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Nr. 43 - Soziale Welt

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6 FUSSBALL / SOZIALES<br />

grüßt Cristiano Lucarelli, der sich bei<br />

schlechten Leistungen schon mal selbst<br />

das Gehalt kürzt, mit dem Kommunistengruß.<br />

Das „Centro <strong>Soziale</strong> Godzilla“, das<br />

Zentrum der organisierten Fans, sieht aus<br />

wie ein Parteibüro der PCI zu Zeiten Pepones:<br />

rote Fahnen, Hammer und Sichel,<br />

Stalinportraits. Alles in allem eine neue<br />

Variante des immer wieder auftretenden<br />

Versuchs der „magischen Rückgewinnung<br />

der Gemeinschaft“ durch Protagonisten<br />

expressiver Subkultur.<br />

Und auch die nach Abspaltung gierenden<br />

Linkskatalanen haben bei Barca ihr neues<br />

Idol in Oleguer. Er würde nur für eine katalanische,<br />

niemals aber für die spanische<br />

Nationalmannschaft auflaufen. In seiner<br />

Heimatstadt Sabadell unterstützt er Hausbesetzer<br />

und linke Kritiker der EU-Verfassung.<br />

Solche „Kerle“ sind in Deutschland<br />

weit und breit nicht zu sehen. Also doch<br />

nur ein Spiel?<br />

Über den Autor:<br />

Prof. Dr. Titus Simon, Jahrgang 1954, ist<br />

Hochschullehrer für <strong>Soziale</strong> Arbeit an der<br />

Hochschule und Beirat der SOZIALEX-<br />

TRA. Er spielte in der Kindheit sieben Tage<br />

in der Woche Fußball (ständiger Kampf um<br />

den Sonntag, und verfeinerte sein Kopfballspiel<br />

am Kopfballgalgen des SV Murrhardt.<br />

Nach erfolgreicher Zuwendung zu anderen<br />

Sportarten war er Gründer und Spieler der<br />

im Umkreis von zehn Kilometern gefürchteten<br />

„Wolfenbrücker Wölfe, für die er 1998 –<br />

im hohen Sportleralter von 44 Jahren – das<br />

letzte Mal gegen einen Fußball trat.<br />

(Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung<br />

des Verlages der Zeitschrift SO-<br />

ZIALEXTRA, VB Verlag, www.sozialextra.<br />

de erreichbar, entnommen).<br />

Hochglanz-<br />

Fankultur wird<br />

abgelehnt<br />

Das Bündnis aktiver Fußballfans (BAFF)<br />

will bei der WM mit „friedlichen<br />

Störmanövern“ Gegenpositionen<br />

beziehen. „Die Hochglanz-Fankultur,<br />

wie FIFA-Präsident Joseph Blatter sie<br />

sich wünscht, entspricht nicht unserer<br />

Vorstellung“, sagte BAFF-Sprecher<br />

Johannes Stender.<br />

Dem offiziellen WM-Motto „Zu Gast bei<br />

Freunden“ will die Fan-Initiative die Kampagne<br />

„Spielverderba 2006“ entgegen setzen.<br />

Das WM-Maskottchen „Goleo“ wird<br />

von BAFF in „Prolleo“ umbenannt und<br />

soll mit einer Flasche Bier in der Hand<br />

über die Fanmeilen marschieren, kündigte<br />

Stender an. Eines hat er dem Original-Löwen<br />

voraus: „Er wird eine Hose tragen“,<br />

verriet der BAFF-Sprecher. Zum „Spielverderba“-Programm<br />

sollen zudem Ausstellungen<br />

zur Korruption innerhalb der<br />

FIFA sowie zur weltweiten Migration von<br />

Fußballern gehören.<br />

Die Fan-Initiative befürchtet während der<br />

WM das verstärkte Ausbrechen nationalistischer<br />

Tendenzen in Deutschland. „Das<br />

