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Von der medizinischen Versorgung unserer Vorfahren - Historische ...

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<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>medizinischen</strong> <strong>Versorgung</strong> <strong>unserer</strong> <strong>Vorfahren</strong><br />

von Rolf Bolliger<br />

Die medizinische <strong>Versorgung</strong> <strong>unserer</strong> <strong>Vorfahren</strong> war sehr rudimentär. Die heute so<br />

selbstverständlichen Ärzte und Kliniken aller Fachgebiete waren noch vor wenigen<br />

Generation reines Wunschdenken.<br />

Die ersten «mo<strong>der</strong>nen» Heilstätten entstanden nicht selten aus den alt bekannten<br />

Kurbä<strong>der</strong>n. So zum Beispiel das Laurenzenbad in Obererlinsbach, welches sich von 1840<br />

bis 1908 als Heilbad mit Gastwirtschaftsbetrieb präsentierte. Mit seiner Umbenennung in<br />

«Friedheim» konzentrierte sich <strong>der</strong> Betrieb vornehmlich auf die Pflege von chronisch<br />

kranken und altersschwachen Menschen. Durch verschiedene Renovationen und<br />

Umbauten <strong>der</strong> klassizistischen Gebäude erfolgte dann <strong>der</strong> Schritt zum mo<strong>der</strong>nen<br />

Krankenheim, wie wir es heute kennen.<br />

Ein für unsere Gegend wichtiger Meilenstein zur<br />

<strong>Versorgung</strong> von Kranken und Verunfallten erfolgte im<br />

Jahre 1887 mit <strong>der</strong> Eröffnung des Kantonsspitals<br />

Aarau. Damals waren bereits die beachtliche Zahl von<br />

190 Betten in <strong>der</strong> Krankenabteilung und 40 Betten in<br />

<strong>der</strong> Abteilung für Geburtshilfe vorhanden. Für heutige<br />

Begriffe bescheiden erscheint uns das damalige Ka<strong>der</strong><br />

des Spitals. Den beiden ärztlichen Leitern Dr. Alfred<br />

Kalt, Medizin, und Dr. Heinrich Bircher, Chirurgie,<br />

stand jeweils ein Assistenzarzt hilfreich zur Seite.<br />

Am Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts blühte im oberen<br />

Wynen- und Seetal die Idee eines Regionalspitals auf.<br />

Im Jahre 1900 wurde eine Trägerschaft gegründet, die<br />

sich den Bau eines Krankenasyls zur Aufgabe machte.<br />

Schon zwei Jahre nach ihrer Gründung hatten <strong>der</strong><br />

Hauptinitiant Jakob Irmiger und die örtliche Industrie<br />

das Vergnügen, <strong>der</strong> Eröffnung eines 28-Bettenhauses<br />

in Menziken beizuwohnen. Aus dem einstigen Asyl<br />

wurde über die Jahre durch etliche<br />

Erweiterungsbauten eine mo<strong>der</strong>ne Klinik, die heute zur<br />

Asana-Gruppe gehört.<br />

Ba<strong>der</strong> beim Ansetzen <strong>der</strong> Schröpfköpfe<br />

<strong>Von</strong> Ba<strong>der</strong>n, Scherern und Chirurgen<br />

Wie oben beschrieben, begann die medizinische Grundversorgung, wie wir sie heute<br />

kennen, erst im ausgehenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Was aber unternahmen die Menschen<br />

<strong>unserer</strong> Dörfer in früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten bei Krankheiten, Unfällen und Verletzungen?<br />

Dieser Frage wollen wir am Beispiel <strong>der</strong> Gemeinde Gontenschwil nachgehen.<br />

Bekanntermassen gehört zur Vermeidung von Krankheiten auch die regelmässige<br />

Körperhygiene. Da aber im Mittelalter private Badezimmer unbekannt waren, bot <strong>der</strong><br />

Ba<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Barbier in seinem Haus diesbezügliche Dienstleistungen an. Der Gast konnte<br />

in <strong>der</strong> Badstube für wenig Geld, allein o<strong>der</strong> in Gesellschaft, in einem Holzbottich ein<br />

warmes und reinigendes Bad nehmen. Danach hatte er die Möglichkeit, sich Bart- und<br />

