EINBLICK Sonderheft „Was heißt schon normal?“ - AGAPLESION ...
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Sonderausgabe<br />
Was <strong>heißt</strong> <strong>schon</strong> <strong>normal</strong>?<br />
Betreuung und Pflege<br />
chronisch psychisch kranker Menschen<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 1
Editorial | Intern<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
Neue Freunde finden<br />
Kleinkinder werden trotz Auffälligkeiten<br />
in die <strong>normal</strong>e Kitagruppe<br />
integriert und bekommen<br />
dafür einen zusätzlichen Stützerzieher.<br />
Auch Grundschulkinder<br />
mit besonderem Förderbedarf<br />
besuchen heute Regelklassen.<br />
Für diese Inklusion stehen den<br />
unterrichtenden Lehrern Sozialarbeiter,<br />
Sonderpädagogen und/<br />
oder Psychologen zur Seite.<br />
Auch manche Erwachsene mit<br />
chronisch psychischen Erkrankungen<br />
oder geistiger Behinderung<br />
benötigen Begleitung und<br />
Anleitung, um sich gleichberechtigt<br />
an allen gesellschaftlichen<br />
Prozessen beteiligen zu können.<br />
Das beginnt bei der eigenen<br />
Körperpflege und regelmäßigen<br />
Nahrungsaufnahme, geht über<br />
die Haushaltsführung und Tagesstrukturierung<br />
bis hin zu Arbeit<br />
und Freizeitgestaltung.<br />
BETHANIEN RADELAND und<br />
BETHANIEN HAVELSTRAND<br />
bieten einen Lebensraum, in dem<br />
psychisch Kranke im Rahmen der<br />
vollstationären Pflege und Betreuung<br />
nach dem Normalitätsprinzip<br />
Unterstützung, Zuwendung<br />
und Anerkennung erfahren<br />
und inbesondere jüngere Menschen<br />
eine Chance erhalten, den<br />
Alltag wiederzuerlenen, um in<br />
ein selbstbestimmtes Leben zurückkehren<br />
zu können.<br />
Mit diesem <strong>Sonderheft</strong> bieten wir<br />
einen <strong>EINBLICK</strong> in unsere Häuser<br />
und unsere Arbeit. Damit können<br />
wir nicht alle Fragen zum Thema<br />
beantworten, aber vielleicht zu<br />
einem besseren Verständnis beitragen,<br />
warum unsere Einrichtungen<br />
gebraucht werden.<br />
Ich bedanke mich für Ihr Interesse<br />
Ihr Alexander Dettmann<br />
Geschäftsführer<br />
Wieder teilnehmen am Leben, die<br />
positiven Seiten des Alltags entdecken,<br />
sich trauen und anderen vertrauen<br />
– die <strong>AGAPLESION</strong> BETHA-<br />
NIEN DIAKONIE schafft in ihren<br />
Häusern für chronisch psychisch<br />
kranke Menschen die Voraussetzungen<br />
dafür, dass die Bewohnerinnen<br />
und Bewohner wieder ein<br />
Selbstwertgefühl entwickeln können.<br />
<strong>EINBLICK</strong> sprach darüber mit<br />
dem Geschäftsführer Alexander<br />
Dettmann.<br />
Was ist das Besondere an Haus<br />
Radeland und Haus Havelstrand?<br />
Dettmann: Wir sind stolz auf unser<br />
breitgefächertes Therapieangebot,<br />
das wir in dieser Vielfalt nur deshalb<br />
vorhalten können, weil wir<br />
sowohl über die räumlichen Bedingungen<br />
dafür verfügen, als auch<br />
personell so aufgestellt sind, dass<br />
immer mehrere Angebote gleichzeitig<br />
stattfinden können.<br />
Welche Angebote sind das?<br />
Dettmann: Das reicht von hauswirtschaftlichen<br />
Tätigkeiten wie<br />
Kochen und Backen über gemeinsame<br />
Frühstücksrunden, Kosmetikgruppen,<br />
eine Zeitungsredaktion,<br />
Kreatives Gestalten, Gedächtnistraining,<br />
eine Kleiderbörse und die<br />
Bücherkiste, Musik-, Kunst-, Gartenund<br />
Bewegungstherapie bis hin zur<br />
tiergestützten Therapie und Arbeitstherapie,<br />
in denen Bewohner<br />
Wäsche sortieren, handwerklich<br />
tätig sind, Gartenarbeit verrichten,<br />
Marmeladen selbst hergestellen<br />
und seit Kurzem auch im eigenen<br />
Hofladen verkaufen.<br />
Sie erwähnten die idealen Räumlichkeiten<br />
in Haus Radeland.<br />
Dettmann: Ganz richtig. Wir verfügen<br />
über gemütliche Gesellschaftsräume<br />
und Wohnküchen auf jeder<br />
Wohnetage, einen Festsaal für<br />
Alexander Dettmann, Geschäftsführer der<br />
<strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN DIAKONIE<br />
gemeinsame Feiern mit allen Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern, eine<br />
Vielzahl an Therapieräumen, darunter<br />
ein Kunstatelier, ein Musikraum,<br />
Werkstätten, eine Wellnessoase,<br />
ein Fitnessraum sowie ein hotelähnlich<br />
gestaltetes Foyer mit offenem<br />
Empfangsthresen. Unser Kleinod<br />
aber ist der Park, in dem nicht nur<br />
unsere beiden Alpakas einen großzügigen<br />
Auslauf haben, sondern<br />
auch Spazierwege und zahlreiche<br />
Ruhebänke dazu einladen, die<br />
Natur zu erleben.<br />
Über die definierte Nutzung hinaus<br />
haben all diese Räume eine weitere<br />
Funktion, welche?<br />
Dettmann: Sie sind auch Orte der<br />
Begegnung. Hier kommen unsere<br />
Bewohnerinnen und Bewohner wie<br />
selbstverständlich in Kontakt miteinander<br />
und erlernen wie beiläufig<br />
wieder soziales Verhalten.<br />
Wie würden Sie Ihr hauptsächliches<br />
Pflegeziel beschreiben?<br />
Dettmann: Wir wollen, dass die<br />
Menschen, die für kürzere oder längere<br />
Zeit bei uns wohnen, ihr Leben<br />
möglichst eigenständig bewältigen.<br />
Wir stärken sie durch unsere Pflege,<br />
Betreuung, Begleitung und Therapieangebote,<br />
sodass sie Schritt für<br />
Schritt an Selbstvertrauen gewinnen<br />
und dadurch auch befähigt werden,<br />
eigeninitiativ neue Freundschaften<br />
zu schließen.<br />
2 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Hintergrund<br />
Was <strong>heißt</strong> <strong>schon</strong> <strong>normal</strong>?<br />
Psychische Erkrankungen sind immer häufiger<br />
Aus einer Studie der Technischen<br />
Universität Dresden aus dem Jahr<br />
2005 geht hervor, dass wir in unserem<br />
Verständnis für psychische<br />
Störungen umlernen müssen. Der<br />
Leiter der Studie, Prof. Hans-Ulrich<br />
Wittchen, hob in seinem Kommentar<br />
hervor, dass psychische Erkrankungen<br />
nicht selten sind, sondern<br />
dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt<br />
im Laufe seines Lebens davon<br />
betroffen sein kann.<br />
„Psychische Störungen sind Erkrankungen<br />
unseres Gehirns und Nervensystems<br />
– dem komplexesten<br />
Organ des Menschen! Warum sollte<br />
ausgerechnet dieser Teil unseres<br />
Körpers weniger häufig erkranken<br />
als andere Organe unseres Körpers?<strong>“</strong><br />
Eine EU-Studie ermittelte, dass pro<br />
Jahr 27 Prozent (83 Millionen) der<br />
EU-Bürger eine Depression, bipolare<br />
Schizophrenie, Alkohol- oder<br />
Drogenabhängigkeit, Sozialphobie,<br />
Panikstörung, generalisierte Angst,<br />
Zwangsstörungen, somatoforme<br />
Störungen oder Demenz erleiden<br />
und daran dauerhaft erkranken.<br />
Aber nur etwa ein Viertel der Betroffenen<br />
wird auch angemessen<br />
behandelt.<br />
Ausmaß und Folgen sind höchst<br />
variabel: Einige erkranken nur<br />
episodisch kurzzeitig über Wochen<br />
und Monate, andere längerfristiger.<br />
Zirka 40 Prozent sind chronisch<br />
über Jahre oder gar von der Jugend<br />
bis an ihr Lebensende betroffen.<br />
Mit geringen Unterschieden zwischen<br />
den EU-Ländern erhalten nur<br />
26 Prozent aller Betroffenen mit<br />
psychischen Störungen überhaupt<br />
irgendeine und noch weniger eine<br />
adäquate Behandlung. Oft vergehen<br />
viele Jahre, manchmal Jahrzehnte,<br />
bevor eine erste Behandlung<br />
eingeleitet wird. Ausnahmen<br />
sind Psychosen, schwere Depressionen<br />
und komplexe komorbide<br />
(Mehrfacherkrankungen) Muster.<br />
Unbehandelt verlaufen viele psychische<br />
Störungen häufig chronisch<br />
mit zunehmenden Komplikationen.<br />
Die besorgniserregend niedrige<br />
Behandlungsrate von psychischen<br />
Störungen, die in keinem anderen<br />
Bereich der Medizin in diesem Ausmaß<br />
bisher beobachtet wurde, ist<br />
nicht allein mit der psychischen<br />
Störungen immer noch anhaftenden<br />
Stigmatisierung zu erklären.<br />
Ein Schlüsselkriterium der Diagnostik<br />
aller psychischen Störungen ist,<br />
dass sie mit Leiden des Betroffenen<br />
und gravierenden Belastungen und<br />
negativen Folgen im beruflichen,<br />
familiären und sozialen Rahmen<br />
einhergehen. Angesichts der Häufigkeit<br />
und Schwere psychischer<br />
Störungen erscheint es nicht überraschend,<br />
dass die Studie aufzeigt,<br />
dass von allen Arbeitsunfähigkeitstagen<br />
pro Jahr die Mehrzahl auf<br />
psychische Störungen und nicht<br />
etwa auf somatische Erkrankungen<br />
zurückgeführt werden kann.<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 3
Wohnen & Pflegen<br />
Heimat ist da, wo du angenommen wirst<br />
RADELAND<br />
Wir kümmern uns um Menschen<br />
mit chronisch psychischen, Suchtund<br />
gerontopsychischen Erkrankungen<br />
sowie um Menschen mit<br />
Demenz oder geistiger Behinderung<br />
in allen Altersgruppen.<br />
SO WOHNT MAN BEI UNS<br />
Haus Radeland<br />
Es gibt es 171 Pflegeplätze, die sich<br />
auf vier Wohnetagen des Haupthauses<br />
sowie ein siebengeschossiges<br />
Wohnhaus verteilen. Dieses<br />
verfügt über Einzelapartments mit<br />
eigener Küche, Bad und Balkon<br />
sowie zwei Wohngemeinschaften.<br />
Darüber hinaus gibt es mehrere<br />
Aufenthaltsräume, in denen sich die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner zu<br />
gemeinsamen Aktivitäten treffen.<br />
Das Wohnhaus stellt auf dem Weg<br />
zurück in die Normalität einen<br />
wichtigen Therapieschritt dar. Hier<br />
wird vor allem die Rückkehr in das<br />
selbstbestimmte Leben trainiert.<br />
Haus Havelstrand<br />
Die idyllisch gelegene Villa verfügt<br />
über 44 Pflegeplätze. Die Zimmer<br />
sind mit einem eigenen Duschbad/<br />
WC ausgestattet oder haben eine<br />
naheliegende Anbindung an ein<br />
Bad mit Toilette. Von den gemeinschaftlich<br />
genutzten<br />
Räumen blickt man<br />
direkt auf die Havel.<br />
Wir kümmern uns<br />
Spezialisierte<br />
Wohngruppen<br />
Gartenstadt, Wasserstadt,<br />
Siemensstadt,<br />
Haselhorst, Klosterfelde,<br />
... Unsere<br />
Bewohnerinnen und<br />
Bewohner leben in Radeland in<br />
kleinen, nach Spandauer Stadtteilen<br />
benannten Wohngruppen.<br />
Die Gruppen sind nach ihren Krankheitsbildern<br />
zusammengestellt:<br />
• Menschen mit psychischen<br />
Erkrankungen<br />
• Menschen mit dementiellen<br />
Erkrankungen<br />
• Menschen mit geistiger<br />
Behinderung<br />
SO LEBT MAN BEI UNS<br />
Das therapeutische Team von<br />
Haus Radeland besteht aus:<br />
• Ergotherapeut/innen<br />
• Krankengymnast/innen<br />
• Betreuungsassistent/innen<br />
• Gartentherapeut/innen<br />
• Musiktherapeut/innen<br />
• Kunsttherapeut/innen<br />
• Diplom-Sozialpädagoginnen<br />
Wir schaffen ein Zuhause, in dem<br />
unsere Bewohnerinnen und Bewohner<br />
uneingeschränkte Annahme finden.<br />
Wir bieten die Art von Pflege<br />
und Betreuung, die sie tatsächlich<br />
brauchen, um ihren Alltag trotz<br />
ihrer Erkrankung als sinnvoll und<br />
lebenswert zu erfahren. Dazu stärken<br />
wir vorhandene Kompetenzen<br />
und vermeiden Reizüberflutungen<br />
und Überforderungen.<br />
Die Betreuung<br />
orientiert sich am<br />
psychobiografischen<br />
Pflegemodell nach<br />
Böhm. Wir fragen<br />
nach der Biografie<br />
unserer Bewohner<br />
und betrachten<br />
deren Lebensgewohnheiten<br />
vor der<br />
Erkrankung. Ziel unserer<br />
Pflege und Betreuung ist das<br />
Wohlbefinden unserer Bewohner<br />
und Bewohnerinnen als Ausdruck<br />
von Lebensqualität.<br />
Wir begleiten und unterstützen sie<br />
zum Beispiel bei<br />
• Handlungen des täglichen Lebens<br />
wie Aufstehen, Waschen,<br />
Anziehen, Essen usw.,<br />
• der Haushaltsführung,<br />
• der Aufnahme sozialer Kontakte,<br />
RADELAND: Einzelzimmer im Haupthaus Eigenes Duschbad Einzelapartment im Wohnhaus<br />
4 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Wohnen & Pflegen<br />
• der Kommunikation mit Mitbewohnern<br />
und Betreuern,<br />
• der Freizeitgestaltung und<br />
• der Tagesstrukturierung.<br />
MEDIZINISCHE VERSORGUNG<br />
<strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN RADE-<br />
LAND und <strong>AGAPLESION</strong> BETHA-<br />
NIEN HAVELSTRAND nehmen am<br />
„Berliner Projekt<strong>“</strong> teil, das <strong>heißt</strong>,<br />
wir bieten eine medizinische Versorgung<br />
durch festangestellte Ärzte,<br />
die in Rufbereitschaft auch rund um<br />
die Uhr erreichar sind. Wöchentliche<br />
Visiten ermöglichen, Veränderungen<br />
rechtzeitig wahrzunehmen,<br />
einen langfristigen persönlichen<br />
Kontakt zu den Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern aufzubauen und<br />
mit den Pflegekräften zielorientiert<br />
zusammenzuarbeiten.<br />
UNSER PFLEGEZIEL<br />
Wir wollen, dass unsere Bewohnerinnen<br />
und Bewohner lernen, ihr<br />
Leben wieder eigenständig zu bewältigen.<br />
Deshalb konzentrieren<br />
wir uns darauf, vorhandene körperliche<br />
und geistige Fähigkeiten zu<br />
erhalten, zu fördern und wiederzuerwecken.<br />
Wir bereiten sie so<br />
auf die Wiedereingliederung in die<br />
Gesellschaft vor. Unsere Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter übernehmen<br />
dabei die Rolle des Begleiters in<br />
allen Lebensbereichen und bieten<br />
praktische Hilfe nach dem Normalitätsprinzip<br />
an.<br />
Ankommen<br />
„Ich bin angekommen.<strong>“</strong> Ist dies<br />
nicht für uns alle eine der persönlichsten,<br />
Halt gebenden, ja wichtigsten<br />
Erfahrungen? Irgendwo ankommen<br />
bedeutet auch „Ich bin<br />
angenommen worden<strong>“</strong>.<br />
Wenn Interessierte nach unseren<br />
Zielen für die Bewohner fragen, so<br />
ist eine der grundlegenden Antworten:<br />
die persönliche Annahme eines<br />
jeden, der zu uns findet, mit einer<br />
oft langen Leidensgeschichte – Erfahrungen<br />
von Ausgrenzung, Verlust<br />
von Halt gebenden Strukturen<br />
– und vor allem auch mit seinem<br />
Bedürfnis „anzukommen<strong>“</strong>.<br />
Einen guten Lebensort für sich zu<br />
finden, ob vorübergehend oder für<br />
länger, bedeutet erst einmal, wahrgenommen<br />
zu werden – ein Grund-<br />
bedürfnis, das jeder Mensch hat.<br />
Es bedeutet für die tägliche Arbeit,<br />
die natürlichen und gesunden<br />
