />
Nacht-Tag für die Aussage von Bedeutung ist. Dafür spricht hier allerdings nichts. Lukas will<br />
ja nicht behaupten, Hanna habe immer abends mit Fasten und Beten begonnen! Ob „Nacht<br />
und Tag“ oder „Tag und Nacht“ – jedes Mal heißt das einfach so viel wie: immerfort und<br />
ohne Unterbrechung.<br />
16
Was zwischen den Zeilen steht: explizieren und implizieren<br />
So, jetzt haben wir uns alles angesehen, was im griechischen Text zu finden ist – die Wörter<br />
und die Sätze. Wenn wir bei den Wörtern die vom Zusammenhang her angemessene<br />
Bedeutung wählen und wenn wir alles berücksichtigen, was zum griechischen Satzbau gehört,<br />
müsste der Text eigentlich genau übersetzt sein. Ich behaupte: Wir haben noch nicht alles<br />
berücksichtigt! – Aber was fehlt denn noch? Wörter und Sätze – mehr steht doch nicht da?! –<br />
O doch, da stehen noch eine Menge andere Dinge – aber sie stehen zwischen den Zeilen! Sie<br />
sind bei dem, was gesagt wird, mit gemeint, aber sie werden nicht ausgesprochen.<br />
Was zwischen den Zeilen steht, lässt sich in mindestens drei Bereiche aufteilen.<br />
Der erste Bereich: Dinge, die man weglässt, weil Sprachstruktur<br />
und Sprachgebrauchsnormen das erlauben<br />
17<br />
In Markus 1,40ff heißt es wörtlich (Revidierte Elberfelder):<br />
„Und es kommt ein Aussätziger zu ihm, bittet ihn und kniet nieder und spricht zu ihm:<br />
Wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und er war innerlich bewegt und streckte<br />
seine Hand aus, rührte an und spricht zu ihm: Ich will. Sei gereinigt! Und<br />
sogleich wich der Aussatz von ihm, und er war gereinigt. Und er bedrohte ihn und<br />
schickte ihn sogleich fort und spricht zu ihm …“<br />
Hier haben wir das, was man einen Pronomensalat nennt: „Er spricht, er ist innerlich bewegt,<br />
er ist gereinigt, er bedroht ihn …“ Wissen Sie am Ende noch, wer wer ist und wer was tut?<br />
„Er“ ist einmal der Aussätzige und ein anderes Mal Jesus. Nach den Regeln der deutschen<br />
Syntax scheint sich „er“ jedes Mal auf den Kranken zu beziehen. Aber genau das ist vom<br />
Zusammenhang her nicht möglich. „Er war gereinigt“ – der Aussätzige. „Und er bedrohte<br />
ihn“ – der Aussätzige bedrohte Jesus? Nein, Jesus bedrohte den Aussätzigen! Man merkt nach<br />
einziger Zeit schon, wer jeweils gemeint ist, aber eben erst nach einiger Zeit; zunächst wird<br />
man immer erst ein Stückchen weit in die Irre geführt, und das macht es schwierig, den<br />
Handlungsablauf rasch zu erfassen. Dem Leser muss es vorkommen, als habe der Übersetzer<br />
(oder womöglich der Autor?) bewusst Hürden eingebaut, damit man nicht so schnell ans Ziel<br />
kommt. Oder als befinde er sich auf einer Schnitzeljagd und werde immer wieder in die<br />
falsche Richtung geschickt, ehe er den Fehler korrigieren kann. Es ist nun einmal so, dass<br />
man im Deutschen statt des Pronomens das Nomen setzen, wenn die Perspektive wechselt<br />
(wie hier) oder wenn sonst eine Unklarheit besteht. Der griechische Text hingegen bleibt –<br />
formal gesehen – viel öfter unbestimmt. Wahrscheinlich hängt das auch mit der<br />
Erzählstruktur zusammen. Jesus ist die Hauptfigur, die entscheidende Person aller Berichte,<br />
der Agens aller großen Reden und aller großen Taten. Einmal eingeführt, ist er einfach der Er.<br />
(In Krimis wird diese Technik manchmal auch angewandt. Da kann ein Kapitel so beginnen:<br />
„Er schlich sich zur Haustür, drückte vorsichtig die Klinke; die Tür ließ sich geräuschlos<br />
öffnen.“ Wer ist der Er? Man kennt seine Identität noch nicht, aber man weiß: Es ist der große<br />
Unbekannte, es muss der Mörder sein.). In den Evangelien beginnen zahllose Abschnitte des<br />
griechischen Textes mit „Er“ – „Er verließ das Haus“, „Er begann zu reden“, „Er heilte“. Im<br />