Haupthaar scheren zu lassen, was den Ba<strong>der</strong>n auch die Berufsbezeichnung Scherer<br />

eintrug.<br />

1


Den Beweis für die Existenz einer Badstube in Gontenschwil findet sich im Taufrodel des<br />

Jahres 1561. Dort werden erstmals Ruedi Bumann (Baumann) und seine Frau Margret<br />

von Mülinen genannt, die später eindeutig als Ba<strong>der</strong> bezeichnet werden. Ihr Beruf<br />

gereichte ihnen sogar fast zum Familiennamen, wurden sie doch öfters nur Ruedi und<br />

Margret Ba<strong>der</strong> genannt. <strong>Von</strong> den Nachkommen übernahm <strong>der</strong> Sohn Heinrich Beruf und<br />

Geschäft des Vaters. Mit Maria Hediger von Gontenschwil verehelicht, begegnet er uns<br />

1594 als «Heinricus Bumann <strong>der</strong> Ba<strong>der</strong>». Die Stätte seines Wirkens lag am Dorfbach im<br />

Kirchdorf. Das ehemalige «Ba<strong>der</strong>haus» unterhalb des Restaurant Waage wurde beim<br />

Ausbau <strong>der</strong> Dorfstrasse 1905 abgetragenen.<br />

Beinamputation um 1517<br />

Wie an<strong>der</strong>norts beschränkte sich vermutlich auch die<br />

Gontenschwiler Ba<strong>der</strong>familie Baumann nicht damit,<br />

ihre Kunden zu waschen und zu frisieren. Das<br />

Angebot umfasste in aller Regel auch die kleine o<strong>der</strong><br />

nie<strong>der</strong>e Chirurgie. Das heisst, dem leidenden Kunden<br />

wurden bei Bedarf eingewachsene Nägel<br />

ausgeschnitten, Hühneraugen entfernt und Abszesse<br />

geöffnet. Es wurden faule Zähne gezogen,<br />

Schröpfköpfe angesetzt o<strong>der</strong> zur Anregung des<br />

Kreislaufs zur A<strong>der</strong> gelassen. Auch das Einrenken von<br />

Gelenken und die <strong>Versorgung</strong> von Knochenbrüchen<br />

gehörte zu den Aufgaben eines Scherers. Mutige und<br />

geübte Wundärzte führten gar Starstiche, Blasensteinund<br />

Bruchoperationen durch. Ba<strong>der</strong> und Scherer<br />

erwarben sich mit <strong>der</strong> Zeit gute Kenntnisse und<br />

Fertigkeiten im Umgang mit chirurgischen<br />

Instrumenten. Ihr Können war beson<strong>der</strong>s in<br />

Kriegszeiten gefragt, wo sie als sogenannte<br />

Feldscherer unentbehrlich waren. Dort wurden zur<br />

Hauptsache Schuss und Stichverletzungen behandelt<br />

und Amputationen vorgenommen. Auf diese Weise<br />

avancierten die Scherer zu eigentlichen Wundärzten<br />

und Chirurgen.<br />

Zum Schutz ihres Berufsstandes vor Pfuschern und Scharlatanen und zur Sicherstellung<br />

ihrer qualitativ guten Arbeit wurden vornehmlich in den Städten Verbände mit<br />

Berufsordnungen gegründet, die so genannten «Schärer Societäten».<br />

Gänzlich getrennt von diesen handwerklichen Ärzten standen die akademischen<br />

Mediziner. Diese Trennung war durch einen Beschluss des IV. Laterankonzils bereits im<br />

Jahre 1215 erfolgt. Dadurch wurde die Chirurgie als min<strong>der</strong>e Medizin von den<br />

Universitäten ausgeschlossen. Die damals überwiegend klerikalen Ärzte konnten es mit<br />

ihrem Gewissen nicht vereinbaren, dass chirurgische Eingriffe oft zum Tod des Patienten<br />

führten. Die Verantwortung für diese Behandlungen wurde somit in die Hände <strong>der</strong> Ba<strong>der</strong><br />

und Scherer gelegt. Diese Trennung führte häufig zu gegenseitigen Vorwürfen <strong>der</strong><br />

Quacksalberei, denn die Ba<strong>der</strong> scheuten sich nicht, den gelehrten Herren Ärzten in die<br />

