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Nr. 43 - Soziale Welt

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4 FUSSBALL<br />

„Keiner verliert ungern“<br />

Fußball zwischen Leidenschaft, Kontrolle<br />

und banalem Tiefsinn<br />

„Linker“ und „rechter“ Fußball<br />

Über Größenphantasien, symbolische Konflikte und politische Okkupation einer populären Sportart<br />

Prof. Dr. Titus Simon<br />

Auch wenn bei aktuellen Betrachtungen<br />

des Phänomens Fußball immer mehr<br />

dessen Rolle als Wirtschaftsfaktor und<br />

eine zunehmende Entfremdung von<br />

seinen Wurzeln – worunter sehr Unterschiedliches<br />

verstanden werden kann<br />

– betont werden, sind dessen prägende<br />

Eigenschaften auf gesamtkulturelle Phänomene<br />

unstrittig. Fußball wirkt in Lebensbereiche<br />

hinein, in denen er wirklich<br />

nichts zu suchen hat. In dem Teil der<br />

Sprache, der in besonderer Weise mediale<br />

Beachtung und Verbreitung findet, macht<br />

sich eine deutliche „Fußballerisierung“<br />

breit, was ganz besonders für Politikerreden<br />

gilt, in die gerne zentrale Begriffe<br />

des Fußballs und der Fußballberichterstattung<br />

aufgenommen werden. Im<br />

Landtagswahlkampf 2006 warb die CDU<br />

Sachsen-Anhalt am häufigsten mit dem<br />

Slogan: „Wir bleiben am Ball“. Abgebildet<br />

war neben dem Schriftzug ein Lederball,<br />

der dem ähnelte, der 1954 in Bern<br />

getreten wurde. Und seit die deutschen<br />

Intellektuellen in den 1970er-Jahren den<br />

Fußball, dem sie bis dahin mehrheitlich<br />

ignorierend oder entschieden ablehnend<br />

gegenüberstanden, zumindest als Objekt<br />

skurriler Deutungen entdeckt haben,<br />

werden wir mit immer neuen Versuchen<br />

konfrontiert, den Fußball als Projektionsfläche<br />

für gesellschaftspolitische Fantasien<br />

oder gar als Abbild für alte und neue<br />

Klassenantagonismen zu benutzen.<br />

Bei einer analytischen Betrachtung des<br />

sozialen Phänomens Fußball können wenigstens<br />

fünf Herangehensweisen gewählt<br />

werden.<br />

Zum einen sind die objektiven Tatsachen,<br />

die realen Verhältnisse im Fußballgeschäft<br />

zu betrachten. Fußball ist ein Riesengeschäft<br />

geworden, in dem alle Entscheidungen<br />

- von der Vermarktung des Stadionnamens<br />

über das Transfergeschäft<br />

und das Merchandising bis hin zur medialen<br />

Inszenierung und den darin enthaltenen<br />

ökonomischen Dimensionen – im<br />

strengen Sinne den Regeln des Marktes<br />

unterworfen sind. Dieses Geschäft wird<br />

von Kaufleuten dominiert, unter denen<br />

es natürlich erfolgreiche und weniger erfolgreiche<br />

gibt, uns sie bleiben auch dann<br />

Kaufleute, wenn sie bei Aufstiegs- oder<br />

Meisterschaftsfeiern einen Fanschal über<br />

den Boss-Anzug legen. Die Gesetze des<br />

Marktes bestimmen alles. Selbst der Kultund<br />

Kiezclub FC St.Pauli muss im nationalen<br />

Pokalwettbewerb seine Auflaufhymne<br />

„Hells Bells“ auf eine Kurzfassung reduzieren<br />

– weil das Fernsehen, die Sponsoren<br />

und der Deutsche Fußballbund (DFB) es<br />

so wollen.<br />

In dem Maße, wie Fußball Attraktivität<br />

gewann und zu einem Massenphänomen<br />

heranwuchs, wurden Versuche unternommen,<br />

Fußball für politische Ziele und Zwecke<br />

zu instrumentalisieren. Diese Tradition<br />

wurde bereits im italienischen Faschismus<br />

der 1920er und 1939er Jahre begründet.<br />

Noch ehe sich das Konzept einer linken<br />

Hegemonie der Alltagskultur ausbreiten<br />

konnte – Antonio Gramsci entwickelte<br />

hierzu elementare Wesenszüge erst in den<br />

faschistischen Gefängnissen – eroberte die<br />

siegreiche Rechte erfolgreich die Orte der<br />

Volkskultur, zu denen in Italien bereits<br />

früh das Fußballgeschehen gehörte. Die<br />

faschistische Bewegung okkupierte Lazio<br />

Rom, was bis heute in deren Faninszenierungen<br />

fortwirkt, und erprobte am Beispiel<br />

des vormals linken Arbeitervereins<br />

AC Bologna den erfolgreichen Umbau zu<br />

einem stramm faschistisch ausgerichteten<br />

