Download - Österreichisches Bibliothekswerk
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Ordo coleoptera<br />
Während des Zweiten Weltkriegs las Jünger<br />
die ganze Bibel vom Anfang bis zum Ende und<br />
kam zum Schluss:<br />
Die Bibel wie die Tierwelt sind Offenbarungen,<br />
und darin liegt ihre gewaltige,<br />
gleichnishafte Macht. (SW 3, 231)<br />
Jünger braucht nichts Spektakuläres, um<br />
in diese mystisch-religiöse Dimension<br />
der Naturwahrnehmung zu<br />
geraten. Er staunt darüber, „ein<br />
wie gewaltiges Wunder das Erscheinen<br />
der Tiere ist“ (SW 3, S.<br />
85). Es genügt, dass ein Käfer<br />
namens Zimmerbock über die<br />
Heide schwirrt:<br />
In solchem blitzschnellen<br />
Einblick liegt ein großes Glück<br />
verborgen; wir ahnen geheime<br />
Gründe der Natur. Das Tier<br />
erscheint in seinem eigentlichen<br />
Wesen, in seinen Zaubertänzen<br />
und der Montur, wie sie<br />
Natura ihm verliehen hat.<br />
Das ist einer der äußersten<br />
Genüsse, die das Bewußtsein<br />
uns gewähren kann:<br />
Wir dringen in die Tiefe<br />
des Lebenstraumes ein und<br />
existieren in den Geschöpfen<br />
mit. Es ist, als ob auf uns ein<br />
Fünkchen überspränge von der<br />
ungemeinen, unreflektierten Lust,<br />
die sie erfüllt. (SW 3, S. 28)<br />
Zu beachten ist, dass diese und viele ähnliche<br />
Notate während des Zweiten Weltkriegs entstanden.<br />
Es wurde dem Wehrmachtsoffizier<br />
Jünger, der einige Jahre im besetzten Paris<br />
stationiert war, als Herzenskälte oder zumindest<br />
als Eskapismus angekreidet, dass er zur<br />
Zeit von Krieg und Holocaust über Insekten<br />
schrieb. Dieser Vorwurf ist sicher nicht unberechtigt.<br />
Auf der anderen Seite ist es aber verständlich,<br />
dass der Autor in der Natur Zuflucht<br />
und Trost suchte. Sich in Naturerscheinungen<br />
impulse<br />
zu versenken, war für ihn wohl eine Bewältigungsstrategie.<br />
Den Leser stößt er freilich vor<br />
den Kopf, wenn er z. B. von Gräueltaten der<br />
Deutschen in der Ukraine und im nächsten<br />
Satz von Insektenbeobachtungen schreibt:<br />
Dort eine schöne Coccinellide, die im<br />
Sonnenglanz an einen Schilfhalm flog [...]<br />
– eine Harmonie, die nur gelingt, wenn die<br />
Natur die Farben mischt. (SW 3, S. 185)<br />
Die Natur war für Jünger ein Gegenraum zur<br />
politischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.<br />
Sein geringes Interesse an staatenbildenden<br />
Insekten wie Bienen oder Ameisen<br />
mag damit zu tun haben, denn bei deren<br />
Betrachtung wären Vergleiche mit menschlichen<br />
Staatsgebilden, in denen das Individuum<br />
wenig zählt, wohl unumgänglich gewesen.<br />
Allenfalls könnte sein Science-Fiction-Roman<br />
„Gläserne Bienen“ zu solchen Assoziationen<br />
anregen, doch in diesem Werk geht es nicht<br />
um Tiere, sondern um fliegende Miniroboter.<br />
Insekten bevölkern die Erde schon viel länger<br />
als der Homo sapiens. Jahrtausendelang haben<br />
sie den Aufstieg und Fall von Weltreichen<br />
unbeschadet überstanden. Für Jünger, der<br />
dem Darwinismus sehr kritisch gegenübersteht,<br />
sind sie nicht bloß Erfolgsmodelle der<br />
Evolution, sondern Garanten der Schöpfungsordnung,<br />
die über die Wechselfälle der<br />
Menschheitsgeschichte erhaben ist. In Ruinen,<br />
die von der Vergänglichkeit menschlichen<br />
Strebens zeugen, fühlen sie sich sogar<br />
besonders wohl. Doch im 20. Jahrhundert<br />
brechen für sie andere Zeiten an. Massenvernichtungswaffen<br />
machen auch vor ihnen<br />
nicht Halt, wie Jünger während des Ersten<br />
Weltkriegs erlebte. In seinem berüchtigten<br />
Frühwerk „In Stahlgewittern“ (1920) beschrieb<br />
der Fünfundzwanzigjährige die Auswirkungen<br />
eines Giftgasangriffs auf die Natur:<br />
Ein großer Teil aller Pflanzen war<br />
bn 2013 / 1<br />
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