Anteile des Erkrankten anzuerkennen,<br />
sie anzusprechen, manchmal<br />
kreativ zu übersetzen und diese<br />
durch den gemeinsamen Austausch<br />
und Wertschätzung zu stärken.<br />
Es bedeutet, durch die stützende<br />
Zusammenarbeit im Team nicht die<br />
Geduld zu verlieren, die gesunden<br />
Lebensmotive der Bewohnerinnen<br />
und Bewohner selektiv zu suchen<br />
und in der Beziehung (wieder)<br />
erfahrbar zu machen. So kann ein<br />
Ankommen im Haus Radeland<br />
dann vielleicht auch für die Bewohnerin<br />
oder den Bewohner ein<br />
Ankommen in einem lebenswerten<br />
neuen Zuhause bedeuten.<br />
Daria Kaluza, Psychologin<br />
Fernsehzimmer im Wohnhaus Wohnetagenküche HAVELSTRAND<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 5
Ergotherapie<br />
IM PORTRAIT:<br />
BRIGITTE SCHMIDT<br />
Leiterin der Ergotherapie<br />
BETHANIEN RADELAND<br />
• Realschulabschluss in Wolfsburg<br />
• Lehre als Arzthelferin<br />
• 1968 – 1969 Au-pair bei einer<br />
amerikanischen Familie in<br />
einem Vorort von Washington<br />
D. C. (18 Monate)<br />
• 1969 Umzug nach Berlin<br />
• Ausbildung zur Ergotherapeutin<br />
am Ev. Waldkrankenhaus<br />
• Schwangerschaftsvertretung,<br />
danach Leitungsposition für die<br />
Ergotherapie an der FU-Klinik<br />
in der Nussbaumallee<br />
• Eröffnung eines Patientenclubs<br />
für ehemalige Patienten<br />
• Gründung einer gestaltungstherapeutischen<br />
Gruppe<br />
• Geburt einer Tochter und ein<br />
Jahr Elternzeit<br />
• Aufbau der Ergotherapieabteilung<br />
und einer Gedächtnisgruppe<br />
in einem privaten<br />
Seniorenheim im Grunewald<br />
• seit 1993 Leitung Ergotherapie<br />
in Haus Radeland<br />
• berufsbegleitendes Weiterbildungsstudium<br />
„Psychosoziale<br />
Therapie und Beratung<strong>“</strong> an der<br />
Alice Salomon Fachhochschule<br />
• Ausbildung von Praktikanten<br />
• Dozentin an der Wannsee-Akademie<br />
(für Gesundheitsberufe)<br />
Erfüllung im Beruf<br />
Während meiner Au-pair-Zeit in<br />
den USA kam ich im Georgetown<br />
Hospital in Washington erstmals<br />
mit der „Occupational Therapy<strong>“</strong><br />
in Kontakt. Dieses Berufsfeld, in<br />
dem man mit kreativen und lebenspraktischen<br />
Techniken Menschen<br />
in schwierigen Situationen behandelt,<br />
überzeugte mich so, dass ich<br />
nach Berlin zog und – finanziert<br />
durch meine Ersparnisse aus den<br />
USA – am Ev. Waldkrankenhaus<br />
eine Ausbildung zur Ergotherapeutin<br />
begann. Zu dieser Zeit gab es in<br />
Deutschland nur sechs Schulen für<br />
„Beschäftigungs- und Arbeitstherapie<strong>“</strong>,<br />
drei davon in Berlin.<br />
Da ich später in der Pädiatrie arbeiten<br />
wollte, schrieb ich meine Diplomarbeit<br />
über das Thema „Kindliche<br />
Entwicklung<strong>“</strong> und verfasste<br />
drei Kinderbücher zu dem Thema.<br />
Nach dem Examen erhielt ich ein<br />
Stellenangebot von der Psychiatrischen<br />
Klinik der Freien Universität<br />
Berlin in der Nussbaumallee in<br />
Westend, zunächst als Schwangerschaftsvertretung,<br />
danach für einen<br />
Leitungsposten in der Ergotherapie.<br />
In dieser Zeit hielten die ersten<br />
Ansätze der Sozialpsychiatrie und<br />
Familientherapie als Behandlungsmethoden<br />
Einzug in die Klinik. Da<br />
in der Ergotherapieausbildung alle<br />
Fachgebiete nur angerissen worden<br />
waren, absolvierte ich viele Fortbildungen<br />
in Gesprächsführung,<br />
themenzentrierter Interaktion, Gestalttherapie<br />
usw. Gemeinsam mit<br />
Kollegen verfassten wir ein Buch<br />
über die Wirkung und Anforderungen<br />
bestimmter handwerklicher<br />
Materialien und Techniken – das<br />
erste in seiner Art und eine ziemliche<br />
Fleißarbeit!<br />
Unter dem Eindruck der Sozialpsychiatrie<br />
eröffnete ich mit einem<br />
Psychologen einen Patientenklub<br />
für entlassene Patienten und eine<br />
Gestaltungstherapeutische Gruppe.<br />
Nach der Geburt meiner Tochter<br />
und einer einjährigen Berufspause<br />
wechselte ich in ein privates Seniorenheim<br />
im Grunewald. Hier baute<br />
ich die Ergotherapieabteilung und<br />
das Kulturprogramm auf. Einige<br />
meiner Patienten nahmen an einem<br />
Forschungsprojekt des Max-Planck-<br />
Instituts für Bildungsforschung zum<br />
Thema „Lernen im Alter<strong>“</strong> teil. Das<br />
war so spannend, dass ich eine Gedächtnisgruppe<br />
aufbaute und einige<br />
Jahre durchführte.<br />
1993 übernahm ich die Leitung der<br />
Ergotherapie/Therapieabteilung<br />
in der Radelandstraße, erst unter<br />
dem ASB, heute in Trägerschaft<br />
der <strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN<br />
DIAKONIE. Daneben absolvierte<br />
ich berufsbegleitend ein Weiterbildungsstudium<br />
„Psychosoziale<br />
Therapie und Beratung<strong>“</strong> an der<br />
Alice Salomon Fachhochschule,<br />
bildete Praktikanten aus, gab Unterricht<br />
zur Gerontopsychiatrie an der<br />
Wannsee Schule e. V. und nahm<br />
mit der Akademie das Staatsexamen<br />
für Ergotherapeuten ab.<br />
Auch nach über 40 Berufsjahren ist<br />
die Arbeit mit unseren Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern spannend<br />
und jeden Tag eine neue Herausforderung,<br />
die eine dauernde Weiterentwicklung<br />
notwendig macht.<br />
Das wünsche ich mir auch für die<br />
Zukunft von Haus Radeland: dass<br />
die <strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN<br />
DIAKONIE nicht aufhört, sich für<br />
diese Einrichtung und die Belange<br />
der psychisch Erkrankten zu engagieren,<br />
weiter Visionen entwickelt<br />
und zum Wohl der uns anvertrauten<br />
Menschen umsetzt.<br />
Brigitte Schmidt<br />
6 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Anleiten & Begleiten<br />
Balkonkästen bepflanzen<br />
Ganz nah dran<br />
Seit 2012 arbeiten im Therapeutenteam<br />
von Haus Radeland zwei<br />
Diplom-Sozialpädagoginnen. Was<br />
unterscheidet diese von den Ergo-,<br />
Musik-, Garten-, Bewegungs- und<br />
Kunsttherapeuten? Warum sind<br />
die Pädagoginnen für die Arbeit in<br />
unserem Haus wichtig?<br />
Obwohl ihre Tätigkeiten eine große<br />
Schnittmenge aufweisen, sind ihre<br />
Aufgaben sehr verschieden. Therapeuten<br />
leiten Bewohnerinnen und<br />
Spendensammlung für Tsunami-Opfer<br />
Bewohner in Einzel-, Gruppen- und<br />
Arbeitstherapien an, während die<br />
Pädagoginnen sie im Alltag begleiten.<br />
Dies reicht von der Anleitung<br />
zur selbstständigen Körperpflege bis<br />
zur Erledigung von Behördengängen.<br />
Damit sind die Pädagoginnen<br />
den Bewohnerinnen und Bewohnern<br />
sehr nah und übernehmen<br />
dadurch auch eine Vermittlerrolle,<br />
nicht nur, wenn es darum geht,<br />
eigene Wünsche zu artikulieren.<br />
Die pädagogische Arbeit zielt auch<br />
auf die Teilhabe am Gesellschaftsleben.<br />
Dazu gehören Ausflüge, Reisen,<br />
Café- und Restaurantbesuche,<br />
Eigenes schaffen und gegenseitig loben<br />
Bei Hertha im Olympiastadion<br />
Hausfeste wie Faschingsfeiern,<br />
Sommerfeste usw., zu denen auch<br />
Angehörige und Besucher herzlich<br />
willkommen sind, sowie Basare zu<br />
Ostern, im Herbst und Advent und<br />
seit Neuestem auch Discoabende.<br />
Ein Beispiel für gemeinsame Projekte<br />
der Therapeuten und Pädagoginnen<br />
ist die Begrünung der<br />
Balkone und die Pflege der Pflanzen<br />
im Wohnhaus, bei der die<br />
Bewohner von den Pädagoginnen<br />
begleitet und von der Gartentherapeutin<br />
angeleitet werden.<br />
Brigitte Schmidt<br />
Das Kreativangebot im Haus Havelstrand<br />
ist vielseitig. So gestalten die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner nicht<br />
nur die Hausdekorationen passend<br />
zur jeweiligen Jahreszeit, sondern<br />
auch den Raumschmuck zur Ausgestaltung<br />
unserer Feste und erfreuen<br />
damit sich selbst und die Angehörigen,<br />
denen sie ihre Werke stolz präsentieren.<br />
Oftmals wird das Selbstgefertigte<br />
später mit in die eigenen<br />
Zimmer genommen und dort noch<br />
einmal den Mitbewohnerinnen und<br />
Mitbewohnern gezeigt. Das steigert<br />
erneut das Selbstwertgefühl.<br />
Das Malangebot erfreut sich ebenfalls<br />
großer Beliebtheit. Es fördert<br />
die Kreativität und bietet eine sinnvolle<br />
Tagesbeschäftigung. Wir arbeiten<br />
dabei biografiebezogen und<br />
ermöglichen unseren Bewohnern<br />
und Bewohnerinnen, sich ihrer persönlichen<br />
Geschichte entsprechend<br />
bildlich auszudrücken. Bei allen gestalterischen<br />
Arbeiten steht jedoch<br />
das Gruppengefühl im Vordergrund.<br />
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />
unterstützen sich untereinander<br />
in ihren kreativen Prozessen<br />
und sprechen sich auch gegenseitig<br />
Lob zu.<br />
Martina Glauke<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 7
Reiseberichte<br />
Cattlemans Ranch<br />
Wir erreichen Wiesendorf über eine<br />
Waldstraße. Bernd Stamm erwartet<br />
uns <strong>schon</strong>. Der Pferdewirt und gebürtige<br />
Frankfurter zeigt uns einen<br />
Teil seiner 50 Hektar großen Ranch,<br />
auf der er Angus-Rinder und Pferde<br />
züchtet. Bei der Besichtigung der<br />
Ställe trauen sich einige Ausflügler<br />
gleich in die Nähe der Pferde,<br />
andere halten sich erst einmal im<br />
Hintergrund. Das ändert sich nach<br />
dem zünftigen Mittagessen und<br />
einer kurzen Erholungspause.<br />
Bernd Stamm bittet zwei Ausflügler,<br />
ihm zu helfen, die Tränke zu befüllen<br />
und ein Pferd zu putzen. Die<br />
beiden Männer gehen vorsichtig auf<br />
das Tier zu und striegeln es schließlich<br />
unter Anleitung.<br />
Eine Mitfahrerin, die den Vorgang<br />
beobachtet, erzählt, dass sie „Tiere<br />
immer mochte, aber an Pferde nicht<br />
rangeht<strong>“</strong>. Daraufhin fordert der<br />
Rancher sie auf, mit ihm gemeinsam<br />
Hafer zu holen. Zögernd gibt<br />
sie dem Pferd das Futter. Dann<br />
berührt sie zaghaft den Hals und<br />
die Mähne, legt die Hand auf und<br />
setzte sie wieder ab.<br />
Nachdem das Pferd geputzt ist, soll<br />
es in den Stall zurückgeführt werden.<br />
Mit dieser Aufgabe wird ein<br />
weiterer Mitfahrer betraut, der bis<br />
dahin die Sonne genossen und dem<br />
Treiben aus der Ferne zugeschaut<br />
hat. Er nähert sich dem Pferd recht<br />
lustlos, doch als er die Zügel in der<br />
Hand hält, wirkt er sehr zufrieden<br />
und wendet sich dem Tier zu.<br />
Die Rückfahrt erfolgt wieder über<br />
die herrliche Waldstrecke mit einem<br />
Abstecher zum Gräbendorfer See.<br />
Stefan Berg<br />
„Wenn ich die See seh, ...<strong>“</strong> – Ausflug nach Warnemünde<br />
Wir fahren mit einer kleinen Bewohnergruppe<br />
für ein paar Stunden<br />
an die Ostsee nach Warnemünde.<br />
Schon die Fahrt dorthin tut gut:<br />
hinaus in die Welt durchs schöne<br />
Land Brandenburg und hügelige<br />
Mecklenburg-Vorpommern, vorbei<br />
an großen Spargelfeldern, weiten<br />
Wäldern, riesigen Windparks und<br />
dem Müritz-Nationalpark. Wir<br />
sehen Bauern, die ihre Felder bestellen,<br />
überholen viele Laster und<br />
sehen Kraniche fliegen. Spätestens<br />
jetzt kommt ein bisschen Urlaubsstimmung<br />
auf. Gleich hinter Berlin<br />
reißt die Wolkendecke auf und<br />
die Sonne strahlt vom knallblauen<br />
Himmel. Wenn Engel reisen!<br />
Herr Bauer* hat einige CDs mit<br />
toller Musik für die Fahrt dabei.<br />
Herr Schornstein steuert behutsam<br />
den Bus, dass man sich fühlt wie in<br />
„Abrahams Schoß<strong>“</strong>. Den ersten Halt<br />
– Raucher- und Kekspause muss<br />
<strong>schon</strong> sein – machen wir an der<br />
Raststätte Walsleben-Ost, den zweiten<br />
kurz vor Rostock. In Warnemünde<br />
parken wir unser Auto direkt<br />
hinter dem berühmten Hotel Neptun,<br />
durchqueren einen kleinen<br />
Park mit einem Gedenkfriedhof<br />
für Kapitäne zur See und <strong>schon</strong><br />
empfangen uns die Düfte von Tang<br />
und Salzwasser und die weitläufige<br />
Strandpromenade.<br />
Einige suchen nach Steinen und<br />
Muscheln, andere legen sich auf<br />
die mitgebrachten Decken, sonnen<br />
sich, lauschen dem Rauschen des<br />
Meeres und beobachten die einund<br />
auslaufenden Schiffe: riesige<br />
Fähren von und nach Skandinavien<br />
und große Containerschiffe. Wir<br />
lassen unsere Gedanken treiben<br />
wie die Möwen, die von den Wellen<br />
getragen werden, trällern alle<br />
„Ein Schiff wird kommen...<strong>“</strong> vor uns<br />
hin und genießen die Zeit. Es ist<br />
Spaziergang am Ostseestrand<br />
April. Einige wenige Mutige baden<br />
<strong>schon</strong> in der eiskalten, klaren Ostsee.<br />
Wir beschließen diesen schönen<br />
Tag bei Kaffee und Kuchen auf der<br />
Sommerterrasse des „Neptun’s<strong>“</strong>.<br />
Gegen 15 Uhr geht es dann wieder<br />
zurück nach Berlin.<br />
Angela Hellmann<br />
8 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Beauty & Wellness<br />
„Spieglein, Spieglein an der Wand<strong>“</strong><br />
Wellnessoase<br />
Als wir die Kosmetikgruppe in Radeland<br />
einführten, fand sie einmal in<br />
der Woche für zweieinhalb Stunden<br />
statt. Im Laufe der Zeit wurde sie<br />
immer stärker angenommen, sodass<br />
ein Beautytag für Frauen und Männer<br />
entstand.<br />
Wir stellen ein vielfältiges Angebot<br />
an Kosmetikprodukten bereit, das<br />
zum Ausprobieren verführt. Damit<br />
werden die Eigeninitiative und Entscheidungsfähigkeit<br />
verbessert. Aber<br />
Peelings, Cremes, Parfums und<br />
andere Kosmetika stimulieren auch<br />
die Sinne und steigern das Bewusstsein<br />
für die persönliche Hygiene.<br />
Darüber hinaus hilft die Kosmetikgruppe<br />
zu erkennen, wann man<br />
Körperkontakt zulässt und wann<br />
Distanz benötigt wird: Darf mir die<br />
Therapeutin die Nägel lackieren?<br />
Schminke ich mich selbst oder lasse<br />
ich mich schminken?<br />
Von der Gruppe profitieren insbesondere<br />
auch Bewohnerinnen und<br />
Bewohner mit schweren körperlichen<br />
Behinderungen, da hier das<br />
sinnliche Erleben und die Kommunikation<br />
im Vordergrund stehen und<br />
viele Einschränkungen nebensächlich<br />
werden. Die gemütliche Atmosphäre<br />
erleichtert es, selbstbestimmt<br />
