Band II/ 2013 (7mb) - critica – zeitschrift für philosophie & kunsttheorie
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CRITICA-ZPK<br />
<strong>II</strong>/ <strong>2013</strong><br />
Raum begegnen, „außer in der immateriellen Stimme, die ihre<br />
Aufzählung vollzieht, außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt.<br />
Wo könnten sie nebeneinandertreten außer in der Ortlosigkeit<br />
der Sprache?“ 55 . Borges‘ Erzählung entwirft also einen<br />
Raum, in dem sprachliche Dinge geordnet werden, die<br />
wir ihrem ontologischen Status nach niemals nebeneinander<br />
– im selben Raum – denken können. Dieser Raum<br />
liegt an den Grenzen des Denkens. 56<br />
Im Raum der Literatur können sich diese eigentlichen<br />
Denk-Unmöglichkeiten materialisieren. Durch sie<br />
leuchtet der ontologische Status der Grenzen des Denkens<br />
auf, sie erst offenbart die Faktizität dieser Denk-<br />
Grenzen, welche von der Archäologie auf die Bedingungen<br />
ihrer Möglichkeit und Unmöglichkeit hin befragt<br />
werden. Deren Ausgrabungen entdecken die Literatur<br />
als eine spezifische Seinsweise der Sprache in der Moderne,<br />
welche von einem vom Zeichen-Ding-Verhältnis<br />
bereinigten, einem intransitiven, von einem leeren<br />
Raum aus das Wissen der Moderne ständig untergräbt<br />
und unterhöhlt. Diese Ortlosigkeit der Sprache bedeutet<br />
eine Räumlichkeit des Sprechens, die außerhalb des<br />
Raumes möglicher Sprechakte modernen Wissens liegt.<br />
Darum wird sie zur eminenten Aufgabe des modernen<br />
Denkens, zu dem, „was gedacht werden muss“ 57 , aber nicht<br />
innerhalb der Dispositionen des modernen Wissens gedacht<br />
werden kann – sie wird zu einem Denken des Außen.<br />
Die Oszillation der Literatur an den Grenzen des Denkens<br />
verweist auf einen möglichen Raum außerhalb<br />
der Ordnung, verweist auf – innerhalb einer Ordnung<br />
– unmöglich denkbare Dinge, und stellt so den ontologischen<br />
Status der eigenen Ordnung, und somit auch die<br />
Selbstverständlichkeit der eigenen Ordnung, die uns als<br />
bereits durch die Dinge gegeben erscheint, entscheidend<br />
in Frage. 58<br />
55 ebd. , S. 19.<br />
56 Die Bedeutung der Heterotopien bezeugt vielleicht entscheidend<br />
die Konsistenz des Gesamtwerks Foucaults – Psychiatrie, Wahnsinn,<br />
Gefängnis, Sexualität, all diesen Analysegegenständen liegt der<br />
gemeinsame heterotopische Charakter zugrunde.<br />
57 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der<br />
Humanwissenschaften. , 1. Aufl. , 21. Nachdr. , Frankfurt am Main<br />
2009, Suhrkamp, S. 77.<br />
58 Die Rede von einem „Außen“, das den Sprachmodus der<br />
Repräsentation unterläuft, und an seinem eigenen Ort einen<br />
neuen Raum, ein „Netz“, eröffnet, findet sich bereits im<br />
literaturtheoretischen Essay „Das Denken des Draußen“ (frz. .<br />
„La pensée du dehors“, (1966)): „[…], vielmehr handelt es sich [bei der<br />
Literatur] um einen Durchgang nach „Draußen“: das Sprechen entzieht sich<br />
der Seinsweise des Diskurses – das heißt der Dynastie der Darstellung –, und<br />
das literarische Wort entwickelt sich aus sich selbst heraus und bildet so ein<br />
Netz, in dem jeder Punkt, von den anderen unterschieden, entfernt sogar von<br />
