Nr. 43 - Soziale Welt
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10 SOZIALES<br />
Obdachlos -<br />
Geschichten von Außenseitern in Selbstaussagen<br />
Alle Erlöse aus der „<strong>Soziale</strong>n <strong>Welt</strong>“<br />
fließen Obdachlosen zu, entweder<br />
direkt in Form des Verkaufsanteils an<br />
die Verkäufer oder indirekt zum Jahresabschluss,<br />
wo der Gewinn an Obdachlosenprojekte<br />
verteilt wird. Aber<br />
wer ist diese Klientel eigentlich? Hier<br />
eine Lebensgeschichte:<br />
„Geboren bin ich am 09. Dezember 52<br />
in T. Mein alter Herr war Notar, meine<br />
Mutter war Hausfrau, außerdem habe ich<br />
noch fünf Geschwister, die auch irgendwo<br />
in Bayern rumturteln. Ich war der fünfte,<br />
erst zwei Schwestern, dann zwei Brüder,<br />
dann ich – der Schönste – dann noch eine<br />
Schwester. Über die Kindheit – Was soll<br />
man sagen?<br />
Mein Vater war ein bisschen verrückt, ein<br />
bisschen pedantisch, ein bisschen fanatisch,<br />
- er war ziemlich schwer religiös,<br />
evangelisch – und außerdem äußerst jähzornig.<br />
Das ist eigentlich schon die ganze<br />
Kindheit. Er hat uns eigentlich fast jeden<br />
Tag verprügelt. Alle miteinander. Gründe<br />
hat er immer gefunden. Na ja, ein Traum<br />
von meinem Vater war halt vor allen Dingen,<br />
dass alle von seinen Kindern entweder<br />
Juristen oder Pfarrer werden. Daraufhin<br />
hat er uns auch erzogen, oder er hat es<br />
wenigstens versucht.<br />
Ist natürlich nichts daraus geworden. Bei<br />
keinem. Ja, die ersten zwei sind nach dem<br />
vierten Schuljahr rausgekommen, sind<br />
aufs Nonneninternat gekommen, die zwei<br />
älteren Schwestern, also Internat, Oberschule,<br />
bis sie Abitur machen. Meine<br />
zweite Schwester hat es auch geschafft, sie<br />
ist dann Lehrerin geworden. Ja und mein<br />
zweitältester Bruder, der ist da auch auf<br />
so ein Internat gekommen, der ist durchgekommen<br />
und ist Lehrer geworden.<br />
Der älteste Bruder, der war ein bisschen<br />
zu dumm – dem wollte er es zwar auch<br />
reinprügeln, aber da hat er es nicht ganz<br />
geschafft, der hat einfach die Schule nicht<br />
gepackt. Na, und bei mir war es auch so<br />
ähnlich. Mich hat er auch …., bloß habe<br />
ich dann die Scheiße gebaut, wie wir dann<br />
nach M. gezogen sind, da dort eben ein<br />
Gymnasium war. Das war echt Scheiße,<br />
ich wollte, ehrlich gesagt, nie aufs Gymnasium,<br />
von vorneherein nicht. Na ja, da<br />
habe ich dann in der vierten oder fünften<br />
Klasse der Volksschule versucht, dass da so<br />
hinzudeichseln, da habe ich in der Schule<br />
praktisch überhaupt nichts gemacht. Da<br />
hat er mich bald erschlagen, so nebenbei.<br />
Im sechsten Schuljahr wollte ich dann auf<br />
die Mittelschule nach H., damit ich von<br />
Zuhause weggekommen wäre. Ich wollte<br />
eigentlich schon immer Förster werden,<br />
ich weiß, ich bin auch mehr so ein Eigenbrötlertyp.<br />
Das hätte mir halt so gefallen,<br />
das wollte ich schon immer. Solange ich<br />
denken kann, wollte ich Förster werden.<br />
Na, ist dann nichts draus geworden.<br />
Auf jeden Fall habe ich dann die sechste<br />
Klasse mit Bravour geschafft, war sogar<br />
der Beste, in der Volksschule. Und dann<br />
hat er es halt geschafft, der Alte, dass er<br />
bei uns auf dem Gymnasium den Direktor<br />
rumgekriegt hat, dass ich dann doch auch<br />
auf das Scheißgymnasium gekommen bin.<br />
Das weiß ich noch wie heute. Da hat er<br />
mich am Morgen, ganz freudestrahlend,<br />
wie er dann mein Zeugnis gesehen hat,<br />
hat er mich rausgepiekt und dann musste<br />
ich dann noch die ganzen Ferien für die<br />