Kontakte zu anderen zu knüpfen,<br />
sich gegenseitig zu beraten und Hilfestellung<br />
zu leisten. Das wiederum<br />
stärkt die eigene Wahrnehmung,<br />
wirkt Verwahrlosungstendenzen<br />
entgegen, fördert die Entspannung,<br />
steigert das Selbstwertgefühl und<br />
beeinflusst das Sozialverhalten<br />
positiv. Von diesen Runden profitieren<br />
aber auch die Therapeutinnen,<br />
da über das Kosmetikthema oft<br />
andere wichtige Themenbereiche<br />
von allein angesprochen werden,<br />
wodurch ein vertrauensvolles therapeutisches<br />
Verhältnis entstehen<br />
kann.<br />
Rebecca Schwerdtfeger,<br />
Angela Hellmann<br />
Unsere Bewohner haben wie alle<br />
anderen Menschen ein Bedürfnis<br />
nach Entspannung und Wohlgefühl.<br />
Für den „Urlaub vom Alltag<strong>“</strong> haben<br />
wir in BETHANIEN RADELAND eine<br />
Wellnessoase mit Pool eingerichtet.<br />
Der Wellnessbereich kann von Personen<br />
genutzt werden, die körperlich<br />
gesund sind, aber wegen ihrer<br />
geistigen oder seelischen Behinderung<br />
und ihres Sozialverhaltens in<br />
öffentlichen Bädern wenig toleriert<br />
werden. Außerdem dient der Bereich<br />
im Rahmen der Einzeltherapie<br />
der Entspannung<br />
mit deeskalierender<br />
Wirkung.<br />
Schön aussehen und gut riechen: kein Problem bei dieser Auswahl an Kosmetika!<br />
Ziel ist es, dass<br />
unsere Bewohnerinnen<br />
und<br />
Bewohner<br />
später wieder problemlos ein öffentliches<br />
Schwimmbad besuchen<br />
können und damit in ihrer Alltags<strong>normal</strong>ität<br />
gestärkt werden.<br />
Katrin Hartenstein<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 9
Kunsttherapie<br />
Bilder der Gefühls- und Seelenwelt<br />
Gruppentherapie einen hilfreichen<br />
Rahmen, um wieder mit anderen<br />
Menschen Kontakt aufzunehmen.<br />
Bewohner, die die Zweierbeziehung<br />
brauchen, um sich zu öffnen, betreut<br />
der Kunsttherapeut in Einzeltherapie.<br />
Gerade schwer psychisch<br />
erkrankte Menschen, die die Dynamik<br />
einer Gruppe belastet, benötigen<br />
einen schützenden Rahmen,<br />
um sich bildnerisch auszudrücken<br />
und nonverbal kommunizieren zu<br />
können.<br />
Kunstatelier in BETHANIEN RADELAND<br />
Kunsttherapie findet bei Menschen<br />
mit unterschiedlichen Erkrankungen<br />
und krisenhaften Entwicklungen in<br />
allen Lebensphasen und psychosozialen<br />
Zusammenhängen sinnvollen<br />
Einsatz. Kunsttherapie fördert<br />
die Fähigkeit des Menschen, seine<br />
Umwelt unmittelbar über die Sinne<br />
wahrzunehmen und zu begreifen.<br />
Im gestalterischen Prozess können<br />
Beeinträchtigungen der Krankheitsverarbeitung,<br />
der Selbst- und Fremdwahrnehmung,<br />
der Lebensfreude,<br />
der Zusammenarbeit zwischen Klienten<br />
und Therapeuten überdacht<br />
und positiv verändert werden.<br />
Der Klient kann im therapeutischen<br />
Gespräch mögliche Bedingungen<br />
für die Entstehung von Störungen/<br />
Erkrankungen erkennen und Bewältigungsstrategien<br />
entwickeln.<br />
Verloren geglaubte Fähigkeiten und<br />
Selbstheilungskräfte werden auf<br />
diese Weise neu entwickelt und<br />
gestärkt. Das Sprechen über das gestaltete<br />
Werk kann dem Bewohner<br />
helfen, neue Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten<br />
zu entdecken.<br />
Das Kunstwerk wird zum Spiegel<br />
der persönlichen Geschichte, des<br />
momentanen Empfindens und der<br />
aktuellen Handlungsweise.<br />
Die Kunsttherapie in Haus Radeland<br />
findet täglich einzeln oder<br />
in der Gruppe statt. Auf der Basis<br />
einer vertrauensvollen Beziehung<br />
werden innere Prozesse durch Materialien<br />
und Medien der Bildenden<br />
Kunst sichtbar gemacht, Farb- und<br />
Formqualitäten mit eigenem Erleben<br />
und persönlichen Lebensmotiven<br />
verbunden. Dabei werden Materialien<br />
wie flüssige (z. B. Aquarell,<br />
Tempera) oder feste Farben (zum<br />
Beispiel Pastellkreiden, Ölkreiden,<br />
Farbstifte), Ton, Holz oder Stein<br />
(z. B. Speckstein) verwendet.<br />
Kreatives Gestalten in der Gruppe<br />
ermöglicht und fördert gegenseitige<br />
künstlerische Anregung und Hilfestellung,<br />
soziales Lernen und damit<br />
eine Erweiterung der sozialen Kompetenz.<br />
Da chronische Erkrankungen<br />
oft mit einem sozialen Rückzug<br />
verbunden sind, bietet die<br />
Die Bilder aus der Kunsttherapie<br />
findet man an den Wänden des<br />
ganzen Hauses. Sie bieten einen<br />
minimalen Einblick in die Gefühlsund<br />
Seelenwelt der Bewohner. Der<br />
alte Spruch „Wo man singt, da lass<br />
dich ruhig nieder, böse Menschen<br />
haben keine Lieder<strong>“</strong> gilt auch für<br />
die Maltherapie: Wo man Freude<br />
am Bild hat, lässt es sich gut leben!<br />
Sandra Müller, Valery Diel<br />
„Sonst verlerne ich alles<strong>“</strong><br />
Udo Simon*: Seit ungefähr einem<br />
Jahr nehme ich an der Kunsttherapie<br />
teil, einmal wöchentlich eine<br />
gute Stunde. In diesen Stunden<br />
widme ich mich der Schönschreibkunst<br />
(Kalligraphie) und schreibe<br />
Sprüche und Gedichte in verschiedenen<br />
Schriften ab.<br />
Kalligraphie eines Bewohners<br />
10 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Kunsttherapie<br />
In meinem Studium an der Hochschule<br />
für Grafik und Buchkunst<br />
in Leipzig habe ich mich intensiv<br />
mit Schrift befasst. Mein Studium<br />
dauerte fünf Jahre, danach war ich<br />
noch drei Jahre Meisterschüler.<br />
Meine Ausbildung endete 1981 mit<br />
dem Diplom als Grafiker. Heute<br />
werden allerdings die Schriften am<br />
PC ausgeführt.<br />
Durch eine persönliche schwere<br />
Krise wurde ich krank und muss<br />
seitdem Tabletten nehmen. Meine<br />
Motorik ist durch die Krankheit<br />
nicht mehr so locker. Mein Schreibfluss<br />
war früher auch viel flüssiger.<br />
Diese Übungen in der Kunsttherapie<br />
sind für mich sehr wichtig, weil<br />
ich sonst gar nicht mehr schreibe<br />
und befürchte, alles zu verlernen,<br />
denn die Fertigkeiten müssen frisch<br />
gehalten werden. In den Übungsstunden<br />
bekomme ich die nötige<br />
Motivation und das Material wird<br />
mir gestellt. Manchmal schreibe<br />
ich auch Schilder, die hier im Haus<br />
gebraucht werden.<br />
„Ich male, was mir in<br />
den Kopf kommt<strong>“</strong><br />
Anni Meyer*: Jede Woche warte ich<br />
darauf, dass Mittwoch wird, weil ich<br />
da zur Kunsttherapie gehe. Bislang<br />
hatte ich nur in der Schule gemalt<br />
und dachte immer, ich könnte nicht<br />
malen und ich hatte auch überhaupt<br />
kein Interesse daran, bis der Kunsttherapeut<br />
mir Wachsbuntstifte in die<br />
Hand gab, ich sie gegriffen hab und<br />
es ging plötzlich! Vögel, Blumen<br />
oder was immer mir in den Kopf<br />
kommt, muss ich dann auch gleich<br />
malen. Nicht mit Wasser und Farbe,<br />
das ist mir fremd. Jetzt knie ich<br />
mich richtig rein und es gefällt mir<br />
sehr, was ich male, und ich bin<br />
auch richtig stolz darauf. Einige<br />
meiner Bilder sind gerahmt worden<br />
und aufgehängt. Ich gehe sie mir<br />
anschauen und freue mich darüber,<br />
was ich schaffen kann!<br />
Orientierung durch farbenfrohe Spraykunst<br />
In Radeland erleichtert ein Farbenleitsystem,<br />
sich im Haus zurechtzufinden.<br />
Volker Kempf <strong>heißt</strong> der<br />
Künstler, der den Gestaltungsauftrag<br />
umgesetzt hat. Mit Spraydosen<br />
brachte er seine Kunstwerke auf<br />
dünne Holztafeln auf und schuf damit<br />
sehr farbenfrohe, heitere Bilder.<br />
Zeichnung einer Bewohnerin, entstanden in der Kunsttherapie<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
konnten diese Technik in einem<br />
Workshop selbst erproben. Herr<br />
Kempf brachte Schablonen mit, die<br />
bei den ersten Versuchen mit der<br />
Spraytechnik geholfen haben. Nach<br />
wenigen Stunden zeigte sich, dass<br />
auch unter den Bewohnern etliche<br />
Künstler sind, die ihre Bilder anschließend<br />
stolz präsentierten.<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 11
Musiktherapie<br />
„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder...<strong>“</strong><br />
Die Musiktherapie stellt einen eigenständigen<br />
Teil des therapeutischen<br />
Angebots dar. Der<br />
gezielte Einsatz<br />
von Musik kann<br />
bei psychischen<br />
Erkrankungen<br />
zu seelischer<br />
und körperlicher<br />
Stabilität führen.<br />
Dies ist sowohl<br />
über das Musikhören als auch über<br />
das eigene Musizieren möglich.<br />
Da Musik starke emotionale Reaktionen<br />
hervorrufen kann, war sie<br />
<strong>schon</strong> früh mit Heilung und Wohlbefinden<br />
verbunden. In der Antike<br />
wurden Menschen gezielt mit Musik<br />
in Trance versetzt, um die Götter<br />
zu beschwören und Dämonen zu<br />
vertreiben. Man ging davon aus,<br />
dass durch Musik die geistige und<br />
seelische innere Harmonie wiederhergestellt<br />
werden kann.<br />
„Ein wichtiges Gruppenverfahren<br />
in der modernen Musiktherapie ist<br />
jedoch auch die Improvisation<strong>“</strong>,<br />
erklärt Musiktherapeutin Gisela<br />
Reiber. „Der Bewohner ist nicht immer<br />
zum fröhlichen Lied gestimmt<br />
oder bereit, zur verabredeten Zeit<br />
seinen Gefühlen freien Lauf zu<br />
lassen, zum Beispiel in der Trommelgruppe.<strong>“</strong><br />
Frau Reiber erkennt<br />
die Stimmung und geht darauf ein.<br />
Manchmal wird dann nur geredet<br />
oder ein Lied von der CD gehört.<br />
„Ein Freund ist jemand, der das Leid<br />
deines Herzens kennt und es dir<br />
vorsingt, wenn du es vergessen hast.<br />
Ein Musiktherapeut ist jemand, der<br />
Sie unterstützt, Ihr Lied selbst wiederzufinden.<strong>“</strong><br />
Gisela Reiber, 2010<br />
Für die therapeutische Arbeit ist der<br />
Zugang zum Bewohner sehr wichtig.<br />
Dies gilt auch für die Musiktherapie.<br />
In Haus Radeland gehen die<br />
beiden Musiktherapeuten Gisela<br />
Reiber und Stefan Herold deshalb<br />
mit den Bewohnern erst einmal ins<br />
Gespräch. „Zuerst muss eine Beziehung<br />
aufgebaut werden, bevor<br />
man ein therapeutisches Bündnis<br />
eingeht<strong>“</strong>, sagt Reiber, die den Bewohnerinnen<br />
und Bewohnern dafür<br />
entsprechende Zeit gibt. Jeder dürfe<br />
in seinem Tempo ankommen.<br />
Oft sind Lieblingslieder<br />
der<br />
Schlüssel zum<br />
Aufbau einer<br />
Beziehung. „Die<br />
Rhythmen der<br />
biografischen<br />
Musik haben sich in den Jahren verändert<strong>“</strong>,<br />
so Frau Reiber. „Vor einigen<br />
Jahren wurden noch Lieder der<br />
20er und 30er Jahre gewünscht.<strong>“</strong><br />
Heute muss sie auch Lieder im<br />
Internet suchen. Die Bewohner und<br />
Krankheitsbilder haben sich ebenfalls<br />
verändert. Viele sind bei der<br />
Aufnahme jünger und verschlossener.<br />
Zudem fehle die Bereitschaft,<br />
im Bewohnerchor mitzusingen. Deshalb<br />
haben Stefan Herold und Gisela<br />
Reiber ihre Angebote verändert.<br />
Musiktherapeut Stefan Herold baut mit<br />
Bewohnern eigene Instrumente.<br />
Unter anderem werden nun auch<br />
eigene Lieder mit entsprechender<br />
Software zusammengestellt, sodass<br />
die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
bei Feiern des Hauses <strong>schon</strong> ihren<br />
eigenen Rap präsentiert haben.<br />
Frau Reiber leitet zudem seit einigen<br />
Jahren montags eine 75-minütige<br />
offene Musikstunde. In diese Runde<br />
kann jeder kommen und darf einfach<br />
wieder gehen, wie er Lust hat.<br />
Man kann sich Lieder wünschen<br />
und Orffsche Musikinstrumente wie<br />
Glockenspiele, Klangstäbe aus Holz<br />
und Metall, Pauken, Trommeln, Geräuschemacher,<br />
Lärm- und Effektinstrumente<br />
ausprobieren. „Dann<br />
ist Stimmung im Haus – die Musik<br />
schallt durch alle Stockwerke.<strong>“</strong><br />
Herr Herold baut mit einer kleinen<br />
Männergruppe selbst Trommeln<br />
und andere Instrumente. „Die sind<br />
natürlich besonders wertvoll für<br />
unsere Bewohner<strong>“</strong>, erklärt er und<br />
es mache riesigen Spaß, die Instrumente<br />
dann zu spielen.<br />
Dass beide Therapeuten auch die<br />
Bewohnerfeiern mit ihrer Instrumentenkunst<br />
bereichern, versteht<br />
sich von selbst. Man kann über die<br />
Vielfalt nur staunen. Da erklingen<br />
Klavier, Akkordeon, Flöte, Djembe,<br />
Saxophon, Monochord und lassen<br />
in die Welt der Musik eintauchen.<br />
Sandra Müller<br />
12 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Beschäftigungstherapie<br />
Wir stellen vor: „Sprachrohr<strong>“</strong> IRRE erfolgreich<br />
Die Zeitungsgruppe von Haus Radeland<br />
Eines ist klar: Ohne Nervennahrung<br />
wie Kekse, Schokolade, Selters usw.<br />
geht bei uns gar nix! Manchmal<br />
diskutieren wir Themen so intensiv,<br />
dass wir vergessen mitzuschreiben,<br />
und manchmal sind die Dinge von<br />
so persönlicher Natur, dass wir sie<br />
nicht aufschreiben wollen!<br />
Toll ist es, hier eine Gruppe zu haben,<br />
in der wir frei und offen reden<br />
können und jeder den Mitstreitern<br />
vertraut.<br />
Redaktionssitzung mit Ergotherapeutin Angela Hellmann<br />
Im Sommer 2007 entstand die Idee,<br />
mit Bewohnerinnen und Bewohnern<br />
ein Instrument für den internen<br />
Informationsfluss zu entwickeln.<br />
Nach vielen Gesprächen auch mit<br />
der Heimleitung und Kollegen wurde<br />
schließlich eine Zeitungsgruppe<br />
ins Leben gerufen. Zwölf Bewohnerinnen<br />
und Bewohner wollten<br />
etwas Neues ausprobieren. Das<br />
Neue wurde „Sprachrohr<strong>“</strong> genannt<br />
und ist eine hausinterne Zeitung,<br />
geschrieben von Bewohnern für<br />
Bewohner.<br />
Wir greifen Themen auf, die von<br />
allgemeinem Interesse im Haus<br />
Radeland sind, informieren über<br />
geplante Veränderungen, erzählen<br />
kleine Geschichten, schreiben<br />
Gedichte, thematisieren Sorgen und<br />
Nöte, stellen Fragen, stoßen Diskussionen<br />
an, berichten über Ärgerliches,<br />
Ernstes und Lustiges – kurz<br />
gesagt: Wir schreiben über Dinge,<br />
die uns bewegen. Wir denken uns<br />
außerdem für jede Ausgabe ein<br />
Schwerpunktthema aus (wie zum<br />
Beispiel das Thema Depression)<br />
und sind mit viel Spaß dabei.<br />
