Reader - Internationales - Universität Stuttgart
Reader - Internationales - Universität Stuttgart
Reader - Internationales - Universität Stuttgart
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Bedeutung. Da in polychronen Kulturen auch die anderen darin geübt sind, spontan auf<br />
Änderungen zu reagieren, macht es nicht viel aus, wenn sie davon betroffen sind.<br />
In monochronen Gesellschaften wird eines nach dem anderen getan und für jeden<br />
Schritt wird eine bestimmte Zeit eingeplant. So unterscheidet z. B. die Professorin<br />
zwischen Zeiten, in denen sie für die Studierenden ansprechbar ist (Sprechstunden) und<br />
anderen, in denen dies nicht der Fall ist. In dieser Zeit möchte sie sich ausschließlich auf<br />
ihre Forschung, Vorlesungsvorbereitung oder Mitarbeiterbesprechungen konzentrieren<br />
können. In Deutschland konzentriert man sich dabei voll auf das gerade Anstehende und<br />
möchte dabei nicht gestört werden. In polychronen Gesellschaften ist man eher gewohnt,<br />
schnell zwischen dem einen und dem anderen hin und her zu springen. Deshalb ist es<br />
dort kein großes Problem, gestört zu werden, sondern eine übliche Verhaltensweise.<br />
Wenn eine Studentin eine Frage hat, ist dies wichtiger als die Vorbereitung einer<br />
Konferenz in zwei Monaten. Studierende, die dies so gewohnt sind, empfinden es als sehr<br />
studentenunfreundlich, wenn man sich nicht auch außerhalb der Sprechstunden Zeit für<br />
sie nimmt, und der Professor wird als arrogant und unkooperativ wahrgenommen. Da sie<br />
nicht gewohnt sind, sich über Sprech- und Öffnungszeiten zu informieren und diese in<br />
ihren Tages- oder Wochenplan zu integrieren (zumal es sein kann,<br />
dass viele überhaupt keinen solchen Plan haben), stehen sie oft enttäuscht vor<br />
verschlossenen Türen und fühlen sich schlecht betreut.<br />
Was die Einhaltung von Terminen betrifft, gilt das, was auch oben bereits zum<br />
Thema Unsicherheitsvermeidung erläutert wurde: da viele ausländische Studierende<br />
gewohnt sind, eher zu reagieren als zu planen, werden Termine und Verabredungen oft<br />
nicht eingehalten. Dabei mag es zunächst als paradox erscheinen, dass Studierende aus<br />
polychronen Kulturen bei Professoren dennoch in der Regel pünktlich sind. Hierfür ist<br />
jedoch das große Hierarchiegefälle und die damit verbundene Respektbekundung<br />
ausschlaggebend und nicht der Bezug zur Zeit. Daher ist es für sie oft schwierig zu<br />
begreifen, dass auch Mitstudierende auf Pünktlichkeit und das Einhalten von<br />
Verabredungen bestehen bzw. dass nach wenigen schlechten Erfahrungen die<br />
Freundschaft oder Lerngruppe in Gefahr gerät. Für viele ausländische Studierende ist es<br />
ungewöhnlich, dass dieses Thema auch im Privatleben so einen hohen Stellenwert hat. In<br />
Deutschland wird Zuspätkommen oder Nichterscheinen als Unzuverlässigkeit interpretiert<br />
oder als Zeichen dafür, dass dem anderen die Freundschaft oder Lerngruppe nicht wichtig<br />
ist. Mit ihrem Verhalten möchten ausländische Studierende aus solchen Kulturen dies gar<br />
nicht so vermitteln und auch keine Konfliktsituationen herbeiführen. Für viele ist es<br />
schlicht normal, flexibel mit Zeit umgehen zu können, vor allem<br />
im privaten Rahmen. Da Zeit für sie immer vorhanden ist, kann sie auch nicht „gestohlen“<br />
oder „vergeudet“ werden, so wie das in Deutschland gesehen wird, wo Zeit wie eine<br />
materielle Ressource behandelt wird.<br />
6.7 Konsequenzen für die Betreuung und Beratung<br />
Ziel einer adäquaten Betreuung internationaler Studierender kann und soll nicht sein,<br />
aufgrund kultureller Unterschiede völlig andere Maßstäbe anzusetzen oder auch das<br />
eigene Verhalten an diese anzupassen. Es sollte jedoch bei Lehrenden und Mitarbeitern<br />
der Universität, die Kontakt zu internationalen Studierenden haben, ein Bewusstsein für<br />
die Unterschiede und Respekt vor diesen existieren. Einerseits ist dies notwendig, um<br />
ungewohnte Verhaltensweisen besser einschätzen und auf sie reagieren zu können,<br />
andererseits aber auch, um sich darüber klar zu werden, was für eine enorme<br />
Anpassungsleistung den ausländischen Studierenden abverlangt wird, um in Deutschland<br />
erfolgreich studieren zu können. Dass sich solche tief greifenden Veränderungen nicht<br />
innerhalb weniger Monate vollziehen können, sollte auf der Hand liegen, besonders da es<br />
sich in vielen Punkten um so tief verankerte Vorstellungen von der Welt handelt, dass sie<br />
nur sehr langsam verändert und angepasst werden können. Deutsche Studierende wären<br />
vermutlich auch nicht in der Lage, in kurzer Zeit zu erlernen, eine Person, unabhängig von<br />
ihrer Kompetenz, allein aufgrund des Alters und der Position zu respektieren und ihr nicht<br />
zu widersprechen, wie man das in einem Land mit großer Machtdistanz tun müsste.<br />
26