Deutschen ist es üblich, jedes Mal, wenn einer neuer Abschnitt beginnt, die Personen, die<br />
darin vorkommen, gleichsam wieder einzuführen, also mit Namen zu nennen. So machen wir<br />
es in der Neuen Genfer Übersetzung. Auch hier in unserem Ausgangsbeispiel (Markus 1)<br />
sprechen wir bei jedem Subjektswechsel wieder neu von Jesus bzw. vom Aussätzigen. Damit<br />
wird nichts verfälscht. Das Pronomen steht ja – wie sein Name schon sagt – für ein<br />
entsprechendes Nomen.<br />
Übrigens sehen wir hier noch eine Eigenart des Griechischen: Statt „er rührte ihn an“ heißt es<br />
wörtlich nur: „er rührte an“ (deshalb die Klammer bei der Elberfelder). Wen, wird nicht
gesagt. Warum nicht? Weil es sich ohne weiteres aus dem Zusammenhang erschließen lässt.<br />
Im Deutschen wüsste man zwar auch, wen Jesus berührt, und trotzdem muss man das<br />
Akkusativ-Objekt ausdrücklich erwähnen. Die deutsche Syntax verlangt das; andernfalls wäre<br />
der Satz nicht vollständig.<br />
Wir befassen uns mit dem, was zwischen den Zeilen steht. Den ersten Bereich haben wir uns<br />
angesehen.<br />
Der zweite Bereich: Informationen, die den<br />
Zuhörern/Lesern bereits bekannt sind<br />
18<br />
Versetzen wir uns einmal in einen Sonntagmorgen-Gottesdienst am <strong>Helvetiaplatz</strong>.<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
Einer von den Ältesten macht die Abkündigungen: „Unser Prediger, Herr Birnstiel,<br />
ist ab morgen für 3 Tage an einer Konferenz. In dringenden Fällen wenden Sie<br />
sich bitte an …“<br />
Derselbe Älteste am nächsten Tag zu einem Gemeindeglied, das nicht im<br />
Gottesdienst war: „Haben Sie es mitbekommen? Herr Birnstiel ist für 3 Tage<br />
verreist.“ [„Unser Prediger“ wäre überflüssig; es gehört ja zum gemeinsamen<br />
Wissenspool. Es wäre nicht nur überflüssig, sondern störend. Das Gemeindeglied<br />
würde stutzig werden: Warum sagt er das? Er muss doch wissen, dass ich den<br />
Prediger dieser Gemeinde kenne! Oder will er mir damit einen versteckten<br />
Hinweis zukommen lassen? Aber welchen nur? Merken Sie: Die Zufügung wäre<br />
sachlich korrekt, und trotzdem wäre sie kontraproduktiv.]<br />
Wieder einen Tag später trifft er sich mit einem anderen Ältesten: „Du weißt, Jürg<br />
ist zur Zeit an der Konferenz.“ [Der Nachname wäre deplaziert, schließlich duzen<br />
sich die beiden Ältesten und der Prediger.]<br />
Am Abend dieses Tages führt er ein Telefongespräch mit einem Pfarrer in<br />
Österreich, der über mangelnde Fortbildungsmöglichkeiten klagt. Darauf der<br />
Älteste: „Unser Prediger besucht immer wieder mal eine Schulungs-Konferenz.“<br />
[Der Name ist unnötig, ihn ausdrücklich zu nennen wäre eine Überinformation.]<br />
Also: Je nach Adressat nimmt der Sprecher kleine, aber wichtige Änderungen in der<br />
Bezeichnung der betreffenden Person vor. Die Referenz ist jedes Mal dieselbe, aber die<br />
formalen Änderungen sind nötig, um eine sinnvolle Kommunikation zu gewährleisten und<br />
Störfaktoren auszuschalten. Die Gesprächspartner richten sich dabei (ihnen selbst meist gar<br />
nicht bewusst) nach der „Quantitätsmaxime“: Man sagt das, was zum Verständnis der Sache<br />
nötig ist, mehr nicht. Würde man Erklärungen liefern, die dem Gegenüber bereits bekannt<br />
sind, wäre das keine Verständnishilfe, sondern ein Anlass zu Verwirrung.<br />
Beim Bibelübersetzen ist es meist so, dass die Erstleser oder Ersthörer uns gegenüber einen<br />
Wissensvorsprung hatten. Jesus und die Apostel lebten vor 2000 Jahren im Mittelmeerraum.<br />
Die Sitten und Bräuche, von denen sie sprachen, die Städte und Ortschaften, die sie<br />
erwähnten, die politischen Ereignisse, auf die anspielten – das alles war den Menschen<br />
damals bekannt; es war Teil ihrer eigenen Lebenswelt. Viele Informationen konnten daher<br />
implizit bleiben. Heute dagegen muss man diese Infos explizit machen, weil wir in einem<br />