Thema Rassismus ist gerade bei Länderspielen<br />

immer noch aktuell“, sagte Stender.<br />

Als Beispiel nannte er diskriminierende<br />

Rufe aus der deutschen Fankurve<br />

während des Länderspiels der Nationalmannschaft<br />

in Slowenien im vergangenen<br />

Jahr. Dort war es auch zu Ausschreitungen<br />

gekommen.<br />

Gerechtigkeit und sozialer Wandel<br />

„Jeder Mensch hat Anspruch auf eine<br />

soziale und internationale Ordnung, in<br />

welcher die in der vorliegenden Erklärung<br />

verbrieften Rechte voll verwirklicht<br />

werden können“ (UNO-Menschenrechtskonvention<br />

Art. 28)<br />

Wir kennen sie vermutlich alle bis zum<br />

Überdruss, die Statistiken und Trendaussagen,<br />

die belegen, dass der Abstand zwischen<br />

Reich und Arm, Managern in den<br />

Chefetagen und mittleren und unteren<br />

Angestellten immer größer wird – und<br />

zwar sowohl in den westlichen wie in den<br />

vom Sovietkommunismus oder der Apartheit<br />

befreiten Nationen, sowohl national<br />

wie international. Ich will die LeserInnen<br />

deshalb nicht mit Zahlen langweilen. Aber<br />

gerade dieser Überdruss ist aus Sicht der<br />

UNO-Menschenrechtskonferenz von<br />

1993 in Wien das allergrößte, schockierende<br />

Problem. Der schalltote Raum, in dem<br />

die massive Verweigerung und Verletzung<br />

von Sozialrechten erfolgt, die Verletzung<br />

von Freiheits- und Bürgerrechten leitet<br />

einen konzertierten Aufschrei aller möglichen<br />

Gruppierungen, NGOs, Amnesty<br />

International und Massenmedien bewirkt<br />

und nach dem sofortigen Eingreifen verlangt.<br />

Obwohl die Sonntagsrhetorik die<br />

Unteilbarkeit der Menschen beschwört,<br />

zeigt sich im politischen Alltag, dass die<br />

Verletzung des individuellen Eigentums<br />

– Freiheit – und der politischen Rechte als<br />

etwas viel Gravierenderes betrachtet wird<br />

als die Verletzung der Sozialrechte. Die<br />

knappeste Form der Folgen dieses schalltoten<br />

Raumes brachte Mary Robinson, die<br />

ehemalige Menschenrechts-Kommissarin<br />

der UNO, in einem Vortrag über die <strong>Welt</strong><br />

nach dem 11. September auf den Punkt:<br />

„Die Verletzungen der Menschenrechte<br />

von heute führen zu den Kriegen – und zu<br />

dem Terror von morgen.“<br />

Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu<br />

fragen, inwiefern das Gerechtigkeitsthema<br />

in die über hundertjährige Theorie- und<br />

Professionsgeschichte der <strong>Soziale</strong>n Arbeit<br />

Eingang gefunden hat. Als nächstes befasse<br />

ich mich mit einigen ungelösten Fragen im<br />

Verhältnis zwischen realwissenschaftlichem<br />

und sozialphilosophischem Zugang zur<br />

Thematik, um dann den Versuch zu wagen,<br />

die Elemente einer gerechten Gesellschaft<br />

zu bestimmen. Dieser wird ergänzt durch<br />

einen Vorschlag zur Frage, wer wem was<br />

schuldig ist.<br />

1. Etappen des Gerechtigkeitsdiskurses<br />

im Rahmen der sozialen Arbeit.<br />

Man darf aufgrund der Theoriebeiträge<br />

Ende des neunzehnten und Anfang<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts davon<br />

