Dezember 2003 - Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Aspekte<br />
„Shit happens“ in Lemberg ...<br />
Historiker in spe in der Ukraine und in Ostpolen<br />
.......................................................................<br />
.............................<br />
oto: Siegfried Bodenmann<br />
Grenzland-Erfahrungen:<br />
„Polens Osten und Russlands Westen“<br />
hieß das Motto des Unternehmens. In<br />
das historische Galizien ging die Studienfahrt,<br />
eine Region östlich von Europas<br />
Mitte, in der sich unterschiedliche<br />
Völker, Religionen, Kulturen unter<br />
wechselnder Herrschaft über Jahrhunderte<br />
miteinander arrangierten. Nicht<br />
ohne Konflikte, um nur an die Massaker<br />
der Kosaken unter Chmelnitzki zu<br />
erinnern, aber immer wieder erfolgreich<br />
im Aushandeln des Zusammenlebens.<br />
ür Osteuropahistoriker ein begründetes,<br />
in dieser orm aber nicht<br />
alltägliches Unterfangen. Doch der<br />
DAAD half, die Kosten erträglich zu<br />
halten. Humor und Leidensfähigkeit<br />
reichten aus, als das Gruppenvisum<br />
10 Stunden vor der Abfahrt noch nicht<br />
in <strong>Halle</strong> war. Das Reisebüro Reimer<br />
und ein Busunternehmen aus Odessa<br />
organisierten wahre Wunder. Und Sitzfleisch,<br />
Stehvermögen, ein guter Magen<br />
und passende Kleidung waren Voraussetzungen,<br />
die 4 000 Kilometer im<br />
Bus, ein gnadenloses Besichtigungsprogramm<br />
und die nächtliche Verarbeitung<br />
der Eindrücke bei Tee, Bier oder<br />
Wodka zu überstehen. Schlaf wurde<br />
zum notwendigen Übel erklärt. Elf<br />
spannende Tage, die Horizonte verschoben<br />
und zu völlig neuen Erfahrungen<br />
verhalfen, waren der Lohn.<br />
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Lemberg<br />
Um eine Beobachtung vorweg zu nehmen:<br />
Von der vielfältigen historischkulturellen<br />
Vergangenheit war im heutigen<br />
Leben von L’viv (L’vov, Lwów, Lemberg),<br />
Odessa, Kiev oder Zamosc ´´ oft<br />
nur schwer etwas wieder zu finden.<br />
Das 20. Jahrhundert mit seinen Weltkriegen<br />
und Diktaturen, den ethnischen<br />
Säuberungen und dem Holocaust, den<br />
Begleiterscheinungen der Wiederoder<br />
Neugeburt von Nationalstaaten<br />
tilgte radikal viele Spuren dieser Geschichte.<br />
Die Region „unscharfer Grenzen“<br />
empfängt den Besucher mit Kontrollen<br />
nach sowjetischer Manier, die<br />
in Erinnerung rufen, das Grenzen ursprünglich<br />
trennen sollten. Die Westukraine<br />
ist wie Ostpolen heute ethnisch<br />
weitgehend homogen. Glaubensbekenntnisse<br />
unterscheiden sich<br />
zwar weiterhin. Doch in L’viv dominieren<br />
orthodoxe Kirchen das religiöse<br />
Leben. Die armenisch-katholische Kirche<br />
besitzt zwar ein schönes Gotteshaus,<br />
hat aber nur eine kleine Gemeinde.<br />
Katholische Gottesdienste<br />
werden gar in polnischer Sprache gehalten.<br />
Synagogen zu finden, jüdisches<br />
Leben und jüdische Geschichte zu entdecken<br />
benötigt schon kundige ührung.<br />
Der Kunsthistoriker Igor Zhuk<br />
führte die Gruppe durch sein Lemberg<br />
des 19. Jahrhunderts und half mit Witz<br />
und Leidenschaft zu sehen und zu verstehen.<br />
azit hier: Die Stadt ist trotz<br />
mancher Wunden einzigartig erhalten,<br />
aber es ist noch nicht entschieden, ob<br />
ihre Schönheit wieder hergestellt werden<br />
kann oder weiter verfällt. Eine Reise<br />
lohnt sich. Jetzt!<br />
Odessa<br />
Scheinbar grenzenlos war dann wenigstens<br />
die Weite des Landes auf der<br />
ahrt nach Odessa. Über 1 300 Kilometer<br />
geduckte Dörfer und öde Kleinstädte<br />