anderen Land, zu einer anderen Zeit und in einer anderen Kultur leben.<br />
Explizieren kommt aus dem Lateinischen und<br />
heißt ursprünglich „auseinanderfalten“. Etwas<br />
steckt sozusagen in den Falten des Gewandes.<br />
Es ist da, aber nur implizit. Man sieht es nicht,<br />
es sei denn, jemand holt es aus den Falten<br />
explizieren = sichtbar machen /<br />
ausdrücklich sagen<br />
implizieren = verstecken /<br />
nicht ausdrücklich sagen
heraus, „expliziert“, erklärt es. Und umgekehrt bedeutet implizieren: etwas hineinfalten, es in<br />
den Falten des Gewandes verschwinden lassen, es nicht ausdrücklich zur Sprache bringen.<br />
Ein Beispiel für Explizierung beim Übersetzen des Neuen Testaments:<br />
In Apostelgeschichte 1 wird berichtet, wie Jesus in den Himmel hinaufgenommen wurde; die<br />
Apostel waren Augenzeugen. In Vers 12 heißt es dann ziemlich wörtlich bei der Revidierten<br />
Elberfelder:<br />
„Da kehrten sie nach Jerusalem zurück von dem Berg, welcher Ölberg heißt, der nahe<br />
bei Jerusalem ist, einen Sabbatweg entfernt.“<br />
Ein Sabbatweg? Was könnte das wohl sein? Die damaligen Leser wussten Bescheid: So<br />
wurde die Strecke bezeichnet, die ein Jude nach rabbinischer Gesetzesauslegung am Sabbat<br />
von seinem Wohnort aus gehen durfte, etwa 1 km. Mehr nicht, denn dann wäre es Arbeit<br />
gewesen, und am Sabbat zu arbeiten war verboten. Aber wer weiß das heute noch? Welcher<br />
deutsche Leser, 2000 Jahre später, kann sich einen Reim darauf machen? Man könnte nun<br />
natürlich eine erklärende Fußnote hinzufügen (genau das tut die Elberfelder). Nur: Nicht jeder<br />
sieht in den Fußnoten nach; der Text sollte nach Möglichkeit auch ohne sie verständlich sein.<br />
In der Neuen Genfer Übersetzung haben wir die Erklärung deshalb unmittelbar in den Text<br />
aufgenommen (allerdings nicht ohne sie als verdeutlichenden Zusatz zu kennzeichnen):<br />
„Daraufhin kehrten die Apostel nach Jerusalem zurück; sie waren mit Jesus auf einem<br />
Hügel gewesen, der Ölberg genannt wird und nur einen Sabbatweg – etwa eine<br />
Viertelstunde – von der Stadt entfernt ist.“<br />
Formal betrachtet, hat die Neue Genfer Übersetzung eine ganze Wendung („etwa eine<br />
Viertelstunde“) einfach dazuerfunden. Dazuerfunden? Nein; was die Wendung sagt, steht<br />
auch im Originaltext, nur eben zwischen den Zeilen, Die ursprünglichen Hörer hörten diese<br />
Information gleichsam mit, wenn sie „Sabbatweg“ hörten. Die deutschen Leser verbinden<br />
damit überhaupt nichts. Die Neue Genfer Übersetzung macht also etwas sichtbar, was implizit<br />
auch im Griechischen steht. Wenn es auf formale Übereinstimmung ankommt, ist die<br />
Elberfelder genauer – sie fügt nichts hinzu und lässt nichts weg. Aber wenn es auf den Inhalt<br />
ankommt (und darauf kommt es doch in erster Linie an!), ist die Elberfelder defizitär; sie<br />
unterschlägt ein wesentliches Stück Information. Ihre Wiedergabe des griechischen Textes<br />
wäre nur dann vollwertig, wenn der deutsche Leser genau die gleichen Kenntnisse über<br />
Sabbatwege und ähnliches mitbringen würde wie der griechische Leser. Und das ist eindeutig<br />
nicht der Fall.<br />
(Dieses Beispiel macht unmittelbar deutlich, dass eine Übersetzung sich nicht nur am<br />
Ausgangstext orientieren darf, sondern auch die angestrebte Leserschaft im Auge haben muss.<br />
Jeder Originaltext, der in eine bestimmte Situation hinein spricht, ist adressatenbezogen. Und<br />
genauso richtet sich auch jeder übersetzte Text an ein bestimmtes Leserpublikum, und je<br />
nachdem wird der Übersetzer mehr oder weniger explizieren, wird unterschiedliche<br />
stilistische Register ziehen, wird einen einfacheren oder umfangreicheren Wortschatz<br />
gebrauchen.)<br />