Kur zu pfuschen.<br />

Die Schererfamilie Rupp<br />

Der Familie Baumann gehörte das Haus mit Badstube im Kirchdorf bis zur Enkel-<br />

Generation. Im Jahre 1661 kaufte Hans Rupp, seines Zeichens Scherer von Seon, einen<br />

2


Anteil <strong>der</strong> Badstube. Zweifellos übte er dort sein medizinisches Handwerk aus. Rupp<br />

stammte aus einer grossen Scherer Dynastie <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> in Seon, Reinach,<br />

Schöftland und Aarburg praktizierten. Hans Rupps gleichnamiger Sohn, <strong>der</strong> in<br />

Gontenschwil «Schärhansli» genannt wurde, konnte seinen Arbeitsbereich ausbauen,<br />

indem er 1677 einen weiteren Anteil <strong>der</strong> Badstube erwarb.<br />

Wie weit die Entdeckung <strong>der</strong> Heilquelle im Schwarzenberg um 1640 die damalige<br />

Gontenschwiler Bevölkerung beeinflusste und zum «Gesundbaden» animierte, ist nicht<br />

überliefert. Das heilversprechende Wasser wurde, wie es scheint, vor allem getrunken.<br />

<strong>Von</strong> einer Badeeinrichtung vernehmen wir erst im ausgehenden 18. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

Schärhansli Rupp starb im Jahr 1717. <strong>Von</strong> seinen Nachkommen scheint keiner das<br />

Schererhandwerk weitergeführt zu haben. Die Badstube mit ihrer gesamten Ausstattung<br />

gelangte 1729 in den Besitz von Sebastian Giger. Ob er den Betrieb weiter aufrecht hielt,<br />

ist nicht bekannt.<br />

<strong>Von</strong> einem Scherer in Gontenschwil hören wir erst wie<strong>der</strong> 1736, als Daniel Rupp, <strong>der</strong><br />

«Schärer», einen Anteil am alten Schulhauses im Kirchdorf erwirbt. Daniel Rupp war mit<br />

seinen namensgleichen Vorgängern nicht näher verwandt. Er stammte zwar von Seon,<br />

war aber in Reinach aufgewachsen. Mit seiner Ehefrau Maria Giger übte Rupp zehn Jahre<br />

in Gontenschwil sein Handwerk aus und zog dann, wie es in einer Quelle heisst, in seine<br />

Heimat. Sehr zum Leidwesen <strong>der</strong> Gontenschwiler Bevölkerung, die sich nun zur<br />

Behandlung ihrer Gebresten an<strong>der</strong>swo Hilfe suchen musste.<br />

Der Fall Schobinger<br />

Einen Hoffnungsschimmer sah die Oberwynentaler<br />

Gemeinde aufkeimen, als sich 1752 Jakob<br />

Schobinger dort nie<strong>der</strong>liess. Der von St. Gallen<br />

stammende Chirurg war zuvor in Bern an<br />

verschiedenen Orten als Scherer in Stellung<br />

gewesenen. Offensichtlich verstand er sein<br />

Handwerk so gut, dass er bald über Gontenschwils<br />

Dorfgrenzen hinaus bekannt war und grossen Zulauf<br />

an Kunden hatte. Sein Ruf drang bis in die Städte<br />

Aarau, Lenzburg und Baden, von wo bald<br />

missgünstige Berufsgenossen gegen ihn<br />

opponierten. Die Gemeinden Gontenschwil und<br />

Zetzwil fühlten sich dadurch veranlasst, mittels einer<br />

Bittschrift an den Landvogt ihren Scherer als<br />

Hintersäss aufzunehmen und obrigkeitlich zu<br />

legalisieren («...dem Schobinger zum Trost dieser<br />

beyden und nächsteren Gemeinden die<br />

hochoberkeitliche Erlaubnus und Bewilligung zu<br />

erteilen, seine Kunst dahier zu treiben».)<br />

Wundarzt mit Instrumenten<br />

Neben den verschiedenen «glücklichen Curen», welche Schobinger bei ihnen und in <strong>der</strong><br />

Nachbarschaft durchgeführt habe, fügten die Bittsteller als Hauptargument die weite<br />