Scheißprüfungen lernen. Na, da hab ich<br />
die ganze Packung gemacht.<br />
Die Oberschule habe ich natürlich nicht<br />
geschafft, echt keinen Bock gehabt. Die<br />
ersten drei Jahre ging es noch einigermaßen,<br />
da bin ich irgendwie durchgeturnt.<br />
Dann bin ich das erste mal sitzen geblieben,<br />
da ist er schon durchgedreht und hat<br />
meine Erziehung und Lehre in die Hände<br />
genommen. Der Vater hat schon vorher<br />
immer den Spinner gehabt, dass seine Kinder<br />
um vier zuhause sein mussten, dann<br />
hat er zwei, drei Stunden aus der Bibel was<br />
vorgebetet, die Kommentare auch dazu,<br />
jeden Tag, und wir mussten außen rum<br />
sein. Knüppelhart, ja nicht mucksen.<br />
Auf jeden Fall hat er es dann soweit geschafft,<br />
dass ich mit 16 zum ersten Mal<br />
abgehauen bin, da haben mich die Bullen<br />
zurückgebracht, gleich am anderen Tag.<br />
Bald wieder abgehauen, da bin ich nach<br />
einer Woche selbst wieder zurück, weil ich<br />
verhungert – halb, und so eine Scheiße.<br />
Na, da war ich wieder zu Hause, und da<br />
hat er anscheinend gemerkt, dass doch irgendwas<br />
mit mir nicht stimmt.<br />
Na, und da bin ich für drei Jahre in psychiatrische<br />
Behandlung gekommen.<br />
Er hat es immer irgendwie hingedeichselt.<br />
Das waren dann pubertäre Störungen,<br />
Verhaltensschäden und was weiß ich nicht<br />
alles. Da war ich dann jede Woche zweimal<br />
beim Erziehungsberater in der Psychiatrie<br />
in H. Dieser Psychiater hat dann gebracht,<br />
dass ich aus dieser Scheißoberschule herausgekommen<br />
bin. Drei Jahre gelernt,<br />
Großhandelskaufmann, dann habe ich<br />
noch ein Jahr in der Firma gearbeitet,<br />
in der Auftragsabteilung. Erkundigungen<br />
über Kunden einziehen und so eine<br />
Scheiße. Richtig schön, war ein toller Job.<br />
Dann habe ich ein halbes Jahr lang Pause<br />
gemacht, da war ich arbeitslos, freiwillig.<br />
Dann bin ich auf die Textilfachschule gegangen,<br />
habe noch meinen Textilkaufmann<br />
gemacht. Dann habe ich das Pech<br />
gehabt, dass das Ölembargo von den Arabern<br />
auch noch dazwischen kam. Wie ich<br />
mit der Textilfachschule<br />
fertig war, waren bei<br />
uns sämtliche Oberbekleidungs-<br />
und Textilfabriken<br />
im Arsch. Die<br />
haben es nicht verkraftet.<br />
Da waren nur noch<br />
die großen Firmen,<br />
und da sind so viele<br />
Textilkaufleute rumgerannt,<br />
da haben die<br />
einen überhaupt nicht<br />
mehr gebraucht.<br />
Während der Lehre<br />
wohnte ich noch zu<br />
Hause. Wir sind uns ziemlich aus dem<br />
Weg gegangen. Ich habe dann unter anderem<br />
auch noch das Saufen angefangen,<br />
wenn der Alte abends nach Hause gekommen<br />
ist, war ich meistens in der Kneipe.<br />
Die anderen Geschwister waren schon alle<br />
weg. Mutter war noch zu Hause, die kleine<br />
Schwester war noch manchmal zu Hause.<br />
Ist dann nach L. gegangen. Ich weiß nicht,<br />
was sie dort macht. Ich habe zu der ganzen<br />
Familie keinen Kontakt mehr.<br />
Danach war ich wieder eineinhalb Jahres<br />
arbeitslos, da sind wir erst einmal mit ein<br />
paar anderen Johnnies durch Italien nach<br />
Südfrankreich getrampt. Da waren wir ein<br />
halbes Jahr, bis wir pleite waren.<br />
Dann sind wir wieder hoch, ich bin zu<br />
meinem Schwager nach B. Meine zweite<br />
Schwester hatte gerade geheiratet. Die<br />
haben da ein Haus hochgezogen. Da habe<br />
ich bei denen schwarz gebaut, ein halbes<br />
Jahr, dann bin weiter nach N., dort wieder<br />
ein halbes Jahr schwarz gebaut. In einer<br />
N. Lebensmittelfirma habe ich dann noch<br />
Jahre als Lagerfacharbeiter gearbeitet,<br />
