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alten, umlautlosen Plural von Hand.<br />
Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache<br />
Sprecher 1:<br />
Plural von Hand, also: Den Händen entgleiten, oder zwischen zwei Händen zerrinnen, nicht<br />
aber: sich dem Griff einer einzelnen Hand entziehen. Bei dem Ausdruck ‚Abhanden kommen‟<br />
schwingt ein Entfernen – oder Sich-Entfernen - aus einem Dazwischen mit: Mit dem Plural<br />
vergegenwärtigt sich die Assoziation des Raumes zwischen zwei Händen. Wenn es dann nicht<br />
nur zwei, sondern viele Elemente sind, wird auch die räumliche Struktur komplexer, man<br />
braucht funktionierende Verknüpfungen, damit das System als Ganzes funktioniert: Artus, das<br />
Gelenk, Articulus, das kleine Gelenk. Artikulation bedeutet laut dem ‚Digitalen Wörterbuch<br />
der Deutschen Sprache‟: In der Musik „Abgrenzung der Töne gegeneinander‟, in der<br />
Zahnmedizin „Stellung der Zahnreihen zueinander‟.<br />
Möglicherweise ein unangenehmes Aufeinandertreffen. Kann man in der Musik, ähnlich wie<br />
in der Sprache, den Verbindungen die Härte nehmen, vielleicht wenn ein Pianist zwei Töne<br />
überlappen lässt, um eine sehr weiche, gesangliche Verbindung zu schaffen? Setzt eine<br />
gelingende Artikulation nicht ein Gefühl für Qualitäten voraus, jenseits von Abständen,<br />
Zahlen und Messbarkeit?<br />
Sprecher 2:<br />
"Das heißt Essenmarken und nicht Essensmarken", bellt der Unteroffizier den Rekruten an,<br />
"es heißt ja auch nicht Bratskartoffeln und Spiegelsei!" Diesen Spruch wiederholt er am Tag<br />
mindestens zwanzig Mal, und es bereitet ihm immer wieder Genuss, einem unbedarften<br />
Brenner eine laute Lektion in Sachen Amtsdeutsch erteilen zu können. Das gibt ihm ein<br />
Gefühl von Überlegenheit und Macht. Zum Glück kommen jedes Quartal neue<br />
Wehrpflichtige, die ihn garantiert fragen werden, ob sie bei ihm "Essensmarken" bekommen<br />
können. So wird der Unteroffizier noch viel zu bellen haben und sich immer wieder der<br />
Illusion von Überlegenheit und Macht hingeben können.<br />
Wenn ihm einer frech kommt, kann er sich auf die Dienstvorschriften berufen, denn da steht<br />
"Essenmarken". Und Vorschrift ist Vorschrift, wie jeder weiß, dagegen kann selbst ein<br />
Literaturnobelpreisträger nichts ausrichten. Außerhalb seiner Kaserne gilt diese Vorschrift<br />
allerdings nicht. Außerhalb seiner Kaserne sagen die meisten Menschen "Essensmarken", mit<br />
so genanntem Fugen-s, und das mit Fug und Recht. Dort herrscht Freiheit der Sprache, und<br />
Freiheit bedeutet Vielfalt und nicht selten Verunsicherung.<br />
Warum heißt es Mordsspaß, aber Mordopfer? Warum sagen wir Rindsleder, aber Rindfleisch?<br />
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