In Apostelgeschichte 12 ist von König Herodes Agrippa die Rede. Er befindet sich zunächst<br />
in Jerusalem, und in Vers 19 heißt es:<br />
„Daraufhin ging er von Judäa nach Cäsarea und verweilte dort.“<br />
Die damaligen Leser wussten, von wo und nach wo Herodes reiste. Judäa war ein Land und<br />
Cäsarea eine Stadt. Für sie enthielt der Text implizit (unausgesprochen) Informationen zu den<br />
beiden Ortsangaben. Aber jetzt versetzen wir uns mal in die Situation eines heutigen<br />
deutschen Lesers ohne spezielles Wissen über die geographischen Gegebenheiten des Nahen<br />
Ostens in der Antike. So, wie die beiden Ortsangaben miteinander verbunden sind, wird er<br />
vermuten, dass es sich entweder um zwei Länder oder um zwei Städte handelt. Man kann z.<br />
19
B. sagen: „Er reiste von Bayern nach Thüringen“ (Land-Land) oder „Er reiste von München<br />
nach Hamburg“ (Stadt-Stadt). Aber würde man sagen: „Er reiste von Bayern nach Hamburg?“<br />
Kaum; Stadt und Land kombiniert man in der Regel nicht. Dazu kommt noch eine<br />
Schwierigkeit. Judaä war damals eine römische Provinz, und die Provinzhauptstadt war nicht<br />
etwa Jerusalem, sondern Cäsarea. Cäsarea lag in Judäa! Das wäre dann also so, wie wenn man<br />
sagen würde: „Er reiste von Graubünden nach Chur.“ Und das sagt natürlich kein Mensch.<br />
Sachlich ist die Lösung wohl darin zu suchen, dass mit Judäa gelegentlich das jüdische<br />
Kernland bezeichnet wurde, also Jerusalem und sein Umland, aber nicht Samarien und<br />
Galiläa, die ebenfalls zur Provinz Judäa gehörten. Alle diese Infos stehen hier zwischen den<br />
Zeilen; erst sie machen die Aussage sinnvoll. Wenn eine Übersetzung daher versucht, sie<br />
gewissermaßen sichtbar werden zu lassen, verfälscht sie nichts, sondern gleicht nur das<br />
Wissensdefizit auf seiten der heutigen Leser aus. Die Wiedergabe der Neuen Genfer<br />
Übersetzung lautet:<br />
„Daraufhin verließ er Jerusalem und das judäische Umland und reiste nach Cäsarea,<br />
wo er seine Residenz hatte.“<br />
Nun das Gegenteil, die Implizierung. Denn auch das gibt es: dass man im Deutschen weniger<br />
sagen muss als im Griechischen, dass man also Dinge, die im Griechischen ausdrücklich<br />
dastehen, im deutschen Text unsichtbar machen kann.<br />
So stößt man im Alten und Neuen Testament immer wieder auf den Ausdruck „die Vögel des<br />
Himmels“. In Lukas 9,58 heißt es:<br />
„Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel des Himmels ihre Nester; aber der<br />
Menschensohn hat keinen Ort, wo er sich ausruhen kann.“<br />
Würde sich etwas ändern, wenn man „des Himmels“ einfach weglässt? Keineswegs; die<br />
Aussage bleibt genau dieselbe. Vögel sind immer „Vögel des Himmels“ – insofern, als diese<br />
Tiere sich von der Erde lösen und fliegen können. Man verliert nichts, wenn man im<br />
Deutschen einfach von „Vögel“ spricht. Natürlich könnte man „Vögel des Himmels“ sagen,<br />
aber das ist im Deutschen unüblich. Infolgedessen würde der Leser zu spekulieren beginnen,<br />
ob hier an eine besondere Art von Vögeln gedacht ist. Das wäre dann eine typische Art von<br />
Über-Interpretation des Textes. Aber ist denn im Griechischen die Präzisierung nötig? Nicht<br />
zwingend; es gibt Stellen, wo sie unterbleibt und wo einfach von „Vögeln“ die Rede ist. Aber<br />
ich vermute, dass der hebräische bzw. griechische Ausdruck für „Vögel“ gleichzeitig ein<br />
Oberbegriff für Vögel und Geflügel ist, also etwa: „geflügelte Wesen“. Und dann ergibt die<br />
Präzisierung plötzlich einen Sinn. Denn es gibt nun mal „geflügelte Wesen am Himmel“ (das,<br />
was wir als Vögel bezeichnen) und „geflügelte Wesen auf der Erde“ (das, was wir als<br />
Geflügel bezeichnen – Hühner, Gänse, Enten etc.). Wenn das so ist, stützt sich die Auslassung<br />
von „des Himmels“ nicht nur auf unser Sprachgefühl, sondern auf ein rational<br />
