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Mit den Ohren sehen Kirchenoase Rosenberg ... - Der Gallispitz

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gallispitz 3|13<br />

Thema<br />

7<br />

Stellen Sie sich vor, Sie seien in einem<br />

Club. Sie lehnen an der Wand<br />

und trinken ein Bier. Am anderen<br />

Ende des Raumes befindet sich eine Bar.<br />

Sie können hören, wie sich eine Frau<br />

eine Cola bestellt. Die Dezibel-Anzeige<br />

im Raum schwankt zwischen 65 und<br />

70 Dezibel. Auf einmal jagt die Zahl in<br />

die Höhe, auf knapp 100 Dezibel. Nur<br />

wenige Personen zucken beim pfeifen<strong>den</strong><br />

Soundcheck zusammen. Weiterhin<br />

ist nur ein ruhiges Gemurmel zu hören.<br />

Wissen Sie, wo Sie sich befin<strong>den</strong>? Herzlich<br />

willkommen beim Deaf Slam! Dem<br />

Poetry Slam der Gehörlosen.<br />

<strong>Mit</strong>ten im Club steht Andreas Juon,<br />

Slammer, Gebär<strong>den</strong>sprachlehrer und geeaf<br />

Slam im Albani Music Club. bild matija zalatel<br />

hörlos. Er nickt, gestikuliert, hört wieder<br />

zu, gebärdet wieder und begrüsst schon<br />

<strong>den</strong> nächsten Bekannten. Er gebärdet<br />

unglaublich schnell. Seine Gebär<strong>den</strong><br />

sind aber vollkommen deutlich, sauber<br />

ausgeführt und auch wenn ich ihn in<br />

dieser Sprache nicht verstehe, scheint<br />

er sich sehr klar auszudrücken und präzise<br />

zu sprechen. Bestimmt sagen seine<br />

Freunde von ihm, dass er ein kommunikativer<br />

Mensch sei und sich gut ausdrücken<br />

könne.<br />

Simultanübersetzer für die Hören<strong>den</strong><br />

An diesem Abend, an dem der 10. Deaf<br />

Slam im Albani Club Winterthur stattfindet,<br />

tritt Andreas Juon als siebenter<br />

auf. Insgesamt zeigen neun Slammer<br />

und eine Slammerin ihre grandiose visuelle<br />

Darstellungskraft in Form von<br />

Gebär<strong>den</strong>, Gestik, Bewegungen, Blicken<br />

und Körpersprache. Die Geschichte kann<br />

zum Beispiel witzig, abstrakt, poetisch,<br />

wild oder dichterisch erzählt wer<strong>den</strong>. Jeder<br />

Slammer darf sein Können während<br />

sechs Minuten zeigen. Zwei Simultanübersetzerinnen<br />

sorgen dafür, dass<br />

auch Hörende, die der Gebär<strong>den</strong>sprache<br />

nicht mächtig sind, dem Auftritt auf der<br />

Bühne folgen können. <strong>Der</strong> Sieger wird<br />

per SMS-Voting ermittelt und erhält als<br />

Preis die übliche Flasche Whisky. Vor<br />

der Bühne befin<strong>den</strong> sich kleine Hocker<br />

zum Sitzen. Auf einigen liegt ein Zettel<br />

mit der Aufschrift «Reserviert Usher».<br />

Was damit gemeint ist, verstehe ich aber<br />

nicht.<br />

Die Themen der Slammer sind vielfältig:<br />

So wird beispielsweise in einem<br />

Slam das Geheimnis des Appenzeller<br />

Käses gelüftet (die Haare von Muammar<br />

Gaddafi machen <strong>den</strong> einzigartigen Geschmack<br />

aus), über die weite Reise eines<br />

Fünf-Franken-Stücks berichtet und wie<br />

es sich dabei anfühlt, oder eine Parodie<br />

auf das Cochlea Implantat gehalten, eine<br />

Hörprothese, die hinterm Ohr unter die<br />

Haut eingesetzt wird.<br />

Wie spreche ich mit Gehörlosen?<br />

Andreas Juon, mit Slammer-Namen<br />

«Gägi», hat für unser Gespräch einen<br />

Dolmetscher bestellt. Es ist eine ungewohnte<br />

und spannende Gesprächssituation.<br />

Rechts von mir höre ich in Lauten,<br />

was ich vor mir in Gebär<strong>den</strong> sehe. Das<br />

