Mit den Ohren sehen Kirchenoase Rosenberg ... - Der Gallispitz
Mit den Ohren sehen Kirchenoase Rosenberg ... - Der Gallispitz
Mit den Ohren sehen Kirchenoase Rosenberg ... - Der Gallispitz
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
gallispitz 3|13<br />
Thema<br />
9<br />
arbeiten. Da Winterthur keine Gebär<strong>den</strong>sprachschule<br />
hat, entschied ich mich,<br />
mich selbständig zu machen und eine<br />
Schule zu grün<strong>den</strong>.» Natürlich habe er<br />
die ersten zwei Jahre sehr durchbeissen<br />
müssen. «Aber das ist ja bei Hören<strong>den</strong><br />
genauso, nicht wahr?» Heute laufe die<br />
Schule sehr gut. Die eine Hälfte seiner<br />
Kundschaft besteht aus interessierten<br />
Personen, die andere aus Menschen, die<br />
in irgendeiner Form mit Gehörlosigkeit<br />
konfrontiert sind: zum Beispiel durch<br />
das eigene Kind oder berufsbedingt. Aber<br />
auch Gehörlose, die ihre Gebär<strong>den</strong>sprache<br />
verbessern wollen, gehören zu seinen<br />
Schülern.<br />
Andreas Juon sprüht förmlich vor Begeisterung.<br />
Er hat eindeutig <strong>den</strong> richtigen<br />
Beruf gewählt. 2011 heiratete er und<br />
das dritte Kind wurde geboren. Alle drei<br />
Kinder sind hörend. Da seine Ehefrau<br />
auch gehörlos ist, drängt sich die Frage<br />
auf, wie der Alltag mit einem Säugling<br />
bewältigt wer<strong>den</strong> kann. «Es gibt beispielsweise<br />
Blinkanlagen, die einsetzen,<br />
wenn das Baby schreit.» Und in der<br />
Nacht? Wenn man schläft? «Wir sind sehr<br />
visuelle Menschen. Daher nehmen Gehörlose<br />
das Blinken auch im Schlaf wahr.<br />
Häufig meinen Hörende, dass Hören die<br />
einzige Art zu kommunizieren ist. Doch<br />
das ist nicht wahr.» Kommunikation sei<br />
viel mehr: «Man kann visuell, taktil, mit<br />
Mimik, Augenbrauen und Körperhaltung<br />
kommunizieren.» Eine Sprache zu<br />
lernen ist eine komplexe Angelegenheit.<br />
Bis das Zusammenspiel von Atmung<br />
und Zunge erlernt wer<strong>den</strong> kann, ist ein<br />
Kind etwa 9 Monate alt. «Aber die Gebär<strong>den</strong>sprache<br />
versteht es schon viel früher.<br />
Bereits mit etwa fünf Monaten kann es<br />
selbst einfache Bewegungen ausführen»,<br />
sagt Andreas Juon.<br />
Eine andere Welt<br />
Er veranschaulicht mir seine Sichtweisen,<br />
die Funktionsweise der Gebär<strong>den</strong>sprache<br />
und <strong>den</strong> Ablauf seines Alltages<br />
mit einer solchen Klarheit und Überzeugung,<br />
dass ich mich irgendwie naiv fühle.<br />
Wie arrogant es von einem Hören<strong>den</strong><br />
ist, über diese Art der Kommunikation<br />
zu richten, vielleicht auch <strong>Mit</strong>leid mit<br />
Gehörlosen zu haben. Vielleicht wäre es<br />
angebrachter, <strong>Mit</strong>leid mit jenen zu haben,<br />
die es nicht für nötig erachten, sich<br />
Einblick in diese Welt zu verschaffen.<br />
Das Albani ist beinahe voll. Die<br />
Leute wippen, gebär<strong>den</strong>, recken<br />
die Hände in die Höhe und<br />
winken – was in der Gebär<strong>den</strong>sprache<br />
applaudieren bedeutet. Es ist ein eindrückliches<br />
Bild. Ich blicke in strahlende<br />
Gesichter. Rund um mich herum laufen<br />
Dutzende von Gesprächen. Ich verstehe<br />
nichts. Aber erstaunlicherweise ist das<br />
unangenehme und hilflose Gefühl verschwun<strong>den</strong>.<br />
Ich fange an, die Ruhe zu<br />
geniessen. Nicht noch rasch etwas zu sagen,<br />
sondern einfach zu schauen.<br />
Übrigens, Usher ist eine Krankheit.<br />
Am Usher-Syndrom Erkrankte sind meist<br />
von Geburt an gehörlos. Im Laufe des Lebens<br />
folgt ein zunehmender Verlust der<br />
Sehkraft bis zu Erblindung. Ein Hocker,<br />
der für Usher-Erkrankte reserviert ist, ist<br />
besetzt.<br />
www.gebaer<strong>den</strong>sprachkurse.ch<br />
Das Gedicht zum Thema<br />
<strong>sehen</strong><br />
Das erste Sehen, Sehkontakt,<br />
als wär’s ein Schritt gleich auf<br />
<strong>den</strong> Mond,<br />
beflügelt unsern Sehsinn schon,<br />
dass ’s uns zu allen Dingen packt.<br />
Wie siehst du dich heran, perfekt?<br />
In Dankbarkeit für diesen Sinn?<br />
<strong>Mit</strong> dunkler Brille? Filter drin?<br />
<strong>Mit</strong> halbem Aug’? Blick hin, Blick weg?<br />
Und worauf siehst du scharf und klar?<br />
Auf alles Schöne, Helle, Glanz?<br />
Auf dich? Auf deinen Vorteil ganz?<br />
Die Welt ein Paradies – das war.<br />
Kein Licht – was siehst du dämmrig<br />
da?<br />
Errate! Tausend Dinge und<br />
viel mehr sind möglich, drum erkund’<br />
es überall, von Fuss bis Haar.<br />
Samuel sah sich um, gerufen:<br />
– Samuel! – Siehe, hier bin ich!<br />
<strong>Mit</strong> Gott unendlich weiter <strong>sehen</strong>.<br />
Das Unge<strong>sehen</strong>e <strong>sehen</strong>.<br />
An Grosses seh ich mich heran:<br />
an Liebe, Kunst, an Gott.<br />
Ein off’nes, klares Aug’ tut not,<br />
dass zum Kontakt ich <strong>sehen</strong> kann.<br />
Was siehst du <strong>den</strong>n am liebsten, was?<br />
Hier fängt die Sehnsucht an.<br />
Andreas Herbert Meier<br />
Andreas Juon in seiner Schule für Gehörlose. bild nadja kröner