Das „Sprachrohr<strong>“</strong> erscheint dreimal<br />
jährlich und ist zwischen 10 bis 20<br />
Doppelseiten stark. Die Zeitung<br />
wird in unserem Haus kopiert und<br />
geheftet. Sie wird nicht verkauft,<br />
sondern ausschließlich hausintern<br />
verbreitet.<br />
Was haben wir nicht alles erlebt in<br />
den vergangenen sechs Jahren: den<br />
Trägerwechsel, inhaltliche Neuerungen,<br />
viele bauliche Veränderungen,<br />
die Umbenennung der Wohnetagen,<br />
die Zusammensetzung der<br />
Bewohner und zahlreiche personelle<br />
Veränderungen, die Umstellung<br />
von papier- auf PC-gestützte<br />
Dokumentation und und und. All<br />
das hat die Zeitungsgruppe mit<br />
begleitet und kommentiert.<br />
Unsere Gruppe hat sich ebenfalls<br />
verändert: Wir sind kleiner geworden,<br />
haben zwischendurch leichte<br />
Ermüdungserscheinungen gezeigt,<br />
sodass wir überlegten, ob wir das<br />
Projekt nicht einstellen sollen und<br />
ob wir eigentlich noch ausreichend<br />
Leser und ausreichend Redakteure<br />
haben.<br />
Wir haben uns entschieden weiterzumachen.<br />
Wir sind keine Hochleistungstruppe,<br />
arbeiten nicht im<br />
Akkord und setzen uns nicht unter<br />
Druck, aber wir haben immer noch<br />
viele Dinge auf dem Herzen, die<br />
wir weitergeben wollen. So treffen<br />
wir uns jeden Freitag für eine<br />
Stunde zur Redaktionssitzung und<br />
schreiben alles mit großem Elan,<br />
rauchenden Köpfen und viel Spaß<br />
auf. Wir sind sehr stolz darauf,<br />
<strong>schon</strong> sechs Jahre (!!!) zu bestehen.<br />
Die Sprachrohr-Redaktionsgruppe,<br />
unterstützt von Angela Hellmann<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 13
Tiergestützte Therapie<br />
Ängste überwinden. Verantwortung übernehmen.<br />
Das Alpaka ist eine aus den südamerikanischen<br />
Anden stammende,<br />
domestizierte Kamelart, die vor<br />
allem wegen ihrer Wolle gezüchtet<br />
wurde. Aufgrund ihres Haus- und<br />
Begleittiercharakters werden die<br />
ruhigen und friedlichen Alpakas<br />
in Deutschland gerne in der tiergestützten<br />
Therapie eingesetzt, seit<br />
2010 auch in Haus Radeland. EIN-<br />
BLICK sprach darüber mit Ergothe-<br />
Streicheln, füttern, sauber halten<br />
rapeutin Linda Temizkan, die auch<br />
ausgebildete Tiertherapeutin ist.<br />
Warum arbeiten Sie mit Alpakas?<br />
Alpakas wirken auf Menschen entspannend<br />
und ausgleichend. Sie<br />
unterscheiden nicht zwischen behinderten<br />
und gesunden Menschen<br />
und passen sich dem Menschen,<br />
der Situation und der Stimmung<br />
an. Alpakas haben einen vergleichbaren<br />
therapeutischen Wert wie<br />
Delfine und können mehrere Stunden<br />
am Tag ohne Stress mit Menschen<br />
arbeiten. Dazu müssen sie<br />
aber trainiert sein und eine Bezugsperson<br />
an ihrer Seite haben, die<br />
ihnen Sicherheit gibt und sich<br />
regelmäßig um sie kümmert.<br />
Was gehört zu diesem Training?<br />
Die Tiere werden schrittweise an<br />
ein Halfter und an das Striegeln gewöhnt.<br />
Auch den Parcours müssen<br />
sie erst kennenlernen, bevor die Bewohner<br />
mit ihnen unter Anleitung<br />
arbeiten können. Da Alpakas Herdentiere<br />
sind, kann man nur mit<br />
beiden gleichzeitig arbeiten.<br />
Wo sind die Tiere untergebracht?<br />
Sie leben in unserem Park, wo sie<br />
auch einen Unterstand haben, in<br />
den sie sich selbstständig zurückziehen<br />
können.<br />
Wie bereiten Sie Bewohner auf den<br />
Kontakt mit den Alpakas vor?<br />
Erst einmal informieren wir über<br />
die Tiere. Zum Beispiel „schreit<strong>“</strong><br />
das Alpaka, wenn Gefahr durch einen<br />
Fuchs oder einen Hund droht,<br />
und alle anderen Tiere stimmen<br />
mit ein. Wir erklären auch, wie<br />
man sich den Tieren nähert und sie<br />
streicheln kann, ohne sie zu irritieren,<br />
und worauf man beim Putzen<br />
achten muss.<br />
Wie verläuft die Alpaka-Therapie?<br />
Basis sind ein Vertrauen zwischen<br />
Bewohner und Therapeut und ein<br />
individueller Therapieplan, der mit<br />
dem Bewohner besprochen wird.<br />
Dann werden Mensch und Tier einander<br />
vorgestellt. Danach sind die<br />
Therapieabläufe so unterschiedlich<br />
wie die Diagnosen der einzelnen<br />
Bewohner. Möglich ist das Tier zu<br />
füttern, zu tränken, zu putzen, zu<br />
pflegen oder den Stall auszumisten<br />
und in Ordnung zu halten.<br />
Die Therapie mit Kleintieren fördert<br />
neben den verschiedenen Sinnen<br />
auch das Sozialverhalten. Im Vordergrund<br />
steht das Verantwortungsgefühl<br />
für ein anderes Lebewesen,<br />
das jeden Tag zu versorgen ist und<br />
um das man sich kümmern muss.<br />
Im Haus Havelstrand sollen künftig<br />
Kuschelhühner in der Kleintiertherapie<br />
eingesetzt werden. Das große<br />
Gartengrundstück und die dörfliche<br />
Atmosphäre in Konradshöhe bieten<br />
sich dafür wie von selbst an. Der<br />
Hühnerstall ist bereits gebaut. Die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner<br />
werden die Tiere demnächst also<br />
unter Anleitung füttern und das<br />
Gehege sauber halten. Dabei lernen<br />
sie auch, sich gegenseitig zu helfen.<br />
Das Sammeln der Eier dürfte dann<br />
zu der Frage anregen, was man mit<br />
ihnen machen soll. Antwort: zum<br />
Beispiel einen Kuchen backen.<br />
Martina Glauke<br />
© Gerhard Seybert – Fotolia.com<br />
Wie lange dauert diese Therapie?<br />
Pauschal kann man das nicht<br />
beziffern. Da jeder Mensch individuell<br />
ist, kann die Therapie von<br />
einem einmaligen Besuch bis zu<br />
einer Langzeittherapie reichen. Die<br />
Dauer wird anhand des Befundes<br />
mit dem Arzt oder den Therapeuten<br />
abgesprochen.<br />
Was bewirkt die Therapie?<br />
Der Umgang mit Alpakas fördert<br />
die Kontaktaufnahme, hilft Ängste<br />
zu überwinden, baut das Selbstwertgefühl<br />
auf und hilft Verantwortung<br />
aufzubauen.<br />
Das Gespräch führte Sandra Müller.<br />
14 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Physiotherapie<br />
Heilen und vorbeugen<br />
Fragt man Cornelia Kromski, was<br />
ihre tägliche Arbeit ausmacht, lächelt<br />
sie gewinnend. Seit 26 Jahren<br />
organisiert die 60-jährige staatlich<br />
geprüfte Physiotherapeutin im Haus<br />
Radeland die Krankengymnastik<br />
und führt auch selbst Behandlungen<br />
durch.<br />
Frau Kromski begann ihre berufliche<br />
Laufbahn im Lynar Krankenhaus<br />
(heute: Vivantes Klinikum) in<br />
Spandau auf der Wachstation der<br />
Chirurgie, war danach fast zehn<br />
Jahre am Unfallambulatorium in<br />
Kreuzberg tätig, bevor sie 1987 in<br />
das ASB-Krankenheim für chronisch<br />
psychisch Kranke in der Radelandstraße<br />
(seit 2009: <strong>AGAPLESION</strong> BE-<br />
THANIEN RADELAND) wechselte,<br />
deren Krankengymnastikabteilung<br />
sie von 1995 bis 2000 leitete. 2001<br />
machte sich Frau Kromski selbstständig,<br />
behandelt aber weiterhin<br />
Bewohnerinnen und Bewohner im<br />
Haus Radeland.<br />
Regelmäßig besuchte Cornelia<br />
Kromski Fortbildungen, zum Beispiel<br />
zum Umgang mit Depressionen<br />
und Burnout, und qualifizierte<br />
sich in speziellen Knie- und Wirbelsäulentherapien,<br />
gerätegestützten<br />
Therapien und Fixation weiter.<br />
Ruhig, einfühlsam und humorvoll<br />
führt sie ihre Behandlungen durch.<br />
Mit Atmungs- und Entspannungstherapien<br />
in Anlehnung an die<br />
Kinesiologie erzielt die Physiothera-<br />
peutin auch bei den verschlossensten<br />
Bewohnern einen dauerhaften<br />
Behandlungserfolg. Ebenso gelang<br />
es ihr, dass Bewohner mit starker<br />
Gangunsicherheit nach neurologischen<br />
Ausfällen, wie etwa einem<br />
Schlaganfall, wieder selbstständig<br />
gehen.<br />
Ihre Art, in kleinen, wenig belastenden<br />
Behandlungsschritten nach und<br />
nach Fortschritte zu erzielen, sind<br />
ein wesentlicher Grund, warum Frau<br />
Kromski einen guten persönlichen<br />
Zugang zu den Bewohnerinnen und<br />
Bewohnern hat. Durch ihre sensible<br />
Kontaktaufnahme und zielgerichtete<br />
Entspannungstechniken konnte die<br />
Physiotherapeutin bereits schwere<br />
Kontraktionen und Auffälligkeiten<br />
wie Schreiattacken und aggressives<br />
Verhalten dauerhaft reduzieren.<br />
Jeder Bewohner kann nach Absprache<br />
mit dem Therapeutenteam, den<br />
Pflegefachkräften und der Ärztin<br />
eine krankengymnastische Behandlung<br />
in Anspruch nehmen. Bettlägerige<br />
Patienten besucht Frau Kromski<br />
in deren privatem Pflegezimmer,<br />
mobile Bewohnerinnen und Bewohner<br />
kommen zu ihr in den Behandlungsraum<br />
und absolvieren dort unter<br />
Anleitung der Krankengymnastin<br />
ihre Übungen – bei akuten Zuständen<br />
nach Frakturen aller Art, bei<br />
Parkinson oder Multiple Sklerose<br />
zum Beispiel nach dem Bobathkonzept,<br />
bei Arthrose, Rheuma oder<br />
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zum<br />
Rollstuhltraining, der Fußreflexzonenmassage<br />
oder für die Carnio-<br />
Sacrale Therapie.<br />
Sandra Müller<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 15
Bewegungstherapie<br />
Lebensfreude durch Sport und Bewegung<br />
Regelmäßige Bewegung und gesunde<br />
Ernährung sind wichtige Voraussetzungen<br />
für das körperliche<br />
Wohlbefinden. Auch Menschen mit<br />
psychischen Erkrankungen sollten<br />
sich deshalb fit halten. Doch fehlt<br />
ihnen oft der Antrieb zu sportlichen<br />
Aktivitäten. Wie in allen anderen<br />
Bereichen des täglichen Lebens<br />
benötigen unsere Bewohnerinnen<br />
und Bewohner daher professionelle<br />
Anleitung, wenn es darum geht,<br />
sich gezielt zu bewegen.<br />
Die Angebote der Bewegungstherapie<br />
in BETHANIEN RADELAND<br />
verfolgen mehrere Ziele:<br />
• Förderung und Erhalt von körperlicher<br />
Mobilität und Fitness<br />
• Stressabbau<br />
• Gewinn an Lebensfreude<br />
• Anbahnung einer aktiven Freizeitbeschäftigung<br />
• Ausschöpfen biografischer Ressourcen<br />
und Kompetenzen<br />
• Integration in gemeinschaftsfördernde<br />
Gruppenaktivitäten<br />
• Förderung der Fähigkeit zur sozialen<br />
Integration durch Anpassung<br />
an Spielregeln<br />
• Förderung der Fähigkeit zur<br />
psychischen Selbststrukturierung<br />
durch spielerische Interaktion<br />
• Aufbau eines vitalen Körperbildes<br />
WER DARF MITMACHEN?<br />
Wir wenden uns vor allem an die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner des<br />
Wohnhauses, die häufig zurückgezogen<br />
in ihren Apartments leben,<br />
aber auch an die Menschen auf den<br />
Wohnetagen des Haupthauses, insbesondere<br />
an diejenigen mit psychotischen<br />
Krankheitsbildern und<br />
Demenz, die sich vom Gemeinschaftsleben<br />
zurückgezogen haben<br />
oder es bedrohen. Hingegen darf<br />
die Bewegungstherapie in akuten<br />
Phasen psychotischer, depressiver<br />
und manisch-depressiver Krankheitsbilder<br />
sowie bei akuter Suizidalität<br />
nicht angewendet werden<br />
(Kontraindikationen).<br />
IM SPANNUNGSFELD<br />
VON ARBEITSTHERAPIE UND<br />
PSYCHOTHERAPIE<br />
Die Bewegungstherapie arbeitet<br />
mit der Arbeitstherapie Hand in<br />
Hand. Sie dient der Vorbereitung<br />
einer arbeitstherapeutischen Maßnahme,<br />
indem sie mobilisiert und<br />
die Anpassung an und Einhaltung<br />
von Spielregeln trainiert. Umgekehrt<br />
kann die Bewegungstherapie<br />
von der Arbeitstherapie das Entlohnungsmodell<br />
übernehmen, hier<br />
dann in Naturalien wie Essen und<br />
Trinken.<br />
Die Bewegungstherapie arbeitet<br />
auch mit der Psychotherapie Hand<br />
in Hand. Denn körperliche Aktivitäten<br />
bringen die Seele in Bewegung.<br />
Dadurch wird oft auch der<br />
Gesprächs- und Mitteilungsbedarf<br />
wiederbelebt – die Begleitmusik der<br />
bewegungstherapeutischen Arbeit.<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
öffnen sich allmählich, die Bewegungstherapeutin<br />
kann dadurch<br />
eine therapeutische Beziehung<br />
aufbauen.<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
leiden häufig unter starken muskulären<br />
Verspannungen, die durch die<br />
Bewegungstherapie wieder gelöst<br />
werden können.<br />
MEDIEN, DIE WIR EINSETZEN<br />
Schwimmen ist ein wirksames Entspannungsmedium.<br />
Durch die Bewegung<br />
des Wassers und im Wasser<br />
wird das ganze Körpersystem<br />
(Haut, Muskeln, Gelenke, Drüsen)<br />
sanft massiert. Gemeinsame Ballspiele<br />
bewirken spielerische Interaktionen.<br />
Aqua-Fitness unterstützt die individuelle<br />
Motivierung der Bewohner<br />
zu neuen spielerischen und freieren<br />
Bewegungsformen bei reduzierter<br />
Schwerkrafteinwirkung und ohne<br />
Sturzgefahr. Dies reicht vom Aqua-<br />
Tanz bis zum Aqua-Walken.<br />
Tischtennis eignet sich ausgezeichnet<br />
zur Förderung der (Bewegungs-)<br />
Spontanität. Diese Sportart arbeitet<br />
an der Wurzel von Antriebsstörungen.<br />
Sie ermöglicht gleichfalls den<br />
spielerischen Zugang zu dem vom<br />
16 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Bewegungstherapie<br />
Bauchtanz verbindet Tanz und<br />
Musik. Beide Elemente vermitteln<br />
Lebensfreude. Dieses Bewegungsangebot<br />
erproben wir noch. Der<br />
Bauchtanz ist insbesondere für<br />
Menschen mit starken Mobilitätseinschränkungen<br />
geeignet. Kreisende<br />
Bewegungen werden hier<br />
in kleinem Radius und an jedem<br />
Gelenk entfaltet.<br />
Bewohner internalisierten System<br />
sozialer Spielregeln und trägt dazu<br />
bei, diese zu verändern. Die internalisierten<br />
sozialen Regeln sind<br />
häufig abweichend oder wahnhaft<br />
verzerrt gegenüber den sozial<br />
geltenden, mit denen sich manche<br />
Bewohner überworfen haben. Spielen<br />
nach Regeln hilft, diese Kluft zu<br />
überwinden und fördert damit die<br />
Integrations- und Anpassungsfähigkeit.<br />
Fitnessgeräte sind ein beliebtes Medium,<br />
um Kraft aufzubauen und das<br />
Selbstbewusstsein zu stärken.<br />
Yoga mit seinen sanften Dehnungsübungen<br />
hilft die häufig extrem<br />
verspannte Muskulatur zu lockern.<br />
Seelische Kraft kann in symbolisch<br />
bedeutsamen Positionen, wie zum<br />
Beispiel „der Krieger<strong>“</strong>, aufgebaut<br />
werden.<br />
Bewohnern oft als bedroht empfundene<br />