Fußballclub, der – wie in Deutschland der<br />

FC Schalke 04 – seine größten Erfolge<br />

als gleichgeschalteter Verein während des<br />

Faschismus erzielte. Die Instrumentalisierung<br />

für den NS-Staat hat der deutsche<br />

Fußball vor allem als Gleichschaltung und<br />

der Zerstörung der Kultur der Arbeitersportbewegung<br />

innerhalb und außerhalb<br />

des Fußballes erlebt. Der Fußball wurde<br />

aber nicht wie in Italien und auch in Spanien<br />

zu einem herausgehobenen Manipulationsinstrument.<br />

Während italienische<br />

Faschisten in ihrer Leidenschaft für den<br />

Fußball durchaus authentisch waren –<br />

Mussolini besuchte regelmäßig Spiele von<br />

Lazio Rom – hatten die führenden Köpfe<br />

der NSDAP keine ausgeprägte Affinität zu<br />

dieser Sportart. Dies unterschied den Fußball<br />

vom Film, der anderen aufstrebenden<br />

Massenkultur der Dreißigerjahre des letzten<br />

Jahrhunderts. Hinzu kam der Umstand<br />

dass der deutsche Fußball weder 1936 bei<br />

den Olympischen Spielen in Berlin noch<br />

1938 bei der <strong>Welt</strong>meisterschaft in Italien<br />

besonders erfolgreich war und sich zudem<br />

die Hoffnung zerschlug, dass nach dem<br />

„Anschluss“ Österreichs eine Kombination<br />

deutscher und österreichischer Spielkultur<br />

zur „Unbesiegbarkeit“ führen würde. Dieser<br />

gewaltsamen und radikalen politischen<br />

Okkupation hat Silvio Berlusconi in den<br />

letzten 20 Jahren ein neues Gesicht gegeben.<br />

Nachfaschistische Ideologie wurde<br />

gepaart mit gewaltiger Kampfkraft und<br />

zunehmender Medienkontrolle.<br />

Hiervon zu unterschieden ist die meist<br />

emotional unterlegte Bündelung politisch<br />

eingefärbter Projektionen, die sich innerhalb<br />

der Fangemeinden entwickeln können.<br />

Diese knüpfen meist an die Antagonismen<br />

früherer Klassenkämpfe an, wobei<br />

die Ausdrucksformen der linken wie der<br />

rechten Fankultur tradierte Symboliken<br />

mit höchst aktuellen Themenstellungen<br />

und modernen Choreografien mischen<br />

können.<br />

Eine vierte Dimension besteht in der Allgegenwärtigkeit<br />

des Fußballgeschehens,<br />

der Kritiker wohl zu Recht ein erhebliches<br />

Manipulationspotenzial zuschreiben.<br />

Die moderne Variation von „Brot und<br />

Spiele(n)“ ist in unserem Kulturraum eng<br />

mit dem Fußballgeschehen verbunden.<br />

Geht man aber den Folgen dieser in der<br />

Tat vorhandenen Omnipräsenz stärker<br />

nach, so wird keineswegs ein geschlossenes<br />

System manipulativer Mechanismen und<br />

Wirkungen sichtbar. Die Dominanz des<br />

Fußballs in der öffentlichen Berichterstattung<br />

hat ambivalente Folgen. Zum einen<br />

kann sehr wohl bei einem bestimmten Teil<br />

der RezipientInnen davon ausgegangen<br />

werden, dass sie der Fußball davon abhält,<br />

sich anderen wichtigen gesellschaftlichen<br />

Angelegenheiten und Konflikten<br />

in einer Weise zuzuwenden, die sogar bis<br />

zur aktiven Einmischung in das politische<br />

Geschehen führen könnte. Auf der anderen<br />

Seite führt die Überbetonung der<br />

Bedeutung des Fußballgeschehens zu zunehmenden<br />

Unmutsbekundungen derer,<br />

die als KonsumentInnen den Mehrwert<br />

produzieren sollen. Selbst eingefleischten<br />

Fußballfans missfällt, dass Banalitäten aus<br />

dem Fußballgeschehen zunehmend auf<br />

den Titelseiten seriöser Tageszeitungen<br />

platziert werden. Die in der Regel als unumkehrbar<br />

wahrgenommene Ökonomisierung<br />

des Fußballs erfährt gelegentlich<br />

Grenzen, löst kritische Diskurse aus, die<br />

auch auf andere politische Themenstellungen<br />

überspringen können.<br />

Noch stärker als die bislang genannten<br />

Aspekte wirken in unserem Kulturraum<br />

heute jene sozialen Dimensionen, die dem<br />

Spiel eigentümlich sind. Spannungsaufbau<br />

und Spannungsabfuhr sind ebenso möglich<br />

wie das Erleben von Erwartung, Hoffnung,<br />

Freude und Enttäuschung. Zu streiten<br />

wäre hier lediglich darüber, ob es sich<br />

dabei um authentische Gefühlswelten oder<br />

um „Emotionen aus der Dose“ handelt.<br />