nachvollziehbares Argument.<br />
Es gibt noch etwas Drittes, was häufig nicht ausdrücklich mitgeteilt wird, sondern zwischen<br />
den Zeilen gelesen werden muss: die Absicht, die der Schreiber mit seinem Text verbindet.<br />
Der dritte Bereich: Was der Autor<br />
mit seinen Aussagen bewirken will<br />
20<br />
Als ich (noch in der Zeit vor dem allgemeinen Rauchverbot) einmal in einem Restaurant aß,<br />
entdeckte ich zu meinem Vergnügen auf dem Tisch ein kleines Kärtchen, das in einem<br />
Klemmfuß steckte. Auf dem Kärtchen stand: „Danke, dass Sie an diesem Tisch nicht<br />
rauchen.“ Ein Dank? Nein, eine Bitte. Aber wenn der Restaurantbesitzer plump und direkt<br />
befehlen würde: „An diesem Tisch bitte nicht rauchen!“ (oder noch knapper: „Rauchen nicht
erwünscht“), wären seine Kunden womöglich verärgert. Die Methode mit dem<br />
vorweggenommenen Dank ist viel erfolgversprechender!<br />
Ein Lehrer erteilt einem fremdsprachigen Schüler Deutschunterricht. Er zeigt auf einen Tisch<br />
und sagt: „Das ist ein Tisch.“ Und der Schüler zeichnet einen Tisch in sein Heft und schreibt<br />
daneben: „Tisch.“ In der Pause geht der Lehrer ins Lehrerzimmer. Im Flur haben einige<br />
Schüler es sich rund um einen Tisch bequem gemacht. Sie haben die Beine hochgelegt; ihre<br />
dreckigen Turnschuhe liegen auf der Tischplatte. „Das ist ein Tisch“, sagt der Lehrer, und<br />
prompt nehmen die Schüler ihre Füße vom Tisch. Sie haben richtig verstanden und im<br />
gewünschten Sinn reagiert. Was der Lehrer gesagt hatte, war eben nicht einfach eine<br />
Feststellung, sondern eine Aufforderung. Er hätte auch sagen können: „Das ist ein Tisch und<br />
keine Fußbank. Bitte nehmt die Füße vom Tisch!“ Aber das wäre völlig überflüssig. Die<br />
Schüler verstehen ihn auch so. Er muss nicht mehr sagen als nötig. Andernfalls macht er sich<br />
lächerlich.<br />
Ein Beispiel aus dem Neuen Testament: Apostelgeschichte 26,28. Der inhaftierte Apostel<br />
Paulus hat vor dem römischen Gouverneur Festus und vor dem jüdischen König Agrippa eine<br />
lange Verteidigungsrede gehalten. Zum Schluss wendet er sich unmittelbar an den König und<br />
sagt:<br />
„König Agrippa, glaubst du den Propheten? Ich weiß, dass du ihnen glaubst!“<br />
Da entgegnet der König (nach der Revidierten Elberfelder Übersetzung):<br />
„In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden!“<br />
Wenn man einfach nur übersetzt, was dasteht, ist die Antwort des Königs damit korrekt<br />
wiedergegeben. Der Haken ist nur: Diese Antwort klingt so, als würde Agrippa lediglich eine<br />
Feststellung machen. In Wirklichkeit bezieht er Stellung. Wahrscheinlich ist er beeindruckt<br />
von dem, was Paulus aus seinem Erleben mit Jesus berichtet hat. Möglicherweise reagiert er<br />
auch spöttisch (um sich vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Evangelium zu<br />
drücken). Wie auch immer – die Übersetzung sollte deutlich machen, dass wir es mit einer<br />
stark emotional gefärbten Reaktion zu tun haben. In der Neuen Genfer Übersetzung lautet die<br />
königliche Antwort so:<br />
„Du redest so überzeugend, dass du demnächst noch einen Christen aus mir machst!“<br />
Wenn der Autor ermutigen möchte, sollte die Übersetzung einen ermutigenden Tonfall<br />
wählen. Wenn der Autor etwas anordnet, sollten die Befehle in der Übersetzung so klar<br />
formuliert sein, dass der Leser weiß, wie er sich verhalten muss. Das ist die pragmatische<br />
Seite eines Textes, und eine genaue Übersetzung darf sie nicht unterschlagen.<br />
Sachtext oder Fiktivtext?<br />
Bei diesen Beispielen will ich es für heute belassen. Sie haben sicher selbst bemerkt, dass die<br />
Beispiele immer umfangreicher und immer komplizierter geworden sind. Solange wir uns auf<br />
der Ebene des Vokabulars bewegt haben, war die Sache einigermaßen überschaubar. Aber als<br />