ausgehen, dass Gerechtigkeit eine zentrale<br />

handlungstheoretische (normative)<br />

Leitidee der sozialen Arbeit war. Ich<br />

erwähne hier nur zwei herausragende<br />

TheoretikerInnen: Für Alice Salomon<br />

(1912) war soziale Arbeit die Bemühung,<br />

das Gemeinschaftsleben in stärkere<br />

Übereinstimmung mit den Forderungen<br />

der Gerechtigkeit zu bringen. <strong>Soziale</strong><br />

Arbeit ist daher nicht Güte, nicht<br />

Wohltun, sondern nur gerechtes Handeln.<br />

Gerechtigkeit kann aber nur verwirklicht<br />

werden, wenn die Starken an einem<br />

Missbrauch ihrer Macht gehindert werden.<br />

Und auch die Freiheit der Schwachen<br />

kann nur gesichert werden, wenn das<br />

Silvia Staub-Bernasconi<br />

Gesetz sie vor der Übermacht der Starken<br />

schützt. Im Denken von Jane Addams<br />

und den Frauen von Hull House in den<br />

Universitätsniederlassungen in den Slums<br />

von Chicago stand der Zusammenhang<br />

zwischen Verteilungsrecht und Demokratie<br />

im Zentrum. Addams befasste sich in<br />

ihrem Buch „Demokratie und soziale<br />

Ethik“ im Besonderen mit der unter<br />

demokratischen Vorzeichen bestehenden<br />

Doppelmoral der Ober- und Mittelschicht<br />

in Bezug auf die Unterschicht. Ein Beispiel:<br />

Mit welcher Legitimation fordere eine<br />

freundliche Besucherin als Wohltäterin<br />

aus der Mittelschicht, die ohne jede<br />

Eigenleistung vom Einkommen ihres<br />

Mannes lebe, dass die alleinerziehende<br />

Wäscherin mit kleinen Kindern in<br />

unmenschlichen Arbeitsverhältnissen<br />

ihr Brot verdiene? Oder: Die Forderung<br />

zu sparen sei kriminell in einem Milieu,<br />

wo Menschen fast nichts zum Leben<br />

hätten und auch in Geldangelegenheiten<br />

auf gegenseitige Hilfe angewiesen seien.<br />

Für J. Addams gab es keinen konkreten<br />

Interaktionszusammenhang in unserer<br />

modernen Gesellschaft, der so klar das<br />

Fehlen von demokratischer Gleichheit und<br />

Verteilungsgerechtigkeit sichtbar macht,<br />

wie die soziale Arbeit. Entsprechend forderte<br />

sie die durchgehende Demokratisierung<br />

sozialer Arbeit sowohl in praktischer als<br />

auch theoretischer Hinsicht.<br />

Zwischen 1930 und 1970 haben wir einerseits<br />

Rassendiskurse, die nicht nur Gerechtigkeit,<br />

sondern auch eine pervertierte<br />

Rechtsstaatlichkeit auf die weiße, insbesondere<br />

arische Rasse beschränken. Andererseits<br />

ist sowohl in den USA als auch in<br />

Europa, mit eingeschlossen Deutschland,<br />

ein theoretischer Rückzug auf das Individuum,<br />

genauer auf Innerpsychisches,<br />

festzustellen. Es ist die Phase der Psychologisierung,<br />

Therapeutisierung und – in<br />

Deutschland – teilweise Pädagogisierung<br />

der sozialen Arbeit.<br />

Man hoffte, das fehlende Ansehen, das<br />

man sich mit den Schmuddelkindern der<br />

Gesellschaft einhandelte, würde sich mit<br />

einer Orientierung an Medizin, Psychiatrie<br />

und klinischer Psychologie einstellen. Es<br />

kam zu geradezu grotesken Vorstellungen,<br />

dass man mit einer bestimmten Klientel<br />

sozialer Arbeit nicht arbeiten könne, weil<br />

sie zuviel reale Probleme habe. Ein Beispiel:<br />

Eine junge Frau, die dringend eine<br />

Wohnung suchte, weil man ihr gekündigt<br />

hatte, wurde daraufhin gefragt, welche<br />

emotionale Bindung bzw. Ablösungsprobleme<br />

sie mit ihrer Mutter habe und ob<br />

sie nicht zuerst diese bearbeiten sollte.<br />

In Deutschland gab es den Beitrag von<br />

Hans Fassenberger, der festhielt, dass die<br />

Armutsprobleme eigentlich gelöst seien.<br />

Darum sei soziale Arbeit, auch psychosoziale<br />

Arbeit, nicht mehr auf ökonomische<br />

Probleme auszurichten.<br />

Die nach dem zweiten <strong>Welt</strong>krieg einsetzende<br />

Hochkonjunktur hatte die Version<br />