strengt an, die Gebär<strong>den</strong> stellen für mich<br />

eine völlig neue Welt dar. Trotz Dolmetscher<br />

fühle ich mich auch etwas hilflos.<br />

Aber Andreas Juon ist ein äusserst versierter<br />

und angenehmer Gesprächspartner.<br />

Er gibt Tipps: «Damit ich von deinen<br />

Lippen ablesen kann, muss Blickkontakt<br />

hergestellt sein. Auch darf es mich nicht<br />

blen<strong>den</strong>. Du solltest in einfachen, kurzen<br />

Sätzen und auf Hochdeutsch sprechen.»<br />

Andreas Juon wurde hörend geboren.<br />

Als der Säugling im Alter von drei Monaten<br />

aber bei Lärm nicht zusammenzuckte<br />

und ihm auch sonst bei Geräuschen<br />

keine Reaktion anzumerken war, konsultierten<br />

seine Eltern einen Arzt. Dieser<br />

stellte Gehörlosigkeit fest. «Für meine<br />

Eltern war das natürlich ein Schock»,<br />

sagt der 35-Jährige. Ursache für das Auftreten<br />

der Gehörlosigkeit könnten die<br />

Nebenwirkungen der Medikamente sein,<br />

die Andreas Juon als Säugling aufgrund<br />

einer Hirnhautentzündung erhielt. Da<br />

aber im entfernteren Familienkreis<br />

ebenfalls eine Person gehörlos ist, könnte<br />

es auch familiär bedingt sein. «Aber<br />

eigentlich ist das auch egal», sagt Andreas<br />

Juon. «Ich habe mich so akzeptiert<br />

wie ich bin. Ich bin glücklich, habe eine<br />

Familie, Freunde, eine Arbeit – was will<br />

ich mehr?»<br />

Das Cochlea-Implantat<br />

Andreas Juon wächst im Bündnerland<br />

auf und wird als Kleinkind zunächst in<br />

der Lautsprache geschult. Die Eltern stehen<br />

in Kontakt mit dem Gehörlosenverein,<br />

ein Thema sind mögliche Hörhilfen.<br />

Gab es früher nur Hörapparate, so erscheint<br />

Anfangs der 80er-Jahre neu das<br />

Cochlea Implantat. Andreas Juons Eltern<br />

entschei<strong>den</strong> sich für ein Hörgerät, das er<br />

trägt, bis er 14 Jahre alt ist. «Damit kann<br />

ich Geräusche hören, zum Beispiel ob ein<br />

Auto durchfährt oder ob jemand spricht.<br />

Was genau gesprochen wird, kann ich<br />

aber nicht verstehen.»<br />

Juon ist heute sehr froh, dass sich<br />

seine Eltern gegen das Cochlea-Implantat<br />

entschie<strong>den</strong> haben. «Für mich ist<br />

das eine sehr ethische Frage», führt er<br />

aus. «Es geht doch darum, ob man einen<br />

Menschen so akzeptiert, wie er ist. Oder<br />

ob er nicht ‹richtig› ist und man etwas<br />

an ihm ändern muss. Man sollte das Positive<br />

an einem Menschen <strong>sehen</strong>, und<br />

nicht seine Behinderung.» Andreas Juon<br />

erläutert weiter, dass für eine Person,<br />

die erst später taub gewor<strong>den</strong> ist, das<br />

Cochlea-Implantat durchaus eine Chance<br />

sei. Ob aber ein Implantat eingesetzt<br />

wird, entscheidet letztlich der Arzt. «Da<br />

ich die hörende Welt nie kennengelernt<br />

habe, verspüre ich auch eine grosse Unsicherheit<br />

und hätte Angst davor, auf<br />

einmal mit einer frem<strong>den</strong> Welt voller<br />

Geräusche konfrontiert zu sein.»<br />

Andreas Juon besuchte später das<br />

Internat einer Schule für Gehörlose in<br />

St. Gallen. Auch wenn die Bündner Heimat<br />

und die Eltern weit weg waren,<br />

fühlte sich Andreas Juon unter <strong>den</strong> anderen<br />

gehörlosen Kindern sehr wohl.<br />

In der Schule lernte er die Lautsprache,<br />

was, wie er sagt, sehr mühsam und unangenehm<br />

für die Betroffenen ist. «Etwa

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