wir dann höher stiegen, zu der Ebene der Satzteile und ganzen Sätze, wurde es schon ziemlich<br />
knifflig. Und eigentlich müssten wir jetzt auch noch auf die höchste Stufe steigen, die Ebene<br />
der Abschnitte und des gesamten Buches, die Ebene des Diskurses, wo es um Dinge wie<br />
Textgrammatik und Makrostrukturen geht. Aber dann müssten wir noch weiter ausholen,<br />
müssten eine immer größere Textmenge überblicken und einen jedes Mal noch<br />
umfangreicheren expliziten und impliziten Kontext mit einbeziehen – ich glaube, das<br />
schenken wir uns für diesmal.<br />
Stattdessen möchte ich Sie, bevor wir zum Ende kommen, noch auf einen Gesichtspunkt<br />
aufmerksam machen, der ebenfalls eine Rolle dabei spielt, ob man eine möglichst genaue<br />
Übersetzung anstrebt oder nicht. Es geht um die Frage der Textsorte. Texte gehören<br />
verschiedenen Gattungen an, und es gibt viele Möglichkeiten der Einteilung. Aber in unserem<br />
21
Zusammenhang interessiert mich besonders die Unterscheidung von Sachtext und Fiktivtext.<br />
Fiktivtexte – das sind Texte mit erfundenem Inhalt, ein Roman z. B. oder ein Gedicht. Dem<br />
stehen die Sachtexte gegenüber – z. B. ein Brief, ein Schulbuch, eine Gebrauchsanweisung.<br />
Sie beziehen sich auf die außersprachliche Wirklichkeit, auf Gegenstände und Geschehnisse<br />
in der realen Welt.<br />
Wo ist es wohl wichtiger, genau zu übersetzen – beim Sachtext oder beim Fiktivtext? Keine<br />
Frage: beim Sachtext, und zwar aus zwei Gründen.<br />
Erstens: Bei einem Sachtext kann man nachprüfen, ob seine Aussagen stimmen. Einem<br />
Sachtext kann nichts Schlimmeres passieren, als wenn er der Überprüfung nicht standhält.<br />
Denn der Leser geht davon aus, dass der Inhalt mit der Wirklichkeit übereinstimmt – nicht nur<br />
beim Original, sondern ganz genauso auch in der Übersetzung. Es kommt immer wieder vor,<br />
dass ich in einer Zeitung einen theologischen Artikel lese (ein Bereich, wo ich mich<br />
einigermassen zu Hause fühle) und dabei auf Angaben stoße, die nicht korrekt sind – falsche<br />
Jahresangaben, verkehrte Personennamen, unrichtige Darstellung von Zusammenhängen.<br />
Dann bin ich natürlich misstrauisch und kaufe dem Journalisten nicht ohne weiteres ab, was<br />
er sonst noch berichtet; denn da, wo ich es kontrollieren kann, hat er schlampig recherchiert.<br />
Bei fiktiven Texten sieht das anders aus. Wer nach einem Roman greift, möchte unterhalten<br />
werden – mit einer glänzend erzählten, einer spannenden, einer rührenden Geschichte. Wenn<br />
man ihn auf einen Übersetzungsfehler hinweisen würde, würde er vermutlich nur mit den<br />
Achseln zucken: Was soll’s; der Autor hat ja eh alles erfunden.<br />
Zweitens: Sachtexte müssen sich in der Praxis bewähren. Wenn die Gebrauchsanleitung nicht<br />
klar formuliert ist, bringt man das Gerät nicht in Gang. Wenn der Schüler die Aufforderung<br />
seines Lehrers nicht versteht, hat das womöglich unangenehme soziale Folgen für ihn. Wenn<br />
der Kranke sich über Risiken und Nebenwirkungen eines Medikaments informieren will und<br />
die Packungsbeilage nicht begreift, kann das zu massiven Gesundheitsproblemen führen.<br />
(Aber zum Glück gibt es ja noch den Arzt und den Apotheker!) Sachtexte sind auf<br />
Eindeutigkeit hin angelegt. Je klarer die Formulierungen, desto besser. Und auch hier wieder:<br />
Wenn Fiktivtexte schlecht übersetzt sind, muss der Leser nicht mit negativen Konsequenzen<br />
rechnen. Ein schlechter Stil mag ärgerlich sein, aber der Alltag des Lesers ist davon nicht<br />
betroffen.<br />
Wenden wir das Ganze auf die Übersetzung der Bibel an. Die entscheidende Frage lautet<br />
natürlich: Handelt es sich bei der Bibel um Sachtexte oder um Fiktivtexte? Ich meine, an der<br />
