Band II/ 2013 (7mb) - critica – zeitschrift für philosophie & kunsttheorie
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CRITICA-ZPK<br />
<strong>II</strong>/ <strong>2013</strong><br />
Seins“ 17 der Sprache.<br />
Die Moderne beginnt in jenem Moment, als dieses funktionale<br />
Verhältnis von Dingen und Zeichen brüchig<br />
wird. Die sich in diesem Umbruch vollziehende „ungeheure<br />
Reorganisation der Kultur“ bedeutet allerdings nicht,<br />
„dass die Vernunft Fortschritte gemacht hat, sondern dass die<br />
Seinsweise der Dinge und der Ordnung grundlegend verändert<br />
worden ist“ 18 . Im aufgehenden Wissen der Moderne hüllt<br />
sich der Thron des Souveräns der klassischen Ordnung,<br />
nämlich das sprechende Subjekt – der Mensch – in eine<br />
fundamentale Opazität, denn dem Wissen der Moderne<br />
zeigt sich die Sprache, die noch im klassischen Diskurs<br />
vollständig transparent aufgetreten war, fortan als<br />
etwas, das nicht vom sprechenden Subjekt kontrolliert<br />
und funktionalisiert werden kann, ohne die notwendige<br />
Inklusion, „dass wir vor dem geringsten gesprochenen Wort<br />
bereits durch die Sprache beherrscht und von ihr durchdringen<br />
sind“ 19 . Dieser Umbruch in der europäischen Wissensgeschichte<br />
macht es unmöglich, die klassische Ordnung<br />
aufrecht zu erhalten. Das sprechende Subjekt verliert<br />
die Macht über die Sprache. Die Sprache kann künftig<br />
nicht mehr als Instrument des Denkens fungieren, sondern<br />
bestimmt den Menschen in seinem Denken.<br />
Diese fundamentale Opazität der Sprache aber ist es, die<br />
sie zum bevorzugten Objekt wissenschaftlicher Untersuchung<br />
im Wissen der Moderne machen wird. Während<br />
das Wissen der Klassik, das sich vom Raum des<br />
Wissens der Renaissance abzeichnet, „weil die Sprache,<br />
statt als materielle Schrift der Dinge zu existieren, ihren Raum<br />
nur noch in der allgemeinen Herrschaft der repräsentativen<br />
Zeichen finden wird“ 20 , in der Funktionalisierung der Repräsentation<br />
sogar zu verschwinden droht, ist das ganze<br />
moderne Denken nun nämlich darum bemüht, die Einheit<br />
der Sprache zu denken. Dies gelingt der Moderne<br />
jedoch nur, indem sie die „Nivellierung der Sprache, die sie<br />
auf den reinen Status eines Objekts bringt“ 21 , die die Sprache<br />
selbst zu einem Ding unter Dingen manifestiert, „nichts<br />
anderes mehr als ein besonderer Fall der Repräsentation“ 22 , auf<br />
drei Weisen kompensiert: zum einen durch die Suche<br />
nach einer außersprachlichen Logik, die jedes Denken<br />
und Sprechen bestimmt, ohne dabei selbst sprachlich<br />
zu sein, „mit dem Ziel, jede eventuelle Sprache zu kontrollieren<br />
und durch das Gesetz dessen, was ihr zu sagen möglich ist, zu<br />
17 ebd.<br />
18 ebd. , S. 25.<br />
19 ebd. , S. 364.<br />
20 ebd. , S. 75.<br />
21 ebd. , S. 361.<br />
22 ebd. , S. 75.<br />
überhängen“ 23 , zum anderen durch die Zwillingsgestalten<br />
der Philologie und Literatur. Die Philologie ist die<br />
Exegese des Diskurses, „Analyse dessen, was in der Tiefe des<br />
Diskurses gesagt wird“ 24 , sie untersucht die Sprache auf die<br />
Vielfalt ihrer Bedeutungsmöglichkeiten und beleuchtet<br />
all das, „was ohne sie in ihr gesagt wird“ 25 . Philologie, und<br />
insbesondere auch die Literatur, sind folglich Erscheinungen<br />
des modernen Wissens. Archäologisch muss<br />
die Literatur also nicht als ahistorische Entität begriffen<br />
werden, die sich in verschiedenen Epochen unterschiedlich<br />
ausprägt, sondern selbst als ein historisches<br />
Produkt einer komplexen diskursiven Praxis.<br />
Die Literatur ist die „bedeutendste und zugleich<br />
unerwartetste“ 26 Kompensationsform der Nivellierung<br />
der Sprache: obwohl sie als vollständig moderne Erscheinung<br />
auftritt, ereignet sich in ihrem Raum eine<br />
Brüchigkeit der modernen Wissensordnung, „durch sie<br />
glänzt das Sein der Sprache erneut an den Grenzen der abendländischen<br />
Kultur und in ihrem Herzen, denn sie ist seit dem<br />
sechszehnten Jahrhundert das, was ihr am fremdesten ist“ 27 . Sie<br />
glänzt an den Grenzen der Wissensordnung, verweist dort<br />
auf mögliche Heterotopien, und markiert epistemische<br />
Brüche, worin sie sich als transgressiv erweist. Mit dem<br />
Beginn der Moderne „stellt die Literatur die Sprache in ihrem<br />
Sein wieder ans Licht, aber nicht so, wie noch die Sprache<br />
am Ende der Renaissance erschien“ 28 , die Literatur tritt vielmehr<br />
als eine Sprache auf, die sich entschieden intransitiv<br />
verhält: sie wird „künftig ohne Anfang, ohne Endpunkt,<br />
und ohne Verheißung wachsen“ 29 , und dabei beständig nur<br />
auf den eigenen Raum der Zeichen verweisen. Nicht<br />
nur den hermeneutisch und semiologisch verfahrenden<br />
Literaturwissenschaften, die ein eigentliches Wesen<br />
der Literatur aufzufinden suchen, bleibt die Literatur<br />
als Phänomen des modernen Wissens verborgen, denn<br />
„solche Arten der Entschlüsselung gehören zur klassischen Situation<br />
der Sprache, derjenigen, die im siebzehnten Jahrhundert<br />
geherrscht hat, als das System der Zeichen binär wurde und die<br />
Bedeutung in der Form der Repräsentation reflektiert wurde“ 30 –<br />
die Literatur verschließt sich dem Denken der Moderne<br />
insgesamt. Dem Wissen der Moderne verschließt sich<br />
die Literatur als etwas Fremdes, und doch „erscheint die<br />
Literatur immer mehr als das, was gedacht werden muss“ 31 – sie<br />
23 ebd. , S. 364.<br />
24 ebd.<br />
25 ebd.<br />
26 ebd. , S. 365.<br />
27 ebd. , S. 77.<br />
28 ebd.<br />
29 ebd.<br />
30 ebd. , S. 80.<br />
31 ebd. , S. 77.<br />
18