Band II/ 2013 (7mb) - critica – zeitschrift für philosophie & kunsttheorie
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CRITICA-ZPK<br />
<strong>II</strong>/ <strong>2013</strong><br />
drungen, das Ungedachte zu denken“ 84 , und dies Ungedachte<br />
des Menschen erscheint dem Wissen der Moderne als<br />
bereits sprachlich vor-konstituiert: „Kann ich in der Tat sagen,<br />
dass ich diese Sprache bin, die ich spreche und die in mein<br />
Denken so weit hineingleitet, daß es in ihr das System all seiner<br />
Möglichkeiten findet, das aber nur in der Schwere der Sedimentierungen<br />
existiert, die es nie vollständig aktualisieren können<br />
wird?“ 85 Die tiefe und weite Ummantelung des Menschen<br />
durch die sprachlichen Sedimentierungen beunruhigt<br />
dessen Konstitution und hält diese fest in einem stets<br />
prekären Zustand. Die Sprache, und dabei insbesondere<br />
die Literatur als Seinsweise der Sprache in der Moderne,<br />
drängt als das Andere, als das genuin Nicht-Menschliche<br />
vom Außen in das Zentrum des Wissens, und wird<br />
so zur unausweichlichen Aufgabe des Denkens.<br />
Die Humanwissenschaften versuchen das Ungedachte<br />
des Menschen in dessen Konstitution selbst einzuholen,<br />
um Licht an den Ort zu bringen, der für sie jenes „Stück<br />
Nacht“ 86 darstellt, und der seine Zentrierung in Frage<br />
stellt. Das Denken der Moderne wendet sich darum in<br />
die notwendige multiple Selbstuntersuchung, in dessen<br />
Vollzug die Position des Menschen in Zentrum des Denkens<br />
gefestigt werden soll, „den Schleier des Unbewussten<br />
zu lüften, sich in seinem Schweigen zu absorbieren oder das Ohr<br />
auf sein unbegrenztes Gemurmel zu richten“ 87 . Der Schleier ist<br />
das, was nicht der Mensch selbst ist, aber immer in seinem<br />
Rücken operieren muss, wenn er als Zentrum des<br />
Wissens gedacht wird. Das Gemurmel jedoch ist die sprechende<br />
Oberfläche des leeren Raumes, auf die sich das<br />
Ohr legen und dessen Rauschen aufnehmen kann. Das<br />
Gemurmel ist das störende Hintergrundrauschen des<br />
Diskurses, in dessen Raunen sich Wörter ohne diskursive<br />
Vorprägungen formieren. Aus ihrem Rauschen erhebt<br />
sich die Literatur, sie ist ihre Quelle und Herd, aus<br />
ihr steigt sie auf als jene „Sprache ohne Anfang, ohne Endpunkt<br />
und ohne Verheißung“ 88 . Dies Gemurmel ist es und<br />
das Lauschen auf diesen anderen Raum des Rauschens,<br />
was die Literatur an die Grenzen des Wissens der Moderne<br />
führt: denn die Stimmen des Gemurmels sind<br />
nicht die Stimmen des Menschen, wie sich das moderne<br />
Wissen um ihn zentriert, sondern die vielen Stimmen<br />
des Anderen, sie bilden einen Raum ohne den Menschen. 89<br />
84 ebd. , S. 395.<br />
85 ebd. , S. 391.<br />
86 ebd. , S. 393.<br />
87 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der<br />
Humanwissenschaften. , 1. Aufl. , 21. Nachdr. , Frankfurt am Main<br />
2009, Suhrkamp, S. 394.<br />
88 ebd. , S. 76.<br />
89 Die Rede vom „Gemurmel“ tritt bereits in Wahnsinn und Gesellschaft<br />
(frz.: „Folie et déraison. Histoire de la folie à l‘âge classique“, 1961.) auf. Dort<br />
Während das Rauschen des Gemurmels den verstörenden<br />
Charakter der Unendlichkeit annimmt, tritt der<br />
Konfiguration der Zentrierung um den Menschen in der<br />
Begegnung mit der Literatur und dessen leeren Raum<br />
mit erneuter Vehemenz eine fundamentale Faktizität<br />
vor Augen, um die herum sich das moderne Wissen synchron<br />
gruppiert, nämlich dessen eigenes umgekehrtes<br />
Schicksal: „dass der Mensch ‚endlich‘ ist und dass beim Erreichen<br />
des Gipfels jeden möglichen Sprechens er nicht zum Zentrum<br />
seiner selbst gelangt, sondern zur Grenze dessen, was ihn<br />
einschließt: zu jenem Gebiet, wo der Tod weilt, wo das Denken<br />
erlischt“ 90 . In dieser Konfrontation mit dem endlichen<br />
Subjekt bemüht sich die Analytik der Endlichkeit im modernen<br />
Wissen unablässig, den transzendentalen Status<br />
des Menschen als sprechendes Subjekt zu erhalten. Die<br />
Sprache als Literatur untergräbt und unterhöhlt diesen<br />
Status jedoch vom leeren Raum aus. Im Hinübertreten<br />
in den leeren Raum muss das Denken der Wissensordnung<br />
mit der Zentrierung um den Menschen der Möglichkeit<br />
seines eigenen Erlöschens begegnen, weil hier<br />
die Ruinen anderer, bereits erloschener Wissensordnungen<br />
sichtbar werden. Der transgressive Charakter<br />
der Literatur bezeugt in seiner Dokumentation der Brüchigkeit<br />
von Wissen gleichsam auch die Historizität und<br />
Endlichkeit des Menschen und beunruhigt die moderne<br />
Subjektkonstitution, deren notwendige Bedingung<br />
transzendentale Kategorien des Menschen sind, mit der<br />
Verheißung seines möglichen Todes.<br />
In der Literatur gelangt das Andere – das Nicht-Menschliche<br />
– zur souveränen Herrschaft. Die Literatur führt<br />
den Menschen entlang der Grenzen seines Denkens<br />
und zu der Begegnung mit dessen Endlichkeit und der<br />
Möglichkeit seines eigenen Todes. Diese Möglichkeit des<br />
Todes ließe sich auch so begreifen: Aus den unendlichen<br />
Zeichenketten des leeren Raumes spiegelt sich diametral<br />
die Endlichkeit des Anderen dieses Raumes, und dieses<br />
Andere ist von diesem Raum aus gesehen der Mensch.<br />
Diese beunruhigende Erfahrung an den Grenzen des<br />
Denkens ermöglicht erst die radikale Intransitivität der<br />
wird gesprochen vom „Gemurmel dunkler Insekten“, welches „von der<br />
Sprache der Vernunft und den Versprechungen der Zeit trennt“. (Foucault,<br />
Michel: „Wahnsinn und Gesellschaft“, Frankfurt am Main 1973,<br />
Suhrkamp, S. 13) Zentrale Gedanken aus Die Ordnung der Dinge werden<br />
hier bereits angekündigt, oder sogar in verwandten Formulierungen<br />
vorweggenommen: „Die Fülle der Geschichte ist nur in dem leeren und<br />
zugleich bevölkerten Raum all jener Wörter ohne Sprache möglich, die einen<br />
tauben Lärm denjenigen hören lassen, der sein Ohr leiht, einen tauben Lärm von<br />
unterhalb der Geschichte, das obstinate Gemurmel einer Sprache, die von allein<br />
spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner, […].“ (S. 12)<br />
90 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der<br />
Humanwissenschaften. , 1. Aufl. , 21. Nachdr. , Frankfurt am Main<br />
2009, Suhrkamp, S. 458.<br />
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