hatte eine feste Wohnung und eine feste<br />
Freundin. Dann ist das mit ihr dann wieder<br />
auseinander gegangen, weil die auch<br />
angefangen hat, dauernd zu meckern. Da<br />
habe ich das Saufen auch wieder angefangen.<br />
Sie war halt der Willensstärkere von<br />
uns beiden, auf hochdeutsch gesagt.<br />
Den Job habe ich dann aufgegeben, bin<br />
dann so rumgetrampt und habe den Rest<br />
von meinem Geld versoffen. Von den<br />
letzten hundert Mark habe ich mir dann<br />
noch einen Schafsack gekauft. Das war das<br />
einzige Vernünftige, bin dann unter die<br />
Stadtstreicher geraten. Das war in W.<br />
Da hab ich Platte gemacht, habe überwintert<br />
im Tor mit dem Gasmäntele,<br />
das ist ein bekannter Stadtstreicher dort.<br />
Gasmäntele, das ist sein Spitzname, dann<br />
noch so ein Ziegenmännlein und ein abgestürzter<br />
Akrobat. Sie haben mich immer<br />
den roten Muck genannt, rot wegen meiner<br />
Gesichtsfarbe und Muck wegen der<br />
abgebrochenen Riesengröße.<br />
Die drei haben mich angelernt in allen<br />
Feinheiten des Berberlebens – wo man Sitzungen<br />
macht, also sich mit einem Schild<br />
hinsetzt, wie man schmal macht, also Leute<br />
anbettelt am Bahnhof wegen Geld oder<br />
so. Schmal machen war ich eigentlich nie<br />
gut, bei Sitzungen am Anfang auch nicht.<br />
Na ja, vor allen Dingen habe ich mich<br />
dann schwer als Ladendieb entwickelt,<br />
muss ich ganz ehrlich sagen. Für die ganze<br />
Bande habe ich eigentlich immer den<br />
Korn geklaut.<br />
Das ging dann den ganzen Winter durch.<br />
Im Frühjahr war ich schon ganz schön firm.<br />
Da bin ich zu Fuß in Richtung Bodensee,<br />
ganz gemütlich. Jeden Tag was mitgenommen,<br />
überall geklopft wegen Geld oder<br />
was zu essen, in jedem Dorf. Das klappte,<br />
auf dem Land haben mich die Bauern mitgenommen,<br />
von Dorf zu Dorf. Das konnte<br />
ich, an die Häuser konnte ich gehen,<br />
aber so an den Bahnhof gehen und mich<br />
schmal machen, das konnte ich nicht. Auf<br />
diese Weise habe ich ganz Deutschland gesehen,<br />
ist überall dreckig, insbesondere die<br />
Bundesstraßen.<br />
Zwischendurch war ich immer mal ein<br />
paar Wochen auf einem Job, auf dem<br />
Jahrmarkt, da hab ich mitgeholfen beim<br />
Auf- und Abbau. Reine Knochenarbeit,<br />
Chips für Autoskooter einsammeln, Lose<br />
verkaufen und so weiter. Dann haben mir<br />
wieder die Füße gejuckt, dann bin ich einfach<br />
weiter. Mein Geld eingesammelt und<br />
abmarschiert.<br />
Warum ich ziehe, das weiß ich eigentlich<br />
auch nicht. Denn es ist ein Scheißleben,<br />
das ist ja wohl klar. Auf jeden Fall versuche<br />
ich zur Zeit, vom Alkohol abzukommen.<br />
Bis jetzt war es immer so, wenn es irgendwo<br />
fest war, ging es mit der Sauferei wieder<br />
los. Deswegen bin ich zur Zeit auch in<br />
H., ohne Hilfe, denn wenn ich Arbeit und<br />
Geld habe, saufe ich wieder, auch wenn<br />
ich eine Wohnung habe. Dann fällt mir<br />
die Decke auf den Kopf und ich saufe.<br />
Das einzige, was ich mir jetzt vorstelle,<br />
dass ich erst einmal anständig durch die<br />
Gegenwart komme. Dass ich mir Gedanken<br />
um die Zukunft mache, das lohnt eh<br />
nicht. Und dann muss ich halt versuchen,<br />
irgendwie wieder mal sesshaft zu werden.<br />
Irgendwie. Ich mein, man wird ja halt<br />
auch älter, Ich habe schon manchmal<br />
Schwierigkeiten mit meinen Knochen.<br />
In den Händen hab ich Frost drin, hab<br />
sie mir mal erfroren. Früher konnte ich<br />
mich noch richtig zusammenrollen, jetzt<br />
geht das nicht mehr. So drei- oder viermal<br />
muss ich nachts aufstehen, habe elendige<br />
Schmerzen im Knie.“