vom immerwährenden Aufschwung aufblühen<br />

lassen. Vor diesem Hintergrund<br />

entstanden 1960 die hoffnungsvollen<br />

großen Bürgerrechts- und Wohlfahrtsbewegungen<br />

und -programme in den USA,<br />

gesellschaftstheoretisch begründet durch<br />

die Theorie der fehlenden strukturellen<br />

Chancen von Clovard und Ohlin. Man<br />

nahm damals auch in der sozialen Arbeit<br />

Kenntnis von den sozialen Bewegungen<br />

in der Dritten <strong>Welt</strong> mit Bezug auf Paolo<br />

Freires – „Pädagogik der Unterdrückten“<br />

– und schließlich gab es die Studentenbewegung<br />

und Heimkampagne in Deutschland.<br />

Allerdings dominierte nicht die Verteilungs-<br />

sondern die ökonomisch-kapitalistisch<br />

determinierte Herrschafts- und<br />

Ausbeutungsthematik. Im Unterschied<br />

zur ersten Theoriephase entstanden all<br />

diese Beiträge in einer Zeit der Hochkonjunktur.<br />

Das jähe Ende dieser Bewegung in den<br />

USA wie in Europa zu Beginn der ersten<br />

Wirtschaftskrise ab 1980 ist bekannt. Im<br />

Schatten des Abschieds von Herrschafts–,<br />

Schichtungs- und Gerechtigkeitsfragen<br />

konnte sich ab etwa 1980 eine neue<br />

Leitidee – ohne große Parolen, fast<br />

unbemerkt – in der Ausbildung und Praxis<br />

sozialer Arbeit ausbreiten und festsetzen.<br />

Sie hat die soziale Arbeit auf kaum<br />

vorstellbare Art und Weise revolutioniert:<br />

Es ist die in fast alle gesellschaftspolitischen<br />

Bereiche importierte Idee der<br />

markt- und wettbewerbsorientierten,<br />

personenbezogenen Dienstleistung mit<br />

der Forderung nach Flexibilisierung von<br />

Bildungs-, Arbeits-, Rentenverhältnissen,<br />

von Gesetzesauslegungen und<br />

Vorschriften.<br />

Die Adressaten in der Sozialarbeit werden<br />

wieder neu als unwirtschaftlich definiert,<br />

weshalb sie so schnell wie möglich einem<br />

ausgetrockneten Arbeitsmarkt zugeführt<br />

werden sollen. Da dies wegen fehlender<br />

Stellen sowie der derzeitigen schwierigen<br />

Situation nicht gelingt und deshalb Sozialhilfe<br />

ansteht, kommt eine alte Denkfigur<br />

wieder zum Tragen: Wer Hilfe und<br />

Obhut benötigt, braucht keine Rechte<br />

bzw. Gerechtigkeit, sondern Kontrolle.<br />

Manche halten die großen Einkommensunterschiede<br />

zwischen Individuen und<br />

zwischen Ländern für notwendig und gerecht,<br />

da sie die Intelligenten und Tüchtigen<br />

belohnen und die Dummen und<br />

Leistungsscheuen bestrafen. Interessant ist<br />

in diesem Zusammenhang die Tatsache,<br />

dass in denjenigen Ländern, z. B. in den<br />

USA, in denen die Verteilungsfrage öffentlich-politisch<br />

gestellt werden darf und<br />

kann, sich sehr streitbare Gerechtigkeitsund<br />

Verteilungsdiskurse in die Organisationen<br />

verlagert haben. Dies hat zur Folge,<br />

dass diejenigen Menschen, die in keiner<br />

existenzsichernden Bildungs- oder Wirtschaftsorganisation<br />

Mitglied sind, so u. a.<br />

Schuldner, Lehrstellen- und Erwerbslose,<br />

Betagte, Kranke, Behinderte, SozialhilfeempfängerInnen<br />

und Papierlose, also die<br />

meisten AdressatInnen sozialer Arbeit, von<br />

diesem Diskurs und seinen Wirkungen<br />

ausgeschlossen sind.<br />

Was in letzter Zeit – aber ebenfalls kaum<br />

bemerkt – entstanden ist, sind dezidierte<br />

sozialpolitische Papiere der internationalen<br />

Professionsverbände, so z.B. das in<br />

Oslo verabschiedete Papier über Sozialarbeitsprinzipien<br />

von 1997. Dort heißt es u.<br />

a.:<br />

„Sozial Arbeitende sind den Prinzipen der<br />

sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Sozial<br />

Arbeitende haben die bestmögliche Unterstützung<br />

ohne Diskriminierung aufgrund<br />

der Basis des Geschlechts, des Alters, der

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