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Rainer Maria Rilke

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Aber lassen Sie uns einen Augenblick überlegen, ob nicht<br />

alles Oberfläche ist was wir vor uns haben und wahrnehmen<br />

und auslegen und deuten? Und was wir Geist und Seele und<br />

Liebe nennen: ist das nicht alles nur eine leise Veränderung<br />

auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichts? Und wer uns<br />

das geformt geben will, muß er sich nicht an das Greifbare<br />

halten, das seinen Mitteln entspricht, an die Form, die er<br />

fassen und nachfühlen kann? Und wer alle Formen zu sehen<br />

und zu geben vermöchte, würde der uns nicht (fast ohne es zu<br />

wissen) alles Geistige geben? Alles, was je Sehnsucht oder<br />

Schmerz oder Seligkeit genannt war oder gar keinen Namen<br />

haben kann in seiner unsagbaren Geistigkeit?<br />

Denn alles Glück, von dem je Herzen gezittert haben; alle<br />

Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten<br />

umwandelnden Gedanken –: es gab einen Augenblick, da<br />

sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn<br />

von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen; und dieser<br />

Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit<br />

auf einem Gesicht, – vielleicht waren sie genau so<br />

schon vorher da: als Zeichnung auf einem Tier, als Furche in<br />

einem Felsen, als Vertiefung auf einer Frucht ...<br />

Es giebt nur eine einzige, tausendfältig bewegte und abgewandelte<br />

Oberfläche. In diesem Gedanken konnte man einen<br />

Moment die ganze Welt denken, und sie wurde einfach und als<br />

Aufgabe dem in die Hände gelegt, der diesen Gedanken dachte.<br />

Denn ob etwas ein Leben werden kann, das hängt nicht von<br />

den großen Ideen ab, sondern davon, ob man sich aus ihnen<br />

ein Handwerk schafft, ein Tägliches, Etwas, was bei einem<br />

aushält bis ans Ende.<br />

lch wage es jetzt, Ihnen den Namen zu nennen, der sich<br />

nicht länger verschweigen läßt: Rodin. Sie wissen, es ist der<br />

Name unzähliger Dinge. Sie fragen nach ihnen, und es verwirrt<br />

mich, daß ich Ihnen keines zeigen kann.<br />

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