Band II/ 2013 (7mb) - critica – zeitschrift für philosophie & kunsttheorie
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CRITICA-ZPK<br />
<strong>II</strong>/ <strong>2013</strong><br />
stellt sich auf am Außen des Wissens und wird so für die<br />
Moderne zur Aufgabe des Denkens.<br />
2. Intransitivität und Transgressivität.<br />
Die Ordnung der Dinge greift vielfach auf literarische Beispiele<br />
zurück, die zeitlich nicht zur Moderne gehören.<br />
So markiert Don Quichotte von Miguel de Cervantes den<br />
epistemischen Bruch zwischen Renaissance und Klassik<br />
– der Held des Romans versucht, die Ordnung der Renaissance<br />
auf die Welt zu applizieren, indem er überall<br />
vermeintliche Ähnlichkeiten entdeckt, „Schlösser in den<br />
Herbergen und Damen in den Bauernmädchen entschlüsselt“ 32 ,<br />
jedoch „enden die alten Spiele der Ähnlichkeit und der Zeichen,<br />
es knüpfen sich bereits neue Beziehungen“ 33 , die Welt befindet<br />
sich bereits im Umbruch zur Klassik. Die analoge Inkarnation<br />
des epistemischen Bruchs zum Ende der Klassik<br />
findet sich gleichsam in einem sprachlichen Werk, nämlich<br />
dem Werk De Sades. Während Don Quichotte, im<br />
Umbruch von Renaissance zu Klassik, „von Ähnlichkeit zu<br />
Ähnlichkeit durch die gemischten Wege der Welt und der Bücher<br />
vorwärtszuschreiten glaubte, sich aber im Labyrinth seiner eigenen<br />
Repräsentation verrannte“ 34 , wendet das Werk De Sades<br />
die Repräsentation gegen sich selbst. Es erstellt eine<br />
Ordnung der Körperlichkeit, der Folter, der Sexualität,<br />
bewegt sich dabei aber ganz im Raum der klassischen<br />
Repräsentation, denn „diese Lüste werden ohne Rückstand in<br />
die Repräsentation aufgenommen, die sie vernünftig in Diskurs<br />
bringt“ 35 . Das Werk De Sade entfaltet zwar „während der<br />
ganzen Begierden, Gewalttätigkeiten, Wildheiten und des Todes<br />
das glitzernde Bild der Repräsentation“ 36 , doch manifestiert<br />
es die Mechanik der Repräsentation so lückenlos und<br />
unumschränkt, indem es „diese Zeremonie auf das genaueste<br />
Maß zurückbringt“ 37 , dass es „sie ins Unendliche verlängert“ 38<br />
– und schließlich die „Mächtigkeit des Repräsentierten“ 39<br />
schwächt. An dieser Grenze des klassischen Wissens<br />
setzt fortan ein neuer Raum an. Was bisher geschwiegen<br />
hatte, was jenseits der Grenzen des Wissens lag,<br />
das wird fortan „unterhalb der Repräsentation eine immense,<br />
schattige Schicht ausbreiten“ 40 . Vor diesem Raum muss die<br />
Sprache der Repräsentation in ein Schweigen zurückweichen<br />
– das Eindringen und Ausfüllen dieses Raumes<br />
32 ebd. , S. 262.<br />
33 ebd. , S. 82.<br />
34 ebd. , S. 263.<br />
35 ebd.<br />
36 ebd.<br />
37 ebd.<br />
38 ebd.<br />
39 ebd.<br />
40 ebd. , S. 264.<br />
mittels ihrer Diskursivität ist hier nicht möglich.<br />
Es kann hier die Frage aufgeworfen werden, welche Rolle<br />
die Literatur als eine der Seinsweisen der Sprache<br />
im Wandel der Episteme genau übernimmt, was ihre<br />
Funktion im Ereignis der Wissensdiskontinuität darstellt.<br />
Wahrscheinlich muss die Literatur weniger als<br />
handelnder Akteur begriffen werden, als historisches<br />
„Subjekt“, sondern vielmehr als etwas ganz Anderes: als<br />
spezifischer Raum, in dem sich der Wandel des Wissens<br />
vollziehen kann. Begreift man den Wandel der Wissensordnungen<br />
nicht als zeitlich, sondern als räumlich, verstünde<br />
man also Renaissance, Klassik und Moderne als<br />
nebeneinanderliegende, horizontale Räume des Wissens<br />
und nicht als zeitliche Abschnitte, so wäre es dann<br />
auch möglich, proto-moderne Werke wie Don Quichotte<br />
oder Juliette, die zeitlich nicht in der Moderne agieren,<br />
dem Raum des Wissens der Moderne und damit der Literatur<br />
zuzuordnen. 41<br />
Die Transgressivität der Literatur als Aspekt der Räumlichkeit<br />
der Sprache besteht nun in zweierlei Hinsicht:<br />
einerseits im Akt des Grenz-Ziehens selbst, des Aufstellens<br />
der Grenzmarken, hinter die eine Wissensordnung<br />
nicht gelangen kann, und andererseits im Entwurf eines<br />
neuen Raumes. Die Potentialität eines anderen Raumes<br />
führt der Wissensordnung gleichsam die eigene Historizität<br />
und die eigene Endlichkeit vor, und damit die eigene<br />
Brüchigkeit. Es war bereits überraschend, dass die<br />
Literatur, die von der Literaturwissenschaft weitestgehend<br />
als ästhetisches Phänomen untersucht wird, in der<br />
archäologischen Untersuchung als ein Phänomen des<br />
Wissens begriffen werden muss. Doch kommt der Literatur<br />
in dieser transgressiven Charakterisierung noch<br />
mehr zu: Es ist die Sprache als Literatur, die das Wissen<br />
einer Episteme subversiv herausfordert. „Beunruhigende<br />
Heterotopien“ 42 bleiben dort zurück, wo die Sprache als Literatur<br />
auf die Grenzen des durch die Wissens-Ordnung<br />
erfahrbaren Raumes ihre zeugenden Finger hebt, wo sie<br />
41 Eine Beschäftigung mit der zeitlichen Einordnung des Erscheinens<br />
der Literatur findet sich bereits im Essay Le langage à l’infini (1963),<br />
in welchem eine Unterscheidung zwischen „sprachlichem Werk“<br />
und „Literatur“ vorgenommen wird. Diese Unterscheidung findet<br />
sich in Die Ordnung der Dinge so nicht. Zwar ergibt sich das Problem,<br />
dass Don Quichotte oder Juliette – die nach der Unterscheidung von Le<br />
langage à l’infini dann „sprachliche Werke“ wären – weitestgehend aber<br />
auch Elemente dessen aufweisen, was die Literatur in der Moderne<br />
auszeichnen wird, selbst aber zeitlich nicht im Wissen der Moderne<br />
agieren. Jedoch besteht dieses Problem nicht, wenn – wie hier<br />
vorgeschlagen – Wissen räumlich gedacht wird.<br />
42 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der<br />
Humanwissenschaften. , 1. Aufl. , 21. Nachdr. , Frankfurt am Main<br />
2009, Suhrkamp, vgl. S. 20.<br />
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