richtigen Antwort kann es keinen Zweifel geben: Die biblischen Texte sind (wenigstens in<br />
erster Linie) Sachtexte. In der Bibel werden keine erfundenen Geschichten erzählt, sondern<br />
Geschichte, Historie, die Geschichte des israelitischen Volkes, die Geschichte von Jesus<br />
Christus, dem Messias, die Geschichte von der Entstehung der christlichen Gemeinde. In der<br />
Bibel wird nicht phantasiert, sondern informiert, über Gott und über unsere Beziehung zu<br />
Gott. „Ich will, dass ihr Folgendes wisst“ – so beginnt der Apostel Paulus zahlreiche<br />
Abschnitte in seinen Briefen. In der Bibel wird nicht so lange über Gut und Böse<br />
psychologisiert, bis es nur noch ein Jenseits von Gut und Böse gibt. Nein, die Bibel zieht<br />
klare Trennlinien und fordert uns unmissverständlich auf, dem Bösen den Rücken zu kehren<br />
und das Gute zu tun.<br />
Wenn die Bibeltexte also Sachtexte sind, dann gilt für sie, was für alle Sachtexte gilt: Sie<br />
müssen so genau und so klar wie möglich wiedergegeben werden.<br />
So genau wie möglich – nicht durch eine Wort-für-Wort-Wiedergabe, bei der man häufig<br />
raten muss, was wohl gemeint sein könnte, sondern durch größtmögliche inhaltliche und<br />
sachliche Übereinstimmung mit dem Original.<br />
22
So klar wie möglich – weil die Bibel eben nicht nur über Gott informiert, sondern möchte,<br />
dass wir eine persönliche Beziehung zu Gott aufbauen. Der Apostel Johannes schreibt gegen<br />
Ende seines Evangeliums:<br />
„Was hier berichtet ist, wurde aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias<br />
ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben an ihn in seinem Namen das<br />
Leben habt.“ (Johannes 20,31)<br />
Mit ähnlichen Worten sagen das auch alle anderen neutestamentlichen Verfasser. Und selbst<br />
wo es nicht ausdrücklich gesagt wird (z. B. in einigen Büchern des Alten Testamens), steht es<br />
doch überall zwischen den Zeilen. Die ganze Bibel – von der ersten bis zur letzten Seite – ist<br />
im Grunde genommen eine einzige Gebrauchsanleitung, die uns zeigt, wie wir mit Gott leben<br />
können. Das ist die pragmatische Seite der Bibel; das ist ihre Wirkungsabsicht; das ist ihre<br />
explizite und ihre implizite Botschaft. Die Mitteilungen der Bibel sind letztlich<br />
Aufforderungen. Paulus schreibt einmal folgendes:<br />
„Alles, was in der Schrift steht, ist von Gottes Geist eingegeben, und dementsprechend<br />
groß ist auch der Nutzen der Schrift: Sie unterrichtet in der Wahrheit, deckt Schuld<br />
auf, bringt auf den richtigen Weg und erzieht zu einem Leben nach Gottes Willen. So<br />
ist also der, der Gott gehört und ihm dient, mit Hilfe der Schrift allen Anforderungen<br />
gewachsen; er ist durch sie dafür ausgerüstet, alles zu tun, was gut und richtig ist.“ (2.<br />
Timotheus 3,16.17)<br />
Die Bibel will uns nicht nur über Gottes Welt und Gottes Pläne informieren; es ist ihr<br />
erklärtes Ziel, auf unser Leben und unseren Alltag Einfluss zu nehmen. Und das ist eine<br />
Sache auf Leben und Tod! Wischi-Waschi-Anweisungen sind da total fehl am Platz! Wenn<br />
jemand eine Beziehung zu Gott aufbauen möchte, darf das nicht daran scheitern, dass er die<br />
entsprechenden Anweisungen nicht richtig versteht.<br />
Deshalb kann ein Bibelübersetzer der Bibel keinen besseren Dienst erweisen, als dass er ihre<br />
Botschaft so genau und so verständlich wiedergibt, wie es ihm möglich ist. Nur dann wird er<br />
auch ihrer missionarischen Dimension gerecht.<br />
Bibellesen ist Vertrauenssache<br />
Noch eine letzte Beobachtung, etwas, was mir eigentlich erst richtig bewusst geworden ist, als<br />
ich selbst mit dem Übersetzen von Bibeltexten beschäftigt war: Das Benutzen einer<br />
Bibelübersetzung ist Vertrauenssache. Eigentlich versteht sich das von selbst. Wenn ein<br />
