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Reader - Internationales - Universität Stuttgart

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dass in einer bestimmten Situation immer gleich entschieden und gehandelt wird. Da die<br />

Regel vorschreibt, was zu tun ist, muss nicht in jeder neuen Situation neu entschieden<br />

werden.<br />

In Ländern mit schwacher Unsicherheitsvermeidung dagegen wird in jeder neu<br />

entstandenen Situation entschieden. Natürlich existieren auch hier Regeln, jedoch werden<br />

diese nicht so strikt angewandt, sondern immer auf die aktuelle Situation hin interpretiert.<br />

In Ländern mit großer Unsicherheitsvermeidung in Bezug auf die hier relevanten<br />

Punkte bevorzugen die Studierenden strukturierte Lernsituationen und präzise<br />

Zielvorgaben. Die Lehrenden wiederum erwarten, dass die Studierenden ihre Zeit so<br />

einteilen können, dass sie alles schaffen und die gesetzten Ziele erreichen. Um zu<br />

vermeiden, dass man später feststellt, dass man sich zu viel oder zu wenig für das<br />

Semester vorgenommen hat, macht man sich schon lange vorher Gedanken auch im<br />

Hinblick auf die Planung der Prüfungsvorbereitung. Anders ist dies in Ländern mit<br />

schwacher Unsicherheitsvermeidung: es wird oft nach dem Trial-and-Error-Prinzip studiert<br />

und man nimmt sich zunächst einmal sehr viel vor. Viele Studierende mit Bachelor-<br />

Abschluss überschätzen sich daher. Sie planen zehn Prüfungen pro Semester und<br />

scheitern daran. Diese Studierenden sind es oft gewohnt, dass Regeln und Fristen<br />

situationsbezogen ausgelegt und Ausnahmen gemacht werden. Daher ist es sehr schwer<br />

für sie zu akzeptieren, dass an deutschen Hochschulen kaum Ausnahmen gemacht<br />

werden. In Deutschland versteht man unter Fairness, alle gleich zu behandeln und von<br />

allen das Gleiche zu erwarten. In Ländern mit schwacher Unsicherheitsvermeidung<br />

bedeutet Fairness, auch Ausnahmen zuzulassen. Studierende aus solchen Ländern<br />

können sich daher oft nicht vorstellen, wie wenig flexibel die Auslegung der Regeln ist und<br />

wie wichtig es daher ist, von vornherein Situationen zu vermeiden, in denen man um eine<br />

Ausnahme bitten müsste. Dieser kulturelle Unterschied spielt eine maßgebliche Rolle in<br />

der gegenseitigen Vorurteilsbildung: den ausländischen Studierenden wird unterstellt, sich<br />

allein durch die Bitte um eine Ausnahme einen ungerechten Vorteil erhandeln zu wollen.<br />

Den Deutschen wird im Gegenzug vorgeworfen, unmenschliche Paragraphenreiterei zu<br />

betreiben. Wie oben beschrieben, empfinden beide Seiten ihr Vorgehen als gerecht.<br />

Beide Handlungsmuster können wertneutral betrachtet als unterschiedliche Lösungswege<br />

desselben Problems gesehen werden.<br />

6.4 Kontextorientierung<br />

Eng verbunden mit der Unsicherheitsvermeidung ist auch die unterschiedliche<br />

Kontextorientierung, die eine Ursache vieler Missverständnisse darstellt. Deutschland<br />

gehört zu den so genannten Low-Context-Kulturen: in diesen wird explizit kommuniziert.<br />

Da es einen vergleichsweise geringen gemeinsamen Referenzrahmen gibt, muss eine<br />

größere Menge an Informationen stets mit vermittelt werden. Die Informationen werden<br />

dabei explizit und ohne großen Interpretationsspielraum übermittelt, was den Deutschen<br />

auch den Ruf eingebracht hat, sehr „direkt“ zu sein. Kulturhistorisch hängt dies in<br />

Deutschland mit der Kleinstaaterei zusammen, die über Jahrhunderte hinweg verhinderte,<br />

dass sich ein einheitlicher, weiträumiger Referenzrahmen bilden konnte. Selbst in<br />

unmittelbarer räumlicher Nähe gab es andere Gesetze, eine andere Religion, andere<br />

Mythen, sodass man nur wenig auf gemeinsam geteilte Informationen zurückgreifen<br />

konnte. Dadurch war also nur eine explizite Kommunikation möglich, ganz im Gegensatz<br />

zu Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder Japan, deren Grenzen sich seit<br />

Jahrhunderten kaum geändert haben.<br />

In High-Context-Ländern (in starker Ausprägung Asien, aber auch Lateinamerika,<br />

arabische Länder, Südosteuropa) nähert man sich vor allem schwierigen oder<br />

kontroversen Themen nur langsam. Man spricht in Metaphern und kommt erst all mählich<br />

auf den Punkt. Dies wird als eine besondere Leistung betrachtet, auch in Hausarbeiten<br />

und Klausuren. Wenn man ein schwieriges Thema direkt anspräche (was in Deutschland<br />

als analytisch und wissenschaftlich gilt), liefe man Gefahr, einen Gesichtsverlust der<br />

Lesenden zu verursachen, die unter Umständen eine andere Meinung haben.<br />

Insbesondere negative Kritik wird sehr indirekt geäußert. Studierende, die gewohnt sind,<br />

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