eigene Körperbild positiv<br />
zu beeinflussen. Unkontrollierte<br />
Bewegungen können in Bildern wie<br />
„den Affen abwehren<strong>“</strong> aufgefangen<br />
werden.<br />
Walken beinhaltet einfache Bewegungsprinzipien<br />
und ermöglicht ein<br />
hohes Maß an Lockerung der oft<br />
extrem verspannten Schulter-Nacken-Muskulatur.<br />
Gleichzeitig wird<br />
durch das Erleben der Natur während<br />
des Walkens Stress abgebaut.<br />
Qigong besteht aus langsamen und<br />
fließenden Bewegungen. Qigong<br />
arbeitet mit Vorstellungsbildern und<br />
deren suggestiver Kraft, die eine<br />
tiefenpsychologische (Neben-)Wirkung<br />
haben. Die Arbeit mit beruhigenden,<br />
schönen Bildern, wie „den<br />
Mond schauen<strong>“</strong>, ermöglicht es,<br />
das von den Bewohnerinnen und<br />
Mit Qigong-Übungen wird die<br />
Koordination geschult, die häufig<br />
eingeschränkt ist, wenn das Körperbild<br />
als zerstückelt erlebt wird. Die<br />
langsamen und fließenden Bewegungen<br />
im Qigong wirken effektiv<br />
auf das vegetative Nervensystem<br />
und damit an der Wurzel von körperlicher<br />
und seelischer Entspannung<br />
und seelischer und geistiger<br />
Aufmerksamkeit. Die einfachen<br />
Bewegungsmuster ohne Kraftaufwand<br />
und Bewegungsartistik stellen<br />
im Hinblick auf die bei vielen<br />
Bewohnern stark eingeschränkte<br />
Bewegungsfähigkeit ein adäquates<br />
Bewegungsangebot dar.<br />
Inge Wittneben, Ergotherapeutin<br />
und Qigong-Kursleiterin (DQGG)<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 17
Arbeitstherapie<br />
„Wenn die blauen Veilchen wieder blühn...<strong>“</strong><br />
Die Gartenarbeit ist ein altes Mittel,<br />
um kranken Menschen durch alltagspraktisches<br />
Tun ein Gefühl von<br />
Selbstwirksamkeit und Ich-Wichtigkeit<br />
zurückzugeben, denn Mensch<br />
und Natur stehen von Anfang an in<br />
einem sehr engen Verhältnis zueinander.<br />
Die Gartentherapeutin organisiert<br />
nach Niepel/Pflister (Praxisbuch<br />
Gartentherapie, 2010) pflanzenund<br />
gartenbezogene Aktivitäten<br />
und (Natur-)Erlebnisse, um die<br />
Sinne zu stimulieren, Erfahrungen<br />
mit Pflanzen zu bieten, soziale<br />
Kontakte und die Kommunikation<br />
zu fördern, vorhandene Fähigkeiten<br />
zu erhalten sowie eine Realitätsorientierung<br />
zu ermöglichen. Alle<br />
gartentherapeutischen Aktivitäten<br />
werden jahreszeiten- und themenbezogen<br />
geplant, zum Beispiel<br />
Anzucht im Frühjahr, Gemüse im<br />
Sommer, Früchte zu Erntedank,<br />
Adventsgestecke im Winter.<br />
Die Gartentherapie findet einmal<br />
pro Woche auf jeder Wohnetage<br />
als Einzel- oder Gruppenbetreuung<br />
mit zwei bis fünf Bewohnern statt.<br />
Sie kann ganzjährig im Innen- und<br />
Außenbereich durchgeführt werden<br />
(Bewohnerzimmer, Aufenthaltsraum,<br />
Balkon, Garten) und dauert<br />
zwischen 30 bis 90 Minuten. Die<br />
Tätigkeiten werden im Sitzen oder<br />
Stehen verrichtet. Die Anforderungen<br />
lassen sich von sehr niedrig (im<br />
Sinne von dabei sein, zuschauen),<br />
über niedrig (z. B. 15 Minuten Blumen<br />
gießen) bis fachlich anspruchsvoll<br />
(z. B. Hecke schneiden) einstufen.<br />
Bei der Planung wird darauf<br />
geachtet, dass es weder zu Überlastungen<br />
und Versagensgefühlen<br />
kommt, noch zu Unterforderungen.<br />
Gärtnerisches Handwerk<br />
Bodenbearbeitung, Säen, Stecklinge<br />
ziehen, Pflege von Zimmerpflanzen,<br />
Anbau und Ernte von Obst, Gemüse<br />
und Kräutern, Schneiden von Obststräuchern<br />
usw.<br />
Nach der Quittenernte<br />
Holunderblüten portionieren<br />
Selbstgemachte Marmeladen etikettieren<br />
Die Gartenarbeit erfüllt körperliche,<br />
psychische, emotionale und spirituelle<br />
Bedürfnisse.<br />
Herbstbasar: Stolz werden die selbstgefertigten Blumengestecke präsentiert.<br />
Floristik<br />
Blumensträuße binden, Pflanzenschalen<br />
dekorieren, Adventskränze<br />
basteln, Kräutermandalas, Kunst im<br />
Garten, Wohnetage dekorieren.<br />
Kreatives Gestalten in jahreszeitlichen,<br />
traditionellen Bezügen hilft,<br />
die persönliche, kulturelle Identität<br />
auszudrücken. Durch die gemeinsame<br />
Ausgestaltung des Hauses entsteht<br />
ein Gefühl des „Daheimseins<strong>“</strong>.<br />
18 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Arbeitstherapie<br />
Pflanzenverwendung<br />
Teemischungen, Konfitüren, Öle,<br />
Duftkissen u. a. m.<br />
Obst, Gemüse und Kräuter bieten<br />
von der Ernte über die Verarbeitung<br />
bis zum Verzehr durch Geruch,<br />
Geschmack, Haptik und Aussehen<br />
zahlreiche sinnliche Stimulationen.<br />
Unterschiedliche Essgewohnheiten<br />
und kulturelle Vorlieben werden im<br />
Gespräch aufgegriffen, das stärkt<br />
das Selbstwertgefühl.<br />
Sinnesstimulierende Aktivitäten<br />
für Bettlägerige<br />
Wir bringen Natur und Garten durch<br />
natürliche, jahreszeitliche Elemente<br />
an das Bett unserer Bewohner und<br />
aktivieren damit seine Sinne: Hören,<br />
Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten.<br />
Diese Wahrnehmungen vermitteln<br />
Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit,<br />
der Bettlägerige erfährt Zuwendung<br />
und entspannt sich.<br />
Aktivitäten im Freien<br />
Bewohnern, die keinen Bedarf an<br />
gartentherapeutischen Aktivitäten<br />
haben und trotzdem die Vielfalt<br />
der Natur erleben möchten, bieten<br />
wir das Programm „Naturgestützte<br />
Aktivitäten im Freien<strong>“</strong> an: auf den<br />
Balkon oder nach draußen vor die<br />
Tür gehen, im Garten sitzen, im<br />
Wald oder in der Gartenkolonie<br />
spazierengehen, Ausflüge machen.<br />
Duft, Farben und Formen der Pflanzen,<br />
Vogelgezwitscher, Luft, Licht,<br />
Wetter und Temperatur beleben<br />
alle Sinne. Die Natur bietet kalendarische<br />
Orientierung, Vertrautheit<br />
und Normalität und ist deshalb ein<br />
Ort für Sicherheit und Geborgenheit<br />
mit natürlicher Milieugestaltung.<br />
Die alltagsnahen Situationen der<br />
Gartentherapie führen dazu, dass<br />
die Teilnehmenden die Aktivitäten<br />
oft gar nicht als Therapie wahrnehmen,<br />
ähnlich wie das bei hauswirtschaftlichen<br />
Angeboten erlebt wird.<br />
Kerstin Elschner<br />
Das RadeLandlädchen<br />
Das RadeLandlädchen schließt den<br />
Kreis der Arbeitstherapieangebote<br />
und ist doch etwas Besonderes! Hier<br />
und auf dem Bauernmarkt in der<br />
Spandauer Altstadt verkaufen wir<br />
die Produkte, die unsere Gartengruppe<br />
sät, zieht und erntet und die<br />
Einkochgruppe verarbeitet. Wir stellen<br />
uns der Konkurrenz<br />
und machen auf<br />
uns aufmerksam. Darüber<br />
hinaus bieten<br />
wir Kommissionsware<br />
von „Platane 19<strong>“</strong><br />
aus Charlottenburg<br />
und „Lebensräume<strong>“</strong><br />
aus Neuruppin an,<br />
was die Vernetzung<br />
nach draußen ebenfalls<br />
stärkt.<br />
Das Verkaufsteam<br />
hat seit Eröffnung des<br />
Hofladens im März<br />
2013 ein hohes Maß<br />
an Verantwortungsbewusstsein<br />
und Engagement<br />
entwickelt.<br />
Für die Verkäufer bedeutet<br />
die Arbeit im<br />
RadeLandlädchen ein Stück mehr<br />
Normalität. Immer zwei Bewohner<br />
sind – mit Unterstützung der Therapeuten<br />
– für die Ladendienste am<br />
Montag, Mittwoch und Samstag<br />
verantwortlich. Ab 13:30 Uhr<br />
bereiten sie zuerst alles für den<br />
Verkauf vor: Die Kaffeemaschine ist<br />
einzuschalten, das Mobiliar aus der<br />
Wir bieten<br />
• selbstgemachte Marmeladen<br />
aus heimischen<br />
Früchten, z. B. Quitte,<br />
Erdbeer-Rhabarbar, sowie<br />
exotische Kompositionen<br />
wie Ingwer-Orange, Kiwi-<br />
Aprikose usw.<br />
• Holunderblütensirup (nur<br />
im Juni/Juli), Himbeeressig<br />
• Hundekekse „ Leckerlis<strong>“</strong><br />
• Blumengestecke<br />
• selbstgezogene Pflanzen<br />
• duftende Lavendelsäckchen<br />
und -kissen<br />
• selbstgemalte Bilder<br />
• Modeschmuck<br />
• Bücherkiste<br />
• Snacks und Kaffee to go<br />
Öffnungszeiten<br />
Montag, Mittwoch, Samstag<br />
14:00 – 17:00 Uhr<br />
Garage zu holen, das Geöffnet-<br />
Schild und die Kaffeefahne sind aufzustellen,<br />
die Kasse mit Wechselgeld<br />
aufzufüllen und das Angebot<br />
attraktiv zu arrangieren.<br />
Während der Öffnungszeit von 14<br />
bis 17 Uhr sind Kundenkontakte<br />
zu bewältigen,<br />
Auskünfte über die<br />
Produkte zu geben<br />
und die Kasse zu<br />
bedienen. Nach<br />
Ladenschluss wird<br />
dann abgerechnet,<br />
aufgeräumt, ausgefegt<br />
und schließlich<br />
noch die Alarmanlage<br />
eingeschaltet.<br />
Der Hofladen hat<br />
sich auch zu einem<br />
beliebten Treffpunkt<br />
für andere<br />
Bewohnerinnen und<br />
Bewohner entwickelt,<br />
die hier gerne<br />
einen besonderen<br />
Kaffee trinken, ein<br />
Buch tauschen oder<br />
einfach nur zum<br />
Plauschen vorbeischauen.<br />
Einmal im Monat trifft sich das<br />
Team des RadeLandlädchens, um<br />
den Dienstplan festzulegen, Ideen<br />
zur Weiterentwicklung des Ladens<br />
zu diskutieren und ein wenig den<br />
Erfolg zu feiern!<br />
Brigitte Schmidt<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 19
Arbeitstherapie<br />
Frisch und sauber in den richtigen Schrank<br />
Zimmernummern. So können sie<br />
die Wäsche den jeweiligen Fächern<br />
teilweise aus dem Kopf zuordnen.<br />
Für ihre Tätigkeit erhalten die<br />
Mitglieder der Wäschegruppe eine<br />
Motivationshilfe. Voraussetzungen<br />
für die Teilnahme an dieser Maßnahme<br />
sind persönliche Hygiene,<br />
Zuverlässigkeit und ein gewisses<br />
Maß an Verantwortungsgefühl.<br />
Die Wäschegruppe bietet Arbeitstherapieplätze<br />
im Dienstleistungsbereich.<br />
Eine kleine verbindliche<br />
Gruppe von drei Bewohnern mit<br />
unterschiedlichen Diagnosen sortiert<br />
unter Anleitung einer Ergotherapeutin<br />
dreimal in der Woche die<br />
persönliche Kleidung der 171 Bewohner<br />
von Haus Radeland. Diese<br />
kommt gewaschen, aber unsortiert<br />
aus einer Großwäscherei und muss<br />
für die Verteilung auf den Wohnetagen<br />
und richtige Zuordnung zu<br />
seinem Besitzer vorbereitet werden.<br />
Der zeitliche Aufwand für diese<br />
Arbeit orientiert sich an der Liefermenge.<br />
In der Regel wird dafür dreimal<br />
wöchentlich zirka eine Stunde<br />
benötigt: Das Wäschedienstteam<br />
hängt die Oberbekleidung nach<br />
Wäschereibons auf die Kleiderständer,<br />
sortiert die übrige Wäsche in<br />
Wagen, säubert Wäscheständer und<br />
räumt die Wäschekammer anschließend<br />
wieder auf.<br />
geliefert werden kann. Die Absprachen<br />
sind klar und werden eingehalten.<br />
So verbessern sie auch ihre<br />
Handlungsplanung, Zeiteinteilung,<br />
Ausdauer, Pünktlichkeit, Konzentration,<br />
Kommunikation und Kooperationfähigkeit.<br />
Dabei entwickeln sie<br />
erstaunliche Gedächtnisleistungen:<br />
Sie merken sich nicht nur die Wohnbereiche,<br />
in denen die einzelnen<br />
Bewohner leben, sondern auch die<br />
Kleiderbörse<br />
Die Wäschegruppe ermöglicht<br />
wichtige Erfahrungen, die jeder<br />
andere Berufstätige auch macht.<br />
Wenn zum Beispiel ein Gruppenmitglied<br />
ausfällt, müssen die anderen<br />
seine Arbeit mit übernehmen,<br />
da unsere Bewohner sonst keine<br />
sauberen Anziehsachen bekämen.<br />
Das führt mitunter zu intensiven<br />
gruppendynamischen Prozessen.<br />
Die wiederkehrenden Arbeitsabläufe<br />
geben den Mitgliedern der<br />
Wäschegruppe Sicherheit und<br />
die verantwortungsvolle Tätigkeit<br />
steigert ihr Selbstvertrauen und ihre<br />
psychische Stabilität.<br />
Angela Hellmann<br />
Die drei Bewohner teilen die Aufgaben<br />
selbstständig untereinander<br />
auf, sind sich gegenseitig behilflich<br />
und haben ein System entwickelt,<br />
wie die fertig sortierte Wäsche am<br />
schnellsten auf die Wohnetage<br />
Ob Oster-, Herbst oder Adventsbasar – die Second-Hand-Kleiderbörse ist bei den<br />
Bewohnerinnen und Bewohnern sehr beliebt und bietet ideale Möglichkeiten, sich<br />
den eigenen Kleiderschrank regelmäßig für kleines Geld aufzufrischen oder aber<br />
Kleidungsstücke, an denen man sich sattgesehen hat, auszusortieren.<br />
20 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Leben im Wohnhaus Spandau<br />
Auf dem Weg zurück in die Selbstständigkeit<br />
Im Wohnhaus von BETHANIEN<br />
RADELAND betreuen und pflegen<br />
wir 44 Menschen in unterschiedlichen<br />
Pflegestufen mit diversen<br />
psychischen Krankheitsbildern,<br />
darunter auch Doppeldiagnosen<br />
(geistige Behinderung und chronisch<br />
psychische Erkrankungen).<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
finden im Wohnhaus oft für viele<br />
Jahre ein neues Zuhause. Sie sind<br />
unterschiedlichen Alters, verschiedener<br />
Herkunft und Familienstände.<br />
Sie leben allein oder zu zweit im<br />
eigenen Apartment mit Küche und<br />
Duschbad oder zu dritt in einer der<br />
beiden Wohngemeinschaften mit<br />
eigenem Zimmer, einem großen<br />
Wohnzimmer, Gemeinschaftsküche<br />
und Badezimmer. Die Wohnräume<br />
verteilen sich auf acht Etagen. Das<br />
Haus verfügt über einen Fahrstuhl,<br />
einen behindertengerechten Hauseingang<br />
und zwei Aufenthaltsräume<br />
(in der 1. und 6. Etage).<br />
Stellvertretung, Pflegekräfte, Ergotherapeuten,<br />
eine Sozialpädagogin,<br />
Betreuungsassistenten, die Physiotherapeutin,<br />
eine Psychologin und<br />
eine Ärztin, Pflegeschüler und Praktikanten.<br />
Sie alle bemühen sich um<br />
das Wohl der Bewohnerinnen und<br />
Bewohner.<br />
LEBEN IM WOHNHAUS<br />
Im Wohnhaus steht der selbstbestimmte<br />
Alltag im Vordergrund.<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
werden in allen Bereichen des täglichen<br />
Lebens unterstützt, gefördert<br />
und gefestigt: bei der Körperpflege,<br />
der Zubereitung der Mahlzeiten,<br />
der persönlichen Haushaltsführung,<br />
dem Ordnunghalten, dem Saubermachen<br />
und der Ausgestaltung des<br />
eigenen Zimmers und der Gemeinschaftsräume,<br />
beim Umgang mit<br />
Geld, bedarfsgerechten Einkäufen,<br />
aber auch bei Arztbesuchen und<br />
Behördengängen.<br />
Die Bewohner können folgendes<br />