In diesem Zusammenhang gehören auch<br />

jene identitätsbildenden Projektionen, die<br />

sich aus dem sozialpsychologisch begründeten<br />

Phänomen der Suche nach einem<br />

„Größenselbst“ ergeben.<br />

Fußball als Objekt kultureller Hegemonieversuche<br />

and als Projektionsfläche für<br />

Imaginationen<br />

Die Redaktion meint:<br />

Während diese Zeitung zum Verkauf<br />

auf der Strasse ist, fiebert eine ganze<br />

Nation mit der schönsten Nebensache<br />

der <strong>Welt</strong>. König Fußball regiert und<br />

hält Hof in Deutschland – und alle<br />

Nationen kommen, 48 davon zum<br />

Spiel um die <strong>Welt</strong>meisterschaft und<br />

eine ziemlich missgestaltete Trophäe,<br />

der Rest einzeln oder in kleinen Gruppen<br />

zum Zuschauen als – hoffentlich<br />

– ziemlich willkommener Tourist in<br />

Sachen Kicken und Tore treffen.<br />

Diese <strong>Welt</strong>meisterschaft, für viele von<br />

uns die letzte in Deutschland, die wir<br />

wohl in unserem Leben sehen werden,<br />

ist geeignet, sich die Fülle dessen, was<br />

international unter Fußball gesehen<br />

wird und gespielt wird, vor Augen zu<br />

führen.<br />

In vielen Ländern der Entwicklungsstaaten<br />

und der Dritten <strong>Welt</strong> hat Fußball<br />

noch heute eine Funktion, die er<br />

einstmals auch in Deutschland hatte:<br />

Aus einem schuhlosen, in Lumpen<br />

gehüllten kleinen Buben einen internationalen<br />

Star zu machen, mit Kohle<br />

reichlich und als nationale Ikone geehrt<br />

wie ein zweiköpfiger Elefant.<br />

Fußball ist eben nicht nur ein Spiel,<br />

sondern er hatte seit seinen Anfängen<br />

stets eine gesellschaftliche und<br />

politische Dimension. Fußballspiele<br />

zwischen Nationen haben nicht selten<br />

die Dimensionen eines Ersatzkrieges,<br />

es hat auch schon kriegerische Auseinandersetzungen<br />

wegen eines Fußballspieles<br />

gegeben. Allerdings wahrscheinlich<br />

nur deshalb, weil man einen<br />

vorgeschobenen Anlass braucht,<br />

sich gegenseitig an die Hälse zu fahren.<br />

Und was zwischen Nationen gilt, gilt<br />

auch zwischen Klassen und Schichten<br />

in einer Gesellschaft.<br />

Den vielfältigen Beziehungen zwischen<br />

Fußball, Klassen und Politik<br />

geht der Artikel nach und zeigt, dass<br />

es sich um eine Geschichte mit vielen<br />

Seiten handelt, denn auch aus dem<br />

Sport geht Einfluss auf die Mentalität<br />

der Politiker aus.<br />

„Der VFB grüßt den tapferen Vietcong<br />

– Borussia grüßt die Kumpels in Hanoi“<br />

(Transparent, gezeigt während des Spiels<br />

VFB Stuttgart – Borussia Dortmund, im<br />

November 1967). Bis in die frühen 1970er<br />

Jahre war der deutsche Fußball keine Projektionsfläche<br />

für die politischen Diskurse<br />

der Zeit. Fankultur vollzog sich als konventionelle<br />

Interaktionen zwischen einem<br />

Ort und seinem Verein. Lebenslagen von<br />

Anhängern und Spielern waren noch miteinander<br />

vergleichbar. Fußball war Vehikel<br />

für die Entwicklung von totaler Identität,<br />

wobei die territoriale und symbolische Abgrenzung<br />

zum jeweiligen Lieblingsgegner<br />

immer eine große Bedeutung hatte. Vor<br />

allem in Italien und in Frankreich wurde<br />

das Fußballgeschehen weitaus früher in<br />

die Politisierungsprozesse einbezogen. Das<br />

Erstarken der Kommunistischen Partei<br />

Italiens und die größere Nähe zwischen<br />

linken Intellektuellen und politisierter Arbeiterklasse<br />

führten in diesem Land bereits<br />

in den 1990er Jahren zu einer Neuauflage<br />

des Versuches, eine linke kulturelle Hegemonie<br />

über relevante gesellschaftliche<br />

Bereiche herzustellen. Zumindest in den<br />

kommunistischen Hochburgen des Nordens<br />

gelang dies bis hinein in die städtische<br />

und dörfliche Festkultur, im Film und im<br />

Theater ohnehin, und nicht zuletzt auch<br />

im Fußball. Dies hatte zur Folge, dass in<br />

den 1970er Jahren die aktive Fanszene<br />

mehrheitlich links war – oder sich zumin-

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