18.11.2013 Aufrufe

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Ich ging in Gedanken durch die ungeheueren Werkstätten<br />

und ich sah, daß alles im Werden war und nichts eilte. Da<br />

stand, riesig zusammengeballt, der Denker, in Bronze, vollendet;<br />

aber er gehörte ja in den immer noch wachsenden Zusammenhang<br />

des Höllentors. Da wuchs das eine Denkmal für<br />

Victor Hugo heran, langsam, immerfort beobachtet, vielleicht<br />

noch Abänderungen ausgesetzt, und weiterhin standen die anderen<br />

Entwürfe, werdend. Da lag, wie ausgegrabenes Wurzelwerk<br />

einer uralten Eiche, die Gruppe des Ugolino und wartete.<br />

Da wartete das merkwürdige Denkmal für Puvis de Chavannes<br />

mit dem Tisch, dem Apfelbaum und dem herrlichen Genius<br />

der ewigen Ruhe. Das da drüben wird ein Denkmal für<br />

Whistler sein und hier diese ruhende Gestalt wird vielleicht<br />

einmal das Grab eines Unbekannten berühmt machen. Es ist<br />

kaum durchzukommen; aber schließlich bin ich wieder vor<br />

dem kleinen Gipsmodell der Tour du Travail, das nun in seiner<br />

endgültigen Anordnung nur des Bestellers harrt, der das<br />

riesige Beispiel seiner Bilder aufrichten hilft unter den Menschen.<br />

Aber da ist neben mir ein anderes Ding, ein stilles Gesicht,<br />

zu dem eine leidende Hand gehört, und der Gips hat jene<br />

durch-scheinende Weiße, die er nur unter Rodins Werkzeug<br />

annimmt. Auf dem Gestell steht, vorläufig vorgemerkt und<br />

schon wieder durchgestrichen: Convalescente. Und nun finde<br />

ich mich unter lauter namenlosen neuen werdenden Dingen;<br />

sie sind gestern begonnen oder vorgestern oder vor Jahren,<br />

aber sie haben dieselbe Unbekümmertheit wie jene anderen.<br />

Sie rechnen nicht.<br />

Und da fragte ich mich zum ersten Male: Wie ist es möglich,<br />

daß sie nicht rechnen? Warum ist dieses immense Werk<br />

immer noch im Ansteigen und wohin steigt es? Denkt es nicht<br />

mehr an seinen Meister? Glaubt es wirklich, in den Händen<br />

der Natur zu sein, wie die Felsen, an denen tausend Jahre hingehen<br />

wie ein Tag?<br />

28

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!