Beschäftigungsangebot wahrnehmen:<br />
wöchentliche Einkaufs- und<br />
Kochgruppen; Gartengruppe (Pflege<br />
der Topfblumen und Balkonkästen,<br />
Gestaltung des Außenbereichs);<br />
Arbeitsförderung (z. B. Mitarbeit<br />
im RadeLandlädchen oder auch<br />
Teilnahme an der Einkochgruppe);<br />
Bewegungstherapie (Schwimmen,<br />
Tischtennis usw.); Tiertherapie (Versorgung<br />
und Kontakt zu den Alpakas);<br />
Besuch des wöchentlichen<br />
Gottesdienstes im Haupthaus.<br />
Außerdem finden einmal monatlich<br />
Ausflüge mit dem hauseigenen Bus<br />
statt. Ziele waren zuletzt: Naturkundemuseum,<br />
Luftwaffenmuseum,<br />
Tropical Island, Döberitzer Heide<br />
und ein Markt in Polen.<br />
Die Wohnzimmer und Gemeinschaftsräume<br />
werden entsprechend<br />
den Jahreszeiten und christlichen<br />
Feiertagen dekoriert.<br />
Selber kochen und abschmecken Gemeinsam den Tisch decken In „familiärer<strong>“</strong> Runde beim Essen<br />
Hier treffen sich die Bewohnerinnen<br />
und Bewohner viermal täglich zu<br />
den gemeinsamen Mahlzeiten. Die<br />
Gruppenräume ermöglichen ihnen<br />
darüber hinaus individuelle Kontaktaufnahmen,<br />
gemütliches Beisammensein<br />
und gemeinsame Fernsehabende.<br />
Außerdem treffen sie hier<br />
für ihre persönlichen Belange stets<br />
Ansprechpartner, wie zum Beispiel<br />
die Wohnetagenleitung und deren<br />
Anleitung und Betreuung erfolgen<br />
in enger Zusammenarbeit mit den<br />
gesetzlichen Betreuern. In regelmäßigen<br />
Fallgesprächen mit den<br />
Bewohnerinnen und Bewohnern<br />
wird beraten und entschieden, was<br />
aktuell für den Betroffenen wichtig<br />
und sinnvoll ist. Ebenso werden die<br />
individuellen Tagesabläufe gemeinsam<br />
entwickelt und in persönlichen<br />
Wochenplänen festgehalten.<br />
Die ganzheitliche pädagogische Betreuung<br />
umfasst neben Gruppenangeboten<br />
auch eine Einzelbetreuung.<br />
In diesen „Zweierrunden<strong>“</strong> lässt sich<br />
ein intensives Vertrauen aufbauen,<br />
das es leichter macht, Bedürfnisse<br />
zu äußern oder Probleme anzusprechen<br />
und zu lösen. Die Pädagoginnen<br />
und Therapeuten entwickeln<br />
darüber hinaus mit jedem Bewohner<br />
einen individuellen Förderplan und<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 21
Leben im Wohnhaus Spandau<br />
Gemeinsame Mittagsmahlzeit im Tagesraum<br />
definieren persönliche Ziele. Dies<br />
ist für die Bewohner ein wichtiger<br />
Schritt in Richtung Selbstständigkeit<br />
– nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit,<br />
in eine offenere, ambulante<br />
Wohneinrichtung umzuziehen,<br />
sondern auch in einer Förderwerkstatt<br />
zu arbeiten oder eine Praktikumseinrichtung<br />
zu besuchen.<br />
Zurzeit werden auch neue Handlungskataloge<br />
entwickelt. Ziel ist<br />
eine deeskalierende, auf das jeweilige<br />
Krankheitsbild abgestimmte<br />
Vorgehensweise, um persönliche<br />
Krisen eines Bewohners frühzeitig<br />
zu erkennen, professionell darauf<br />
reagieren zu können und adäquate<br />
Hilfe anzubieten.<br />
Das Beispiel einer 29-jährigen<br />
Bewohnerin verdeutlicht, welche<br />
persönlichen Entwicklungschancen<br />
das Wohnhaus eröffnet:<br />
Frau Weiß* lebt seit Oktober 2012<br />
im Wohnhaus. Sie zog gemeinsam<br />
mit ihrer Lebenspartnerin in eine<br />
Zwei-Zimmer-Wohnung ein. Frau<br />
Weiß war anfangs sehr schüchtern,<br />
sprach wenig, zog sich häufig zurück<br />
und zeigte ein gestörtes Essverhalten.<br />
Durch den starken Einfluss<br />
ihrer Freundin war ihr Leben fremdbestimmt.<br />
Es gelang, beide Frauen<br />
Wieder den eigenen Haushalt führen<br />
Wichtige Voraussetzungen für das selbstständige Leben außerhalb unserer stationären<br />
psychiatrischen Intensivpflegeeinrichtungen sind auch hauswirtschaftliche<br />
Fertigkeiten, die im Rahmen der Beschäftigungstherapie trainiert werden.<br />
für unser Therapieprogramm zu<br />
gewinnen. Ein Wochenplan half,<br />
sich schnell mit den Angeboten<br />
und Terminen vertraut zu machen.<br />
Regelmäßig nehmen Frau Weiß und<br />
ihre Freundin jetzt mit großer Begeisterung<br />
an der Koch-, der Einkaufs-<br />
und der Schwimmgruppe<br />
teil. Seit Eröffnung des RadeLandlädchens<br />
im März 2013 helfen<br />
beide Frauen außerdem aktiv im<br />
Verkauf mit. Des Weiteren besucht<br />
Frau Weiß die Gartentherapie, zeigt<br />
Freude und Interesse am Gestalten<br />
von Tischgestecken und Blumenkästen.<br />
Durch eine engmaschige<br />
Einzelbetreuung und kleinschrittige<br />
Arbeitsanweisungen wird sie immer<br />
sicherer in ihren Handlungen und<br />
arbeitet zum Teil selbstständig auch<br />
ohne ihre Freundin. Frau Weiß wird<br />
regelmäßig zu den Mahlzeiten im<br />
Gemeinschaftsraum eingeladen.<br />
Zusätzlich erhält sie flüssige Zusatznahrung,<br />
sodass eine ausgewogene<br />
Ernährung gewährleistet ist. Noch<br />
immer fällt es Frau Weiß allerdings<br />
schwer, über ihre Vergangenheit<br />
oder ihre Bedürfnisse zu sprechen.<br />
Kontaktgespräche werden in ihrem<br />
Zimmer geführt. Langfristiges Ziel<br />
ist es, Frau Weiß in ihrer Selbstständigkeit<br />
weiter zu stärken und das<br />
Vertrauen weiter auszubauen.<br />
Anna-Katharina Kluttig<br />
22 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Respectare<br />
Die Kunst der respektvollen Berührung<br />
Das Bedürfnis nach Geborgenheit<br />
und Nähe ist uns Menschen in die<br />
Wiege gelegt. Unsere erste Sinneserfahrung<br />
ist die Berührung im<br />
Mutterleib. Hier erspüren wir mit<br />
unserem gesamten Körper unsere<br />
Umgebung und uns selbst. Berührung<br />
ist somit die erste Form der<br />
Kommunikation und Kontaktaufnahme<br />
mit unserer Umwelt. Im<br />
Laufe des Lebens lässt das Bedürfnis<br />
nach Berührungen nicht nach,<br />
es ändern sich nur die Umstände.<br />
Mit zunehmendem Alter schwinden<br />
allerdings oft die Möglichkeiten der<br />
Berührung – durch den Verlust des<br />
Lebenspartners oder nachlassende<br />
soziale Kontakte.<br />
In der Pflege ist die Berührung von<br />
Mensch zu Mensch ein wesentliches<br />
Medium zur Kontaktaufnahme.<br />
Berührung greift in die Intimität der<br />
Person ein. Pflegende sollten sich<br />
deshalb bewusst sein, was es bedeutet,<br />
berührt zu werden und andere<br />
zu berühren. Sie müssen viel<br />
über die Wirkung wissen. In Haus<br />
Radeland arbeiten wir dabei nach<br />
dem respectare ® -Konzept.<br />
Was ist respectare ® ?<br />
Respectare ® ist ein Konzept zur Entwicklung<br />
der Berührungskompetenz<br />
für das Begleiten und achtsame Berühren<br />
in Pflege und Therapie. Respectare<br />
® wurde 1999 von Annette<br />
Berggötz, Lehrerin für Pflegeberufe,<br />
Dozentin und Respectare-Trainierin,<br />
konzipiert. Der von Frau Berggötz<br />
für ihr Konzept benutzte Begriff<br />
„respectare<strong>“</strong> ist ein Kunstwort, auch<br />
wenn es lateinisch klingt. Auf die<br />
Berührungskompetenz bezogen<br />
lässt sich „respectare<strong>“</strong> übersetzen<br />
mit „Zeit für Nähe – Raum für<br />
Distanz<strong>“</strong>. Doch vor allem bedeutet<br />
„respectare<strong>“</strong> Beziehungsarbeit.<br />
Berühren nach respectare ®<br />
Die Berührung ist eingebunden in<br />
ein festes Ritual. Dieses beginnt<br />
mit der Erlaubnisfrage. Es folgen<br />
Streichmassagen nach einem festgelegten<br />
Ablauf. Dabei bleiben die<br />
berührenden Hände kontinuierlich<br />
in Kontakt mit dem Körper. Am<br />
Ende der Berührungen steht das<br />
Bedanken. Warum bedanken wir<br />
uns? Wir sehen es als ein großes<br />
Geschenk an, dass ein Mensch uns<br />
so viel Vertrauen entgegenbringt,<br />
dass wir ihn berühren dürfen.<br />
Bei den Streichberührungen der<br />
Arme und Hände, Beine und Füße,<br />
des Rückens und Kopfes fließen<br />
Elemente aus der traditionellen indischen<br />
und schwedischen Massage<br />
sowie der Reflexiologie mit ein.<br />
Warum wenden wir<br />
respectare ® an?<br />
Wir haben uns für dieses Konzept<br />
entschieden, weil es Mitarbeiter in<br />
ihrem wertschätzenden, respektvollen<br />
Kontakt mit Bewohnern,<br />
Kollegen und Angehörigen stärkt.<br />
Es dient der Kommunikation, wenn<br />
Worte nicht mehr zum Menschen<br />
durchdringen. Bei Menschen mit<br />
dementiellen oder psychischen<br />
Erkrankungen kann eine einfühlsam<br />
und respektvoll gestaltete Begegnung<br />
Sicherheit und Geborgenheit<br />
schaffen.<br />
Wie erwerben unsere Mitarbeiter<br />
Berührungskompetenz?<br />
Sie werden in einem zweitägigen<br />
Basisseminar von ausgebildeten<br />
Praxisbegleitern unseres Hauses geschult.<br />
Hier lernen sie unter Anleitung<br />
und durch Selbsterfahrung die<br />
verschiedenen Streichberührungen.<br />
Zusätzlich finden Kick off-Schulungen<br />
statt, um allen Mitarbeitenden<br />
die Grundlagen des Konzepts vorzustellen.<br />
2011 erhielten alle Führungskräfte<br />
aus den Häusern <strong>AGAPLESION</strong><br />
BETHANIEN RADELAND und<br />
<strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN HAVEL-<br />
STRAND eine Schulung durch Frau<br />
Berggötz, zwei Mitarbeitende wurden<br />
zu respectare ® -Praxisbegleitern<br />
ausgebildet. Sie schulen nun die<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
im Haus und leiten sie anschließend<br />
in der Praxis an. Bei Interesse<br />
und Fragen können sich alle Mitarbeitenden,<br />
Bewohnerinnen und<br />
Bewohner sowie deren Angehörige<br />
jederzeit gern an die Praxisbegleiter<br />
wenden.<br />
Katja Hamburger<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 23
Deeskalation<br />
Konflikte und aufschaukelnde Prozesse verhindern<br />
Deeskalation durch aggressionsfreie Sprache und Verhaltensweisen<br />
Vermeidung negativ besetzter Begriffe<br />
Die Krankenschwester Christiane<br />
Temizkan ist im Haus Radeland<br />
Wohnetagenleiterin der Bereiche<br />
Gartenstadt und Wasserstadt für<br />
Bewohner mit Demenz. Sie arbeitet<br />
seit 20 Jahren mit dementiell<br />
erkrankten Menschen. Deren<br />
herausforderndes Verhalten<br />
brachte die Krankenschwester<br />
trotz langjähriger Erfahrungen<br />
immer wieder in Situationen,<br />
die auch sie nur schwer händeln<br />
konnte. Als ihr Hausleiter Heiko<br />
Wiemer vorschlug, eine Deeskalationstrainerausbildung<br />
zu<br />
absolvieren, nahm Christiane<br />
Temizkan dieses Angebot gerne<br />
wahr. Im Folgenden stellt sie die<br />
Grundzüge des Deeskalationsprogramms<br />
vor.<br />
ProDeMa ® (Professionelles Deeskalationsmanagement)<br />
ist ein umfassendes<br />
und mehrfach evaluiertes<br />
Präventionskonzept zum professionellen<br />
Umgang mit Gewalt und<br />
Aggression. Es wurde von dem Psychologen<br />
und Psychotherapeuten<br />
Ralf Wesuls entwickelt und umfasst<br />
für alle Bereiche des Gesundheitsund<br />
Sozialwesens speziell auf die<br />
jeweiligen Patienten/Betreuten<br />
zugeschnittene Ausbildungs- und<br />
Schulungsinhalte, um eine maximale<br />
Praxistauglichkeit zu erreichen.<br />
Das Deeskalationsprogramm<br />
umfasst sieben Stufen:<br />
Die Deeskalationsstufen I – III<br />
beschäftigen sich mit den Gründen<br />
des herausfordernden Verhaltens.<br />
Diese können sein: Angst, Unsicherheit,<br />
Verlust der Autonomie usw.<br />
Stufe IV widmet sich der Technik<br />
der verbalen Deeskalation.<br />
Stufe V beinhaltet Übungen der<br />
Körperintervention zur Vermeidung<br />
eines physischen Angriffs bzw. einer<br />
bewohner<strong>schon</strong>enden Befreiung der<br />
Pflegefachkraft.<br />
Stufe VI befasst sich mit patienten<strong>schon</strong>enden<br />
Begleit-, Halte-, Immobilisations-<br />
und Fixierungstechniken.<br />
In vielen Situationen müssen<br />
Patienten/Betreute bei Selbst- oder<br />
Fremdgefährdung festgehalten oder<br />
immobilisiert werden, um weder<br />
sich noch andere Personen zu verletzen.<br />
Die Begleitung eines zum<br />
Beispiel verwirrten oder alkoholisierten<br />
Bewohners erfordert große<br />
Vorsicht. Unsere Begleit-, Halteund<br />
Immobilisationstechniken sind<br />
flexibel hinsichtlich des jeweiligen<br />
Bewohners und seines Verhaltens.<br />
Stufe VII (Nachsorge): Aggressive<br />
Vorfälle, herausfordernde Verhaltensweisen,<br />
stattgefundene Eskalationen<br />
oder notwendig gewordene<br />
Immobilisationen und Fixierungen<br />
werden mit dem Bewohner, einzelnen<br />
Mitarbeitern oder dem gesamten<br />
Team nachbesprochen mit dem<br />
Ziel, zukünftige Vorfälle zu vermeiden.<br />
Nach Erhalt des Trainerscheins<br />
übertrage ich mein Wissen im Deeskalationmanagement<br />
an unsere<br />
Mitarbeiter weiter. Das Erkennen<br />
und Vermeiden von angespannten<br />
Situationen wird in Gruppenarbeiten<br />
gelehrt. Die Erlernung der<br />
Technik verbaler Deeskalation<br />
nimmt den Hauptteil der zweitägigen<br />
Fortbildung in Anspruch.<br />
Dabei erproben die Mitarbeiter<br />
einfache Techniken, um körperliche<br />
Angriffe zu vermeiden und diesen<br />
zu entgehen.<br />
Das Feedback der Mitarbeiter nach<br />
der Fortbildung ist überwiegend<br />
positiv. Sie sind erfreut, dass gerade<br />
langjährige Kollegen <strong>schon</strong> unbewusst<br />
gewisse Techniken anwenden.<br />
Durch die Theorie fühlen sich die<br />
Teams gestärkt und<br />
können die Techniken<br />
der verbalen Deeskalation<br />
anwenden.<br />
Die Befreiung aus einer<br />
Umklammerung seitens<br />
des Bewohners ist<br />
verblüffend einfach und<br />
zeigt den Mitarbeitern<br />
und Mitarbeiterinnen,<br />
dass sie mit herausforderndem<br />
Verhalten<br />
professionell umgehen<br />
können. Mich persönlich<br />
begeistert dieses<br />
Training insbesondere deshalb, weil<br />
es nur in Zusammenarbeit mit den<br />
Bewohnern gut funktioniert.<br />
Die wichtigste Voraussetzung für<br />
eine erfolgreiche Deeskalation ist<br />
ein intensiver Beziehungsaufbau<br />
zu den hilfebedürftigen, uns anvertrauten<br />
Menschen.<br />
Christiane Temizkan<br />
24 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Biografiearbeit<br />
Psychobiografisches<br />
Pflegemodell<br />
Das psychobiografische Pflegemodell<br />
von Erwin Böhm basiert auf<br />
der Annahme, dass Körper, Seele,<br />
Geist, soziales Umfeld und die persönliche<br />
