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August/September 2010 - CVJM Liedolsheim

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„ ( K U L T U R - ) T I P P S F Ü R D E N S O M M E R“<br />

Wenn meinem Vater wieder mal alles zu<br />

viel wird, dann schaltet er heimlich seine<br />

Hörgeräte ab. Ich habe lange gebraucht,<br />

bis ich ihm auf die Schliche gekommen<br />

bin. Mittlerweile kann ich den Ausdruck<br />

vergnügter Entspannung auf seinem Gesicht<br />

richtig deuten. Ein Knopfdruck, und<br />

die Welt um ihn herum wird ruhig.<br />

Vielleicht habe ich meine Lärmempfindlichkeit<br />

ja von ihm geerbt. Denn oft kann<br />

ich das ständige Hintergrundrauschen des<br />

Alltags nur schwer ertragen. Dann wird<br />

mir alles zu viel: der dumpfe Technobeat<br />

aus der Nachbarwohnung, die Busse auf<br />

der Straße, die Handytelefonate in der U-<br />

Bahn, die Musik im Supermarkt. Selbst<br />

das Läuten der Kirchenglocken am Sonntagmorgen<br />

geht mir manchmal auf die<br />

Nerven.<br />

Wenn der Lärm in mir überhand zu<br />

nehmen droht, dann tanke ich Stille auf.<br />

Ganz früh am Sonntagmorgen, wenn die<br />

Stadt noch ausschläft und vermeintlich<br />

mir ganz allein gehört. Ich schnüre meine<br />

Laufschuhe und gehe los, am kleinen<br />

Bach hinter dem Haus. Jetzt bloß niemandem<br />

begegnen, nur meinem Schatten,<br />

der mir vorausgeht. Ich will meine<br />

Schritte, meinen Atem wieder hören.<br />

Wenn ich nach einer Weile meinen<br />

Rhythmus gefunden habe, kommt<br />

manchmal das Geplapper des Gedankenkarussells<br />

für ein paar Momente zum<br />

Stillstand. Der Körper übernimmt, der<br />

Kopf wird leer, die Seele ruhig. Ich kann<br />

endlich loslassen.<br />

Das klappt nicht jedes Mal. Denn anders<br />

als die Hörgeräte meines Vaters lässt sich<br />

mein Gehirn nicht per Knopfdruck abschalten.<br />

Zu Anfang habe ich mich darüber<br />

geärgert. Mittlerweile haben mein<br />

Verstand und ich eine Art Waffenstillstand<br />

miteinander geschlossen. Ich gehe<br />

so lange weiter, bis das hektische Rappeln<br />

zwischen meinen Ohren langsamer<br />

wird. Was dann an Gedanken an die<br />

Oberfläche treibt, nehme ich ernst. Ich<br />

lasse den Körper entscheiden, was wichtig<br />

ist und was nicht. Vielleicht, denke ich<br />

manchmal, ist dies ja meine Art, zu beten.<br />

Nach innen spüren, das Wesentliche erkennen.<br />

Mit dem ganzen Körper.<br />

MISHA LEUSCHEN<br />

„Sonntags“, aus: Andere Zeiten, Hamburg<br />

Erhältlich im Lädl für 15 Euro<br />

Ein gutes Buch mit Texten, Zitaten, Gedichten.<br />

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