entlang der Trasse, einige Wälder<br />
und Sümpfe, meist aber riesige elder<br />
und der Kontrast reicher Böden,<br />
uralter Technik und bedrückender Armut.<br />
Immerhin wirkte das Leben nicht<br />
gelähmt.<br />
Mitten in der Innenstadt von Odessa: eine der alten Synagogen als Zentrum neuen jüdischen Lebens.<br />
otos (2): Marius Gerhardt<br />
Das Höhlenkloster in Kiev – seit der Perestroika nicht mehr nur Touristenattraktion, sondern auch wieder Kloster.<br />
Die Autobahn war eine unendliche<br />
Baustelle. LKW, Busse und Nobelkarossen<br />
transportierten neben Pferdefuhrwerken,<br />
Ladas, uralten Wolgas und<br />
W 50 aus der DDR Menschen und alle<br />
möglichen Waren.<br />
Odessa, die Stadt der Schlitzohren und<br />
Banditen, denen Isaak Babel oder Ilja<br />
Ilff und Evgenij Petrov literarische<br />
Denkmale setzten, gab sich eher russisch:<br />
Hier heißt die Grivna auf der<br />
Straße weiter Rubel, und die Alleen des<br />
Zentrums erinnern an St. Petersburg.<br />
Ukrainischer und russischer Sprachgebrauch<br />
halten sich die Waage, und die<br />
sowjetische Vergangenheit ist stärker<br />
als in Lemberg gegenwärtig. Dank des<br />
Hafens wirkt die Stadt auch heute weltoffen,<br />
doch viele Zeugnisse einer prosperierenden<br />
Vergangenheit sind vom<br />
Zahn der Zeit befallen. Indessen:<br />
Prächtiges Oktoberwette lud sogar zu<br />
einem Bad im Schwarzen Meer ein.<br />
Anna Misjuk – eine jüdische Historikerin<br />
und Journalistin – führte durch das<br />
Odessa der späten Zarenzeit. Sie zeigte<br />
die Stadt als eine Metropole jüdischen<br />
Lebens, aber auch das Zentrum<br />
deutscher Kolonisation in Südrussland.<br />
Eine wichtige Erfahrung war: Beide<br />
Gemeinden standen und stehen in gutem<br />
Einvernehmen. In einer unnachahmlichen<br />
Mischung aus Wehmut, leiser<br />
Ironie und deftigem Humor schilderte<br />
Anna das Schicksal der Odessiten<br />
während der Stalin’schen Diktatur,<br />
die Überlebensstrategien von Künstlern<br />
und Dissidenten, die schüchternen<br />
Anfänge eines neuen jüdischen Milieus.<br />
Hier schwang Stolz mit, aber<br />
ebenso Skepsis gegenüber der Zukunft.<br />
Gleichwohl: Es scheint Aufbruch zu geben,<br />
der hoffentlich bald auch Touristen<br />
in größerer Zahl nach Odessa<br />
führt.<br />
Kiev<br />
Die „Mutter der Städte“, kalt und regnerisch,<br />
präsentierte sich hauptstädtisch<br />
wie schon in der Zeit der Kiever<br />
Rus. Selbst die Versuche der neuen Eliten,<br />
sich mit geschmacklosen Symbolen<br />
staatlicher Souveränität, pompösen<br />
Einkaufszentren und hässlichen Nachbauten<br />
zerstörter Kathedralen zu feiern,<br />
konnten die Harmonie der Stadt<br />
nicht zerstören. Podol, die alte Handels-<br />
und Handwerkerstadt, ist schön<br />
restauriert, ebenso wie das Höhlenkloster<br />
und die Sophienkathedrale.<br />
Gleich daneben stehen der Sitz des<br />
KGB und seiner Nachfolger, die Monumente<br />
sowjetischer Zeit und die<br />
prachtvollen Wohnhäuser der neuen<br />
Magnaten für die Kompliziertheit historischer<br />
Umbrüche, während ein Denkmal<br />
für die Opfer der Kollektivierung<br />
in ästhetisch neuer orm zum Erinnern<br />
anregt. Aus Ironie und Witz der Stadtführer<br />
wurde in Kiev Galgenhumor.<br />
Studentenaustausch im Herbst <strong>2003</strong><br />
Auslandsseminar <strong>Halle</strong>-Bratislava gefragt wie nie<br />
Auch im Herbst <strong>2003</strong> hatten Studierende<br />
der Wirtschaftswissenschaftlichen<br />
akultät der MLU und der Wirtschaftsuniversität<br />
Bratislava im Rahmen<br />
des Partnerschaftsvertrages Gelegenheit,<br />
an einem Auslandsseminar teilzunehmen.<br />