Geschichte in einem permanenten<br />
Zusammenhang stehen.<br />
Böhm stellte fest, dass Menschen<br />
mit Demenz nicht mehr über die<br />
„Welt der Dinge<strong>“</strong>, also den kognitiven<br />
Anteil der Psyche, erreicht<br />
Erinnerungen an die Urgroßeltern<br />
werden können, sondern der Zugang<br />
über die „Welt der Gefühle<strong>“</strong><br />
erfolgen muss. Er unterscheidet<br />
sieben Interaktionsstufen, auf<br />
denen sich der alte Mensch befinden<br />
kann: Sozialisation (regionale<br />
Geschichtsprägung), Mutterwitz<br />
(sprechen, wie einem der Schnabel<br />
gewachsen ist), seelische soziale<br />
Grundbedürfnisse, Prägungen (als<br />
Kind erlernte Verhaltensnormen,<br />
Eigenarten, Rituale), Triebe, Intuition<br />
(Märchen, Aberglaube), Urkommunikation<br />
(Ebene des Säuglings).<br />
Für jede Stufe müssen eigene<br />
Zugangswege zum alten Menschen<br />
gefunden werden, wobei grundsätzlich<br />
gilt: „Vor den Beinen muss<br />
die Seele bewegt werden.<strong>“</strong><br />
Böhms Pflegemodell hat gleichermaßen<br />
den Gepflegten und den<br />
Pflegenden im Blick. Ziele sind die<br />
Reaktivierung des Pflegebedürftigen,<br />
eine Steigerung seines Selbstwertgefühls,<br />
eine Symptomlinderung<br />
ohne Einsatz von Psychopharmaka,<br />
eine Verbesserung der Pflegequalität<br />
durch „seelische Pflege<strong>“</strong>, die<br />
Erhöhung der Arbeitszufriedenheit<br />
und die Senkung der Krankenstände.<br />
Von Böhm<br />
stammt auch<br />
der Begriff<br />
des Normalitätsprinzips.<br />
Er geht<br />
davon aus,<br />
dass jeder<br />
Mensch<br />
– geprägt<br />
durch seine<br />
Sozialisation,<br />
Kultur und Erfahrungen – eine<br />
persönliche Lebensform entwickelt,<br />
aus der sich sein Bild von einem<br />
<strong>normal</strong>en Verhalten und Handeln<br />
ergibt: wie und was man isst; wie<br />
man mit anderen in Beziehung tritt;<br />
womit man sich beschäftigt; worin<br />
man den Sinn des Lebens sieht;<br />
wie man sich kleidet. Ein Mensch<br />
mit Demenz greift auf Normen und<br />
Handlungsweisen aus seinen früheren<br />
Lebenszeiten zurück. Deshalb<br />
ist die Biografiearbeit von zentraler<br />
Bedeutung.<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 25
Biografiearbeit<br />
Milieugestaltung<br />
Damit sich unsere Bewohnerinnen<br />
und Bewohner daheim fühlen,<br />
sind ihre Zimmer und die Gemeinschaftsräume<br />
so möbliert, wie die<br />
Wohnräume ihrer Prägungszeit<br />
eingerichtet waren.<br />
Gewohnheiten<br />
Von Herrn Mitzner* wissen wir aus<br />
seiner Kindheit, dass er immer der<br />
Erste in der Badewanne war, wenn<br />
die Mutter Wasser eingelassen hat.<br />
Baden ist<br />
für ihn mit<br />
wohltuenden<br />
Erinnerungen<br />
verbunden.<br />
Wir ermöglichen<br />
ihm<br />
Entspannung<br />
in unserem<br />
Pflegebad, um<br />
seine permanente<br />
motorische Unruhe für einen<br />
Augenblick zu unterbrechen. Es<br />
sind oft gerade die kleinen Dinge,<br />
die den Alltag unser Bewohner bestimmen<br />
und auflockern können.<br />
Mutterwitz<br />
Böhm nimmt an, dass der alte<br />
Mensch in der von ihm definierten<br />
Interaktionsstufe 2 (noch Erwachsenenalter)<br />
kognitiv nachlässt, aber<br />
noch erreichbar ist und auch noch<br />
auf Humor reagiert. Insbesondere<br />
wenn sein „Mutterwitz<strong>“</strong> ehedem<br />
stark ausgeprägt war, kann dieser<br />
ein sehr wichtiger Schlüssel sein,<br />
um Zugang zu ihm zu bekommen.<br />
Als die noch etwas müden Bewohnerinnen<br />
und Bewohner der Wohnetage<br />
Altstadt im Aufenthaltsraum<br />
frühstückten und ich ihre Morgenmedikation<br />
vorbereitete, kam Frau<br />
Husmann* zu mir. Sie wollte wie so<br />
oft die Erste sein. Ich bat um etwas<br />
Geduld. Sie ging zu ihrem Platz<br />
zurück und ich wandte mich erneut<br />
den Medikamenten zu. Ich nahm<br />
den Medikamentenblister von Frau<br />
Husmann, füllte ihn um, drehte<br />
mich zu ihr und… weg war sie!<br />
„Huch, ist Frau Husmann verpufft?<strong>“</strong><br />
entfuhr es mir. Herr Adam* lachte<br />
laut los und klopfte auf den Tisch,<br />
Frau Knorr* meinte lachend und mit<br />
Tränen in den Augen: „Nein die ist<br />
doch gerade rausgegangen.‘‘ Frau<br />
Husmann kam lachend vom Flur<br />
zurück: „Aber nein, ich bin doch<br />
hier.<strong>“</strong> Nun musste auch ich lachen.<br />
Alle anderen wurden von unserer<br />
Fröhlichkeit angesteckt. Der Tagesraum<br />
war plötzlich ganz erfüllt von<br />
einer heiteren lauten Stimmung und<br />
alle unterhielten sich angeregt. Das<br />
lockte weitere Bewohner und meine<br />
Kollegin aus der Wohnküche an.<br />
Wir erlebten einen heiteren Tag.<br />
Ich-Wert<br />
Böhm geht davon aus, dass ein<br />
Mensch nur „lebbar<strong>“</strong> ist, wenn<br />
er mindestens einmal am Tag der<br />
Wichtigste ist.<br />
An einem sehr schönen Sommertag<br />
beschlossen Herr Rosen* und ich,<br />
WELTALZHEIMERTAG<br />
In Deutschland sind rund 1,2<br />
Millionen Menschen an Demenz<br />
erkrankt. Es sind fast ausschließlich<br />
Menschen höheren Alters<br />
betroffen. Seit 1994 finden jedes<br />
Jahr am Welt-Alzheimertag (21.<br />
September) vielfältige Aktivitäten<br />
statt, um die Öffentlichkeit<br />
auf die Situation der Erkrankten<br />
und ihrer Angehörigen aufmerksam<br />
zu machen.<br />
unseren Kaffee im Freien zu trinken,<br />
und bereiteten vor dem Wohnhaus<br />
eine Tafel vor. Sie war gut<br />
besucht, alle unterhielten sich und<br />
genossen das herrliche Wetter. Da<br />
kam Herr Graul*, eine ehemaliger<br />
Schauspieler und extrovertierter<br />
Mensch, hinzu. Alle rollten mit den<br />
Augen. Wie erwartet, riss er gleich<br />
das Gespräch an sich. Die ersten<br />
Bewohner verließen genervt die<br />
Runde. Ich reichte Herrn Graul eine<br />
Tasse mit den Worten: „Romeo, oh<br />
mein Romeo, hier ist ihr Kaffee!<strong>“</strong><br />
„Vielen Dank, ihr holde Maid.<strong>“</strong> Er<br />
verbeugte sich schmunzelnd und<br />
bat mich, für einen Augenblick seine<br />
Assistentin zu sein. Er schlüpfte<br />
in die Rolle des Romeo und spielte<br />
mit mir die Balkonszene, begleitet<br />
von einer gewissen Situationskomik,<br />
da Julia überhaupt nicht textsicher<br />
war und Romeo ihr die Einsätze ins<br />
Ohr flüstern musste. Dann geschah<br />
ein kleines Wunder: Die Kaffeetafel<br />
füllte sich wieder. Mehr und mehr<br />
Bewohner kamen dazu, um sich<br />
das Spektakel anzusehen. Zum Abschluss<br />
verbeugten sich Herr Graul<br />
und ich in alter Theatermanier. Es<br />
gab klatschenden und lachenden<br />
Beifall und Zugaberufe. Herr Graul<br />
genoss diesen Moment. Wir blieben<br />
in lockerer Atmosphäre zusammen<br />
bis zum Abendbrot, das wir auf<br />
Wunsch vieler Bewohner ebenfalls<br />
im Vorgarten einnahmen.<br />
Susanne Schneider<br />
26 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Berliner Projekt |Angehörige<br />
Ärztliche Versorgung<br />
Angehörige<br />
<strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN RADE-<br />
LAND und <strong>AGAPLESION</strong> BETHA-<br />
NIEN HAVELSTRAND sind Mitglied<br />
im „Berliner Projekt – Die Pflege<br />
mit dem Plus<strong>“</strong>. Es bietet eine ganzheitliche<br />
Betreuung und intensive<br />
Pflege von chronisch kranken, multimorbiden<br />
und psychisch kranken<br />
Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen<br />
rund um die Uhr. Das<br />
Projekt ist eine Besonderheit und<br />
existiert seit 1998 nur in Berlin.<br />
Die medizinische Versorgung in Radeland<br />
und Havelstrand wird von<br />
zwei festangestellten Ärzten, einem<br />
niedergelassenen Psychiater und<br />
zwei Psychologinnen gewährleistet,<br />
die außerhalb ihrer Präsenzzeit in<br />
der Einrichtung über eine 24-Stunden-Rufbereitschaft<br />
erreichbar sind.<br />
Das schafft Bedingungen, die weit<br />
über dem allgemein üblichen medizinischen<br />
Betreuungsstandard in<br />
Pflegeheimen liegen.<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
werden mit schwersten psychiatrischen<br />
Störungen aufgenommen.<br />
SEELISCHE GESUNDHEIT<br />
Fast jeder Dritte leidet einmal in<br />
seinem Leben an einer behandlungsbedürftigen<br />
psychischen<br />
Erkrankung. Experten nennen sie<br />
seit langem Volkskrankheiten.<br />
Erst in den letzten Jahren wurde<br />
das Problem zunehmend in der<br />
Gesellschaft diskutiert. Für mehr<br />
Aufklärung über das Thema sorgt<br />
auch der Internationale Tag der<br />
seelischen Gesundheit, 1992 von<br />
der World Federation for Mental<br />
Health mit Unterstützung der<br />
Weltgesundheitsorganisation ins<br />
ins Leben gerufen. Er findet wieder<br />
am 10.10.2013 statt.<br />
Auffällig ist, dass wahnhafte Störungen<br />
immer mehr zunehmen – und<br />
dass diese auch immer mehr jüngere<br />
Menschen betreffen. Wenn man<br />
Haus Radeland und Haus Havelstrand<br />
exakt benennen wollte, müsste<br />
man eigentlich von einer „Intensivstation<br />
der Psychiatrie sprechen<strong>“</strong>,<br />
so der behandelnde Psychiater.<br />
Durch die ärztliche Begleitung, eine<br />
angemessene, gesunde Ernährung,<br />
die viele Bewohnerinnen und Bewohner<br />
lange Zeit entbehrt haben,<br />
aber auch durch eine behutsame<br />
Einführung in die Therapie zuerst in<br />
Einzel-, später in Gruppenaktivitäten<br />
– wie gemeinsames Kochen, Malen,<br />
Musizieren, Gärtnern, Bewegung<br />
und Sport, Ausflüge und Reisen –<br />
werden die Menschen, die in Haus<br />
Radeland und Haus Havelstrand<br />
leben, allmählich wieder in die<br />
Lage versetzt, ihre Umwelt wahrzunehmen<br />
und einzuschätzen. „Sie<br />
erlangen ein Sicherheitsgefühl, eine<br />
Art Heimat<strong>“</strong>, sagt die zuständige<br />
Hausärztin.<br />
Sandra Müller<br />
Angehörigen-Akademie: Barbara Evers,<br />
Diplom-Psychologin und psychologische<br />
Psychotherapeutin, spricht über „Humor<br />
in der Psychiatrie<strong>“</strong>.<br />
Der Kontakt und die Zusammenarbeit<br />
mit den Angehörigen unserer<br />
Bewohner ist uns sehr wichtig, deshalb<br />
bieten wir verschiedene Veranstaltungen<br />
an, in denen wir informieren,<br />
Hilfeangebote unterbreiten<br />
und Raum für den Gedanken- und<br />
Erfahrungsaustausch untereinander<br />
schaffen.<br />
Angehörigen-Abende<br />
je Wohnetage zweimal im Jahr<br />
Vorträge<br />
In der 2011 gegründeten Angehörigen-Akademie<br />
der <strong>AGAPLESION</strong><br />
BETHANIEN DIAKONIE berichten<br />
erfahrene Experten aus der Praxis<br />
für die Praxis unter anderem über:<br />
• Humor in der Psychiatrie<br />
• Psychisch krank? Symptome erkennen<br />
und damit umgehen<br />
• Tiere als Therapie<br />
• Depression – oder etwas depri?<br />
• Depression oder Burn-out?<br />
• Schritte aus der Depression<br />
• Angststörungen – muss Angst<br />
immer eine Erkrankung sein?<br />
• Deeskalation im Pflegealltag mit<br />
psychisch kranken Menschen<br />
• Man kann nicht immer lächeln<br />
• Aggression in der Pflege<br />
• Hinlauftendenz – Wenn Menschen<br />
mit Demenz weglaufen<br />
• Begleiten bis zum Schluss –<br />
Wünsche erfüllen<br />
Der Dialog – Selbsthilfegruppe<br />
Jeder 1. Dienstag im Monat<br />
17:30 – 19:00 Uhr<br />
kostenfrei, ohne Anmeldung<br />
Offene Sprechstunde<br />
„Tiertherapie mit Alpakas<strong>“</strong><br />
Jeder 3. Mittwoch im Monat<br />
15:00 – 17:00 Uhr<br />
kostenfrei, ohne Anmeldung<br />
Aktuelle Themen und Termine unter<br />
www.bethanien-diakonie.de<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 27
Gerichtliche Unterbringung nach § 1906 BGB<br />
Wenn die ambulante Betreuung nicht ausreicht<br />
Manche Menschen sind psychisch<br />
so schwerwiegend erkrankt, dass<br />
sie eine besonders engmaschige Betreuung<br />
benötigen. Darüber hinaus<br />
stellen sie häufig eine Gefahr für<br />
sich selbst und/oder ihre Mitmenschen<br />
dar. In solchen Fällen ist die<br />
Gesellschaft gefordert. Die Bundesländer<br />
haben daher gesetzliche<br />
Grundlagen geschaffen, die es<br />
Betreuern und Ämtern erlauben,<br />
nach einer fundierten Begutachtung<br />
eine in der Regel befristete Unterbringung<br />
in einer dafür besonders<br />
spezialisierten stationären Pflegeeinrichtung<br />
zu veranlassen.<br />
Die Bewohnerinnen und Bewohner<br />
kommen aus den Akutstationen der<br />
psychiatrischen Krankenhäuser, aus<br />
dem Krankenhaus des Maßregelvollzugs,<br />
aus ambulanten Versorgungsstrukturen<br />
wie dem betreuten<br />
Einzelwohnen oder Wohngemeinschaften<br />
für psychisch Kranke, aber<br />
auch aus der Obdachlosigkeit.<br />
Haus Radeland bietet diesen Menschen<br />
ein wohnliches Ambiente und<br />
vielfältige Gesellschaftsräume wie<br />
gemütliche Wohnzimmer, moderne<br />
Gemeinschaftsküchen, Sport- und<br />
Fitnessräume, ein Wellnessbad,<br />
einen Festsaal sowie einen großen<br />
Garten. Überall im Haus und auf<br />
dem Grundstück können sich die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner frei<br />
bewegen.<br />
Durch eine intensive Betreuung und<br />
über den Tag verteilte Anleitungen,<br />
Ansprachen und Motivationshilfen<br />
erreichen wir, dass sich ihr Zustand<br />
stabilisiert und sie langsam Vertrauen<br />
zu unseren Therapeutinnen und<br />
Therapeuten, Pflegekräften und Psychologinnen<br />
aufbauen. Sie können<br />
jederzeit auch von sich aus in die<br />
psychologische Beratung kommen.<br />
Viel läuft über die Beziehungsarbeit.<br />
Die meisten Bewohner sind<br />
beim ersten Zusammentreffen sehr<br />
misstrauisch, aber ein offener, ehrlicher<br />
Umgang mit ihrer Erkrankung<br />
hat sich bewährt. Außerdem bieten<br />
wir an, den Kontakt zu Angehörigen<br />
und Bekannten neu aufzubauen.<br />
In halbjährlichen Fallgesprächen<br />
werden Ressourcen und Defizite<br />
der Bewohnerin oder des Bewohners<br />
immer wieder neu definiert.<br />
Nach den ersten Monaten können<br />
wir das Verhalten der Person einschätzen.<br />
Bei regelmäßiger Medikamenteneinnahme<br />
sind wahnhafte<br />
Störungen und Gefährdungen unter<br />
Kontrolle. Wenn sich der Betroffene<br />
durch das tägliche Training zudem<br />
an Absprachen und Regeln hält,<br />
kann der Unterbringungsbeschluss<br />