den nächstliegenden, im Verhältnis zu allen anderen in einem Raum steht, der<br />
sie zugleich aufnimmt und trennt..“ (Michel Foucault, „Das Denken Des<br />
Draußen“, in: „Schriften zur Literatur“, Frankfurt am Main, Fischer,<br />
1988, S. 132.)<br />
4. „In der Ortlosigkeit der Sprache“. Der leere Raum.<br />
In der Literatur erscheint das seit dem Ende der Renaissance<br />
vergessene Sein der Sprache wieder. Während<br />
die Ähnlichkeit als Konjunktion zwischen Zeichen<br />
und Bezeichnetem stand, in ihr „das rätselhafte, monotone,<br />
obstinate, primitive Sein der Zeichen in einer unendlichen<br />
Dispersion“ 59 schillerte, „war die Sprache ein absolut sicheres<br />
und wahres Zeichen der Dinge, weil sie ihnen ähnelte“ 60 – jedoch<br />
befand sich das, was die Literatur in der Moderne<br />
sein wird, selbst noch jenseits der Wissensmöglichkeiten,<br />
sie konnte gar nicht existieren. Erst die Klassik und<br />
ihr binäres Zeichensystem, die Entfernung der Ähnlichkeit<br />
aus dem Verhältnis von Wörtern und Dingen, diese<br />
„ungeheure Reorganisation der Kultur“ 61 , haben letztlich<br />
die Literatur epistemisch möglich gemacht. Angesichts<br />
des Ereignisses der Literatur lässt sich folgerichtig bemerken,<br />
„dass die ‚Literatur‘, so wie sie sich gebildet und als<br />
solche an der Schwelle des modernen Zeitalters sich bezeichnet<br />
hat, das Wiedererscheinen des lebendigen Seins der Sprache dort<br />
offenbart, wo man es nicht erwartet hätte“ 62 – unerwartet ist<br />
jenes Wiedererscheinen der Sprache als Literatur auch<br />
deshalb, weil dies Ereignis zwar epistemisch möglich<br />
wurde, sich aber nicht notwendig ereignen musste.<br />
Das „lebendige Sein der Sprache“ 63 kann an dieser Stelle<br />
missverstanden werden als eine nicht-historische Entität,<br />
als ein Phänomen, das vor der Geschichte und vor<br />
den Veränderungen der Wissensdispositionen steht, das<br />
unabhängig von der jeweiligen Episteme existiert. 64 Dies<br />
wäre inkonsistent mit den Entdeckungen der Archäologie,<br />
die Phänomene des Wissens als diskursiv-geprägte<br />
Formationen begreifen, als genetische Produkte der<br />
Episteme erkennen. Dem kann entgegnet werden, dass<br />
der archäologische Begriff von Literatur als Produkt<br />
einer komplexen historischen Genetik keinesfalls bedeutet,<br />
dass die Produkte keinen Realitätsstatus innerhalb<br />
dieses historischen Praxisbezugs haben, noch dass<br />
die Produkte in den historischen Konstellationen einer<br />
historischen Einmaligkeit unterliegen. Vielmehr muss<br />
davon ausgegangen werden, dass es die Möglichkeit der<br />
Wiederholung dieser komplexen historischen Konstellationen<br />
und der sich anschließenden Genesen gibt. Das<br />
59 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der<br />
Humanwissenschaften. , 1. Aufl. , 21. Nachdr. , Frankfurt am Main<br />
2009, Suhrkamp, S. 76.<br />
60 ebd. , S. 67.<br />
61 ebd. , S. 76.<br />
62 ebd.<br />
63 ebd.<br />
64 Diesen Vorwurf erhebt u. A. Stefan Wunderlich in „Michel<br />
Foucault und die Frage der Literatur. Beitrag zu einer Archäologie<br />
poststrukturalistischen Denkens“, Frankfurt am Main 2009. , S. 210f.<br />
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