deutscher Leser kein Griechisch oder Hebräisch kann, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als<br />
darauf zu hoffen, dass der oder die Übersetzer gute Arbeit geleistet haben. Er muss sich auf<br />
die Übersetzung verlassen können. Bibellesen ist Vertrauenssache.<br />
Wie kann der Übersetzer das Vertrauen seiner potentiellen Leser gewinnen? Was kann er tun,<br />
um Misstrauen abzubauen? Mindestens drei Dinge gehören m. E. dazu.<br />
Erstens: Sorgfalt. Der Bibelübersetzer muss so sorgfältig wie möglich arbeiten. Theologisch<br />
gesagt: Er muss gründliche Exegese betreiben. Sprachwissenschaftlich gesagt: Er muss sich<br />
den engeren und weiteren Kontext jedes Wortes, jeder Aussage, jedes biblischen Buches<br />
ansehen. Denn nur auf diese Weise wird er den richtigen Sinn, die angemessene Bedeutung<br />
der Wörter und Sätze herausfinden.<br />
Zweitens: Transparenz. Der Übersetzer kann versuchen, mit Hilfe von Anmerkungen den<br />
Weg aufzuzeigen von einer wörtlichen (aber inhaltlich vielleicht nicht unbedingt<br />
zutreffenden) Wiedergabe zu einer freieren, aber sachlich korrekten und sprachlich<br />
verständlichen Wiedergabe. Damit schlägt er eine Brücke zwischen den verschiedenen<br />
Übersetzungstypen, den wortwörtlichen, den philologisch genauen und den kommunikativen.<br />
Und der Benutzer ist dann nicht mehr so verwirrt, wenn er bei ein und demselben Vers auf<br />
völlig anderslautende Formulierungen stößt.<br />
23
Drittens: Gebet. Wenn der Übersetzer in einer persönlichen Beziehung zu Gott lebt und ihn<br />
immer wieder um Durchblick und Kreativität bittet, wird – davon bin ich überzeugt – Gottes<br />
Heiliger Geist Einfluss auf die Übersetzungstätigkeit nehmen. Damit wird die gründliche<br />
wissenschaftliche Arbeit in keiner Weise überflüssig. Im Gegenteil, gerade wenn ich weiß,<br />
dass ich es hier mit Gottes eigenen Worten zu tun habe, werde ich mich noch viel mehr<br />
bemühen, diesen Worten theologisch und linguistisch gerecht zu werden. Aber es ist gut zu<br />
wissen, dass man mit dieser riesigen Verantwortung nicht allein gelassen ist, sondern dass<br />
Gott selbst einem zu Hilfe kommt. Wenn wir Interesse daran haben, die Bibel gut zu<br />
übersetzen – Gott hat es noch viel mehr.<br />
Auf diese Weise – mit sorgfältiger Exegese, mit Transparenz beim Übersetzungsvorgang und<br />
mit Gebet – kann der Bibelübersetzer versuchen, das Vertrauen der Leser zu gewinnen.<br />
Zwei Zitate und zwei Schlussfolgerungen<br />
Lassen Sie mich mit zwei Zitaten zum unserem Thema schließen. Das erste hab ich mir mal<br />
vor vielen Jahren notiert; ich erinnere mich leider nicht, von wem es stammt. Vielleicht ist es<br />
im Zeitalter der funkgesteuerten Uhren auch gar nicht mehr ganz up-to-date:<br />
„Bibelübersetzungen sind wie Uhren: Die beste ist immer noch nicht genau genug,<br />
und die schlechteste ist immer noch besser als gar keine.“<br />
Die Folgerung daraus wäre: Schnappen Sie sich die nächstbeste Bibel und fangen Sie an zu<br />
lesen! Sie werden es nicht bereuen.<br />
Das zweite Zitat und zugleich das Schlusswort an diesem Seminar stammt von dem jüdischen<br />
Dichter Haim Nacham Bialik; ich bin vor einiger Zeit in einem Artikel von P. R. Raabe in der<br />
Zeitschrift „The Bible Translator“ darauf gestoßen (Vol. 51, Nr. 2, Seite 201):<br />
„Die Bibel in einer Übersetzung zu lesen ist, wie wenn du deine Braut durch einen<br />
Schleier küsst.“<br />
Eine Übersetzung, und sei sie noch so genau, ist nie eine Eins-zu-eins-Entsprechung zum<br />
ursprünglichen Text, sondern immer nur eine Annäherung. Die Folgerung daraus wäre: Wenn<br />
Sie diese Braut direkt auf die Lippen küssen möchten, müssen Sie Hebräisch, Aramäisch und<br />
Griechisch lernen und die Bibel im Original lesen. Einen anderen Weg gibt es nicht.<br />
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