nach Beratung mit dem Betreuer,<br />
der Hausärztin und der Pflegedienstleitung<br />
aufgehoben werden.<br />
Ebenfalls im Team entscheiden wir,<br />
welche Therapien sinnvoll sind.<br />
Jeder wird in das tägliche Angebot<br />
eingebunden und findet eine sinnvolle<br />
Beschäftigung. Wichtig ist<br />
auch der regelmäßige Kontakt zur<br />
Außenwelt, um die Selbstständigkeit<br />
in dieser Umgebung zu üben:<br />
Gemeinsames Picknick am Kiesteich<br />
beim Besuch eines Fußballspiels,<br />
einem Ausflug in die Spandauer<br />
Altstadt, einem Spaziergang in der<br />
Gartenkolonie oder einer mehrtägigen<br />
Reise zum Beispiel an die<br />
Ostsee.<br />
Sandra Müller<br />
28 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Beruf & Karriere<br />
Berufe mit Perspektiven<br />
Die <strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN<br />
DIAKONIE bildet junge Berufsanfänger<br />
als Altenpfleger/in, Kauffrau/<br />
Kaufmann im Gesundheitswesen,<br />
Restaurantfachfrau/-fachmann oder<br />
Köchin/Koch aus. Sie ermöglicht zudem<br />
Berufstätigen und Wiedereinsteigern,<br />
die sich neu orientieren,<br />
den Pflegeberuf über den zweiten<br />
Bildungsweg zu erlernen. Außerdem<br />
fördert sie Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter durch regelmäßige<br />
Fortbildungen, den stetig steigenden<br />
Anforderungen in Pflege und<br />
Betreuung gewachsen zu bleiben.<br />
Ebenso unterstützt sie die Weiterqualifizierung<br />
– zum Beispiel zur/<br />
zum Fachkrankenpfleger/in für<br />
Psychiatrie, zur Wohnetagenleitung<br />
oder zur/zum Qualitätsmanagementbeauftragten.<br />
BERUFLICHE ENTWICKLUNGS-<br />
MÖGLICHKEITEN – EIN BEISPIEL<br />
sie in ihrer täglichen Arbeit <strong>schon</strong><br />
„aus dem Bauch raus richtig<strong>“</strong> gemacht<br />
hatte. „Ich bekam vor allem<br />
den fachlichen Hintergrund, um<br />
gegenüber meinen Mitarbeiterinnen<br />
argumentieren zu können,<strong>“</strong> erzählt<br />
sie. Und was schätzt die mittlerweile<br />
43-Jährige besonders an ihrem<br />
Beruf? „Die Dankbarkeit der Leute,<br />
egal wie krank sie sind. Wenn man<br />
selbst wertschätzend und freundlich<br />
ist, bekommt man sehr viel Bestätigung.<strong>“</strong><br />
VORAUSSETZUNGEN<br />
Die Gesundheitsbranche bietet vielfältige<br />
Karrieremöglichkeiten. Diese<br />
beginnt mit einem Studium (z. B.<br />
Medizin, Psychologie, Sozialwesen/<br />
Sozialpädagogik, Musikpädagogik/<br />
-therapie u. ä.) oder einer Berufsausbildung<br />
zur Krankenschwester<br />
bzw. zum Krankenpfleger, zur/zum<br />
Susanne Schneider spricht mit einem<br />
Bewohner des Wohnhauses Spandau<br />
Altenpfleger/in, Heilerziehungspfleger/in,<br />
Ergotherapeut/in usw. Voraussetzung<br />
aller Ausbildungswege<br />
ist ein erfolgreicher Schulabschluss,<br />
also die Allgemeine Hochschulreife<br />
(Abitur) oder das Fachabitur,<br />
der Mittlere Schulabschluss MSA<br />
(früher: Realschulabschluss), die<br />
Erweitere Berufsbildungsreife eBB<br />
oder die Berufsbildungsreife BB<br />
(früher: Hauptschulabschluss).<br />
Susanne Schneider kam als Quereinsteigerin<br />
Ende der 1990er Jahre<br />
eher zufällig zur Altenpflege. Die<br />
gelernte Köchin absolvierte während<br />
eines Erziehungsjahres ein<br />
Praktikum in einem Fachkrankenhaus<br />
für Geriatrie. Danach fand die<br />
junge Mutter eine Anstellung als<br />
Pflegehelferin im Haus Radeland.<br />
Mit dieser Position gab sich Susanne<br />
Schneider aber nicht zufrieden. 1998<br />
begann sie eine vierjährige berufsbegleitende<br />
Ausbildung zur Altenpflegerin<br />
und stieg bis zur Wohnetagenleiterin<br />
auf. Ihr Interesse, sich<br />
weiterzubilden, blieb ungebrochen.<br />
Von 2010 bis 2012 nahm sie an<br />
einer zweijährigen berufsbegleitenden<br />
Ausbildung zur „Fachkrankenschwester<br />
für Psychiatrie<strong>“</strong> am Sankt<br />
Hedwig-Krankenhaus teil, die ihr<br />
krankheitsbezogene Fachkenntnisse<br />
und Strategien vermittelte. Diese<br />
Ausbildung bestätigte Susanne<br />
Schneider aber auch in vielem, was<br />
Erfolgreich bestanden und übernommen<br />
Hausleiter Heiko Wiemer (links) und Pflegedienstleiter und Diakon Peter<br />
Sehmsdorf (rechts) gratulieren Ronny Ortmann und Janina Jonath zum<br />
Examen als Altenpfleger/in. Beide wurden daraufhin im Juni 2013 in eine<br />
unbefristete Anstellung übernommen. <strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN RADE-<br />
LAND beabsichtigt, zukünftig auch Heilerziehungspfleger/innen im eigenen<br />
Haus auszubilden.<br />
Katrin Hartenstein<br />
<strong>Sonderheft</strong> <strong>EINBLICK</strong> | 29
Menschen um uns<br />
„Endlich wieder ich<strong>“</strong><br />
Ralf Sommer* zog vor Kurzem aus<br />
dem Wohnhaus aus. Er hat den<br />
Schritt zurück in die Normalität<br />
geschafft. <strong>EINBLICK</strong> sprach mit<br />
dem 46-Jährigen über seine Zeit in<br />
Radeland und seine Zukunftspläne.<br />
Erinnern Sie sich noch an Ihre Anfangszeit<br />
in Radeland?<br />
Ich kam nach einer Krise direkt aus<br />
dem Krankenhaus hierher. Die erste<br />
Zeit im Haupthaus war geprägt von<br />
Unsicherheit, Ängsten und der neuen<br />
Wohnsituation. Allmählich gewöhnte<br />
ich mich an die Strukturen<br />
und fasste Vertrauen zu netten Pflegern<br />
und Schwestern. Die Kontakte<br />
zu einigen Bewohnern bestehen<br />
heute noch und sind mir wichtig.<br />
An welcher Beschäftigungstherapie<br />
haben Sie teilgenommen?<br />
An der Tischtennis- und der Abendgruppe,<br />
der Kochgruppe und der<br />
Gartengruppe. Dies kann ich jedem<br />
Bewohner empfehlen. In Radeland<br />
gibt es tolle Ergotherapiegruppen.<br />
Durch die regelmäßige Teilnahme<br />
verbesserte sich meine körperliche<br />
und seelische Belastbarkeit. Ich hatte<br />
wieder Lebensmut und wollte in<br />
ein eigenständigeres Leben zurück.<br />
Der erste Schritt dahin war mein<br />
Umzug in das Wohnhaus.<br />
Was veränderte sich dadurch?<br />
Die Eingewöhnungsphase gestaltete<br />
sich teilweise schwierig. Ich fand<br />
erst nach zwei Monaten Zugang<br />
zu den anderen Bewohnern des<br />
Wohnhauses. Parallel ging ich<br />
weiter zu den therapeutischen<br />
Angeboten im Haupthaus. Das<br />
eigenständige Leben im Wohnhaus<br />
hat meine hauswirtschaftlichen<br />
Fähigkeiten wieder aktiviert. Aber<br />
auch die Möglichkeit, jederzeit in<br />
meinem Einzelzimmer Ruhe zu finden,<br />
gab mir viel Kraft. Mit der Zeit<br />
fühlte ich mich aber nicht mehr<br />
ausreichend gefordert.<br />
Welche zusätzliche Herausforderung<br />
haben Sie gefunden?<br />
Der „Zuverdienst Spandau<strong>“</strong> bot mir<br />
an zwei bis drei Tagen in der Woche<br />
eine Tätigkeit in der Gartenarbeit<br />
an. Ich fühlte mich gebraucht.<br />
Nach eineinhalb Jahren im Wohnhaus<br />
haben Sie mit Ihrer Bezugspflegerin,<br />
der Hausärztin und<br />
Einsam oder gemeinsam?<br />
ihrem gesetzlichen Betreuer über<br />
Ihren Wunsch gesprochen, in eine<br />
eigene Wohnung zu ziehen.<br />
Der Wunsch nach einem selbstbestimmten<br />
Leben wurde immer stärker.<br />
Ich fand Unterstützung durch<br />
das Pflegepersonal im Wohnhaus.<br />
In den Fallbesprechungen wurden<br />
schrittweise Regeln für meine bevorstehende<br />
Selbstständigkeit formuliert.<br />
Das gab mir eine Richtung<br />
vor. Ich habe auch das Gespräch<br />
mit den Ärzten des Hauses gesucht.<br />
Sie unterstützten meinen Heilungsprozess.<br />
Nun habe ich eine eigene<br />
Wohnung und hoffe auf meine<br />
Zukunft.<br />
Sie haben sich noch einen weiteren<br />
Wunsch erfüllt.<br />
Sie meinen meinen neuen Motorroller.<br />
Ja, den habe ich mir vor vier<br />
Wochen gekauft. Damit bin ich<br />
mobiler und nicht mehr auf die<br />
öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen.<br />
Herr Sommer, wir wünschen Ihnen<br />
für Ihre Zukunft alles Gute.<br />
Das Gespräch führte Sandra Müller.<br />
Wer in das Haus Radeland einzieht,<br />
muss sich auf eine neue Umgebung<br />
und neue Menschen einlassen. Obwohl<br />
ein Umzug für psychisch Kranke<br />
eine noch weit größere Herausforderung<br />
darstellt als für gesunde<br />
Menschen, eröffnet er auch Chancen,<br />
neues Vertrauen zu erleben<br />
und neue Freunde zu finden.<br />
Haus Radeland verfügt über Einzel-<br />
und wenige Doppelzimmer.<br />
Auf den ersten Blick scheint das<br />
Einzel-zimmer die bessere Wahl,<br />
doch es gibt auch Bewohnerinnen<br />
und Bewohner, die sich bewusst<br />
für ein Doppelzimmer entscheiden,<br />
wie Heike* und Jutta*. Die beiden<br />
Frauen wohnten zuerst in getrennten<br />
Zimmern auf der gleichen<br />
Wohnetage, bis sie beschlossen, ein<br />
Zimmer zu teilen.<br />
Während Heike im Hofladen arbeitet,<br />
ist Jutta in der Besteckgruppe.<br />
So hat man sich beim Abendessen<br />
viel zu erzählen. Dasselbe gilt für<br />
ihre Freizeitaktivitäten: Jutta interessiert<br />
sich für hauswirtschaftliche<br />
Tätigkeiten, Heike geht lieber in die<br />
Disco oder zum Fußballspiel. Neben<br />
diesen Unterschieden gibt es viele<br />
gemeinsame Aktivitäten wie Cafébesuche<br />
oder Spaziergänge. Aber<br />
auch weniger beliebte Tätigkeiten<br />
wie das Aufräumen des Zimmers<br />
werden gemeinsam leichter erledigt.<br />
Die Freundschaft der beiden Frauen<br />
bewährt sich besonders, wenn krankheitsbedingte<br />
Schwierigkeiten im<br />
Alltag auftreten. Diese werden dann<br />
mit der Stärke der jeweils anderen<br />
überwunden.<br />
Rebecca Schwerdtfeger<br />
30 | <strong>EINBLICK</strong> <strong>Sonderheft</strong>
Seelsorge<br />
Seelsorge neben der Spur, in der Spur<br />
Es passiert immer wieder: Züge<br />
fahren, Züge verspäten sich und<br />
Züge entgleisen. Wenn auch nur<br />
ein Wagon aus der Spur gerät, kann<br />
der ganze Zug nicht weiterfahren,<br />
selbst wenn alle anderen Wagen<br />
einwandfrei auf dem Gleis verharren.<br />
So geht es auch manchen<br />
Menschen.<br />
„Neben-der-Spur-Sein<strong>“</strong> – mehr oder<br />
weniger dauerhaft aus der Spur<br />
geraten sind die Menschen, die in<br />
<strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN RADE-<br />
LAND wohnen und die ich als<br />
evangelischer Pfarrer und Seelsorger<br />
regelmäßig begleite. Es sind<br />
Menschen unterschiedlichster Bildung,<br />
Menschen jeden Alters und<br />
verschiedenster Religiosität – jeder<br />
ein unvergleichliches Individuum.<br />
Gemeinsam ist den Bewohnern<br />
jedoch Eines: Ein Teil ihres Lebenszuges<br />
ist durch Erkrankung wie<br />
Schizophrenie, Borderline oder bipolare<br />
Störungen „neben die Spur<strong>“</strong><br />
geraten. Man hält sie für „Irre<strong>“</strong>.<br />
Jedoch: Ein anderer Teil ihrer Persönlichkeit<br />
ist noch im richtigen<br />
Gleis, ist gesund, ist ansprechbar,<br />
hat gesunde Gedanken und Gefühle,<br />
mitunter auch hochfliegende<br />
Pläne. Natürlich ist es oft nicht<br />
einfach, die komischen, merkwürdigen,<br />
krankhaften Anteile auszuhalten<br />
und ihnen dabei nur so viel<br />
Beachtung zu geben, wie nötig ist;<br />
der „Wahnsinn<strong>“</strong> drängt selbige Anteile<br />
gern nach vorne – sie möchten<br />
beachtet werden. Dennoch: Es<br />
lohnt sich, den Persönlichkeitswaggon<br />
auf dem richtigen Gleis in den<br />
Blick zu nehmen; es lohnt sich für<br />
mich als Seelsorger, der gesunden<br />
Seite der Menschen Aufmerksamkeit<br />
zu schenken, indem ich die<br />
Bewohner wochentags besuche.<br />
Mit viel Geduld ist die Suche nach<br />
validen Spuren der Vergangenheit<br />
so gut wie immer erfolgreich.<br />
Genauso heilsam ist es, mit den<br />
Menschen neue Alltagswege zu<br />
entdecken und Schritte auf diesen<br />
Wegen mitzugehen. – Und das im<br />
Namen Gottes.<br />
Neben den auch in der Psychiatrie<br />
vorkommenden traurigen liturgischen<br />
Anlässen – wie Aussegnung<br />
am Totenbett und Trauerfeiern auf<br />
dem Friedhof – sind das zweite bedeutende<br />
Element der Seelsorge die<br />
wöchentlich gut besuchten Gottesdienste<br />
– mit vertrauter und neuer<br />
Musik, mit bekannten Texten und<br />
Wir haben unser Feld bestellt…<br />
„Zuhause in christlicher Geborgenheit<strong>“</strong><br />
– an der praktischen Umsetzung<br />
dieses Leitspruchs in unserer<br />
Einrichtung hatte den größten Anteil<br />
wohl niemand anderes als Pastor<br />
Karsten Mohr. Er bot Atempausen<br />
für die Mitarbeitenden an, leitete<br />
die Teamtage, gestaltete Andachten,<br />
war für die Seelsorge der Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter zuständig<br />
und für die Aussegnungen unserer<br />
verstorbenen Bewohnerinnen und<br />
Bewohner.<br />
Nun, im einhundertsten Gründungsjahr<br />
des Bethanien Sophienhauses<br />
und der Bethanien Diakonie, verabschiedet<br />
sich Pastor Mohr in den verdienten<br />
Ruhestand. Er hinterlässt<br />
neuen Gedanken, mit Bildern und<br />
Dingen zum Anfassen. Oftmals<br />
werden diese Gottesdienste ganz<br />
von allein zu lebhaften Mitmach-<br />
Gottesdiensten – einmal im Jahr<br />
sogar unter freiem Himmel.<br />
Pfarrer Stefan Kuhnert<br />
eine große Lücke. Wir werden<br />
gemeinsam versuchen, diese zu<br />
schließen. Die Angebote, die Pastor<br />
Mohr im Haus Radeland geschaffen<br />
hat, sollen fortbestehen.<br />
In Zukunft werde ich als Diakon<br />
die Atempausen für die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter und die Aussegnungen<br />
übernehmen. Sicher kann<br />
ich Pastor Mohr nicht ersetzen, aber<br />
es wird weiterhin Angebote geben,<br />
die das christliche Profil unseres<br />
Hauses unterstreichen. Alle Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter sind<br />
herzlich eingeladen, sich mit Ideen<br />
und Taten daran zu beteiligen.<br />
Peter Sehmsdorf, Diakon<br />
IMPRESSUM<br />
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Amsberg, Christian Lietzmann, privat; Layout: News & Media, Berlin; © <strong>AGAPLESION</strong> BETHANIEN DIAKONIE, Juni 2013. Nachdruck, auch auszugsweise,<br />
sowie Übernahme auf Datenträger aller Art oder fotomechanische Wiedergabe ist untersagt. *Alle Bewohnernamen wurden von der Redaktion geändert.<br />
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