Der Austausch stößt seit Jahren<br />
auf wachsendes Interesse. Diesmal<br />
konnten gar nicht alle InteressentInnen<br />
nach Bratislava reisen.<br />
Bei dem 20-tägigen Seminar erwartete<br />
die Studierenden aus <strong>Halle</strong> und Bratislava<br />
in beiden Städten ein vielfältiges<br />
Programm. Ein Besuch bei den Unternehmensberatungen<br />
Deloitte & Touché<br />
und Sario in Bratislava vermittelte eine<br />
Vorstellung von der engen wirtschaftlichen<br />
Zusammenarbeit mit Deutschland<br />
und anderen Ländern der EU. Gerade<br />
im Hinblick auf die EU-Osterweiterung<br />
kam es zu interessanten Gesprächen.<br />
Auch eine Werksbesichtigung beim<br />
größten deutschen Investor in der Slowakei,<br />
der Volkswagen AG, stand auf<br />
dem Programm, und die SeminarteilnehmerInnen<br />
nutzten die Chance zu<br />
angeregten Gesprächen mit den Mitarbeitern.<br />
Neben den wirtschaftlichen fanden kulturelle<br />
Exkursionen statt. Ein Besuch im<br />
Parlament stand für die politische Entwicklung<br />
des noch sehr jungen Staates.<br />
Spätestens jetzt war klar, welch wichtige<br />
Rolle Humor in allen Spielarten als<br />
Überlebenselixier im harten Alltag der<br />
Ukraine spielt. Trotzdem: Kiev ist immer<br />
eine Reise wert. „Mehr Ukraine“<br />
bieten jedoch L’viv und Odessa.<br />
Zamosc ´´<br />
Die polnische Renaissancestadt Zamosc<br />
´´ – letzte Station der Exkursion –<br />
wurde im 16. Jahrhundert als „ideale<br />
Stadt“ des internationalen Handels und<br />
der humanistischen Bildung angelegt.<br />
Heute ist ihre sehenswerte, durch den<br />
Zuzug von armenischen, griechischen<br />
und jüdischen Händlern geprägte Architektur<br />
aber nur noch die Hülle für<br />
ein polnisches Provinzstädtchen. Tätigen<br />
Anteil daran hatten die Nationalsozialisten,<br />
die Zamosc ´´ zum Zentrum<br />
des „deutschen Siedlungsbereiches“ im<br />
„Generalgouvernement“ erklärt hatten.<br />
Tausende jüdische und polnische Einwohner<br />
fielen ethnischen Säuberungen<br />
zum Opfer.<br />
Stoff zum Nachdenken und Diskutieren<br />
– auch angesichts unsäglicher Töne in<br />
den Debatten über Vertreibung, die ins<br />
Gedächtnis rufen, wie nötig es ist, Geschichte<br />
im Wortsinn zu erfahren.<br />
Hartmut Rüdiger Peter<br />
Großen Anklang fand der Besuch der<br />
Stein-Brauerei Bratislava (mit Verkostung!).<br />
Außerdem erlebten die deutschen<br />
Gäste bei allabendlichen Treffen<br />
slowakische Gastfreundschaft live.<br />
In <strong>Halle</strong> empfingen die Studierenden<br />
ihre Gäste ebenso herzlich. Auch hier<br />
waren viele Events vorgesehen, u. a.<br />
Besuche bei der ROMONTA GmbH<br />
Amsdorf, von InfraLeuna und DOW in<br />
Schkopau. Begeistert waren die slowakischen<br />
Studierenden vom Rundgang<br />
durch die historische Altstadt und von<br />
einer Saalewanderung.<br />
Schwerpunkte innerhalb der Seminartage<br />
im jeweiligen Gastland waren<br />
Vorträge zu fachbezogenen Themen,<br />
die jede(r) einzelne Student(in) hielt.<br />
Die nachfolgenden Diskussionen boten<br />
immer wieder Gelegenheit, sich intensiv<br />
mit ökonomischen ragestellungen<br />
auseinander zu setzen.<br />
Der von PD Dr. Axel Stolze (<strong>Halle</strong>) und<br />
Dipl.-Ing. Rastislav Strhan (Bratislava)<br />
bestens organisierte Austausch hinterließ<br />
bei allen Beteiligten zahlreiche<br />
positive Eindrücke und nützliche neue<br />
Erfahrungen: Alle wünschen sich, dass<br />
dieses traditionelle Auslandsseminar<br />
trotz angespannter inanzlage der<br />
Hochschulen – und sei es mit Hilfe von<br />
Sponsoren – weiter besteht. MaWe