Entfernung zum nächsten Arzt an. Obwohl ihre Gemeinden zahlreich an Haushaltungen<br />

seien, müssten sie bei Unfällen bis zu drei Stunden nach einem Scherer schicken, o<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Not sogar den Scherer vom luzernischen Pfeffikon bemühen. Unterzeichnet wurde die<br />

Bittschrift von den Pfarrern, Gerichtsuntervögten, Statthaltern und Chorrichtern <strong>der</strong><br />

Gemeinden Gontenschwil, Zetzwil und Reinach. Gesellschaftlicher Stand und Anzahl <strong>der</strong><br />

Unterzeichnenden unterstreicht, wie wichtig und unterstützungswürdig ihr Anliegen war.<br />

3


Aber auch die Herren <strong>der</strong> städtischen Scherer-Societät machten ihren Einfluss beim<br />

Landvogt geltend, und das Gesuch wurde am 2. April 1753 abgewiesen. <strong>Von</strong> Jakob<br />

Schobinger hören wir nichts mehr, er scheint weiter gezogen zu sein an einen Ort, wo<br />

seine Kunst geduldet war. Der ärztelose Zustand im oberen Wynental währte bis 1768, als<br />

<strong>der</strong> Chirurg Hans Heinrich Suter in Reinach sesshaft wurde.<br />

Vom Chirurgus zum akademischen Mediziner<br />

Einige Jahre später brachte Gontenschwil mit Christian Hunziker (1744-1804) einen<br />

eigenen Scherer hervor. Er war mit Maria Rupp verehelicht, die möglicherweise aus <strong>der</strong><br />

gleichnamigen Schererdynastie stammte. Das Ehepaar wohnte im Unterdorf (heute Ecke<br />

Bachstrasse-Steingasse) in Hunzikers Elternhaus, das seit 1686 in Familienbesitz war.<br />

Christian Hunziker wird verschiedene Male als Chirurgus o<strong>der</strong> Wundarzt bezeichnet. Er<br />

schein also eine richtige Ausbildung genossen zu haben.<br />

Der erste akademisch gebildete Doktor <strong>der</strong> Medizin kam im Dezember des Jahres 1903<br />

nach Gontenschwil. Dr. Carl Hassler (1876-1956), ein Sohn des Seenger Pfarrers Karl<br />

Jakob Hassler, hatte in Lausanne und Berlin studiert und war als Assistenzarzt am<br />

Kantonspital Aarau gewesen. Seine Privatpraxis richtete Dr. Hassler bei <strong>der</strong> Papierfabrik<br />

Frey & Wie<strong>der</strong>kehr im Kirchdorf ein; die Apotheke befand sich aber in einem Zimmer des<br />

Gasthofs Löwen. Eine Tuberkulose-Erkrankung zwang Carl Hassler 1906, seine Praxis für<br />

zwei Jahre zu schliessen. In dieser Zeit wurden die Gontenschwiler durch Dr. Berger von<br />

Reinach betreut.<br />

Zahnreissen<br />

Nach überstandener Krankheit konnte<br />

Carl Hassler 1912 ein geeignetes<br />

Wohnhaus in <strong>der</strong> Nähe des Bahnhofes<br />

kaufen, wo er in den folgenden 40<br />

Jahren seine Arztpraxis führte. Seine<br />

Hausbesuche besorgte Dr. Hassler mit<br />

Pferd und Wagen. Später pilotierte er<br />

eines <strong>der</strong> ersten Automobile im Dorf.<br />

Ältere Personen wissen noch aus<br />

eigener Erfahrung zu berichten, wie er<br />

kleine medizinische Eingriffe, ganz<br />

unzimperlich ohne Narkose durchführte.<br />

Dr. Carl Hassler und später sein Sohn<br />

Dr. Alfred Hassler waren für<br />

Generationen von Gontenschwilern die<br />

erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen<br />

Beschwerden und eine eigentliche<br />

Institution im Dorf.<br />

Quellen<br />

• Staatsarchiv Aargau AA 805 (Fall Schobinger)<br />

• Staatsarchiv Aargau, Depositum Gontenschwil, Gerichtsmanuale 1660-1815<br />

• Steiner/Bolliger, CD Kirchenbücher Gontenschwil<br />

• Jubiläumsschrift <strong>der</strong> Vereinigung Aargauischer Krankenhäuser VAKA, Aarau 1992<br />

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