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Mut zur Lücke?<br />
Gedanken zur musikalischen Artikulation<br />
Sprecher 2:<br />
Legato heißt "gebunden". Der Bogen, der eine kleine oder größere Gruppe von Noten<br />
zusammenhält, bindet sie zusammen, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Auch das<br />
Wort Religion bedeutet ja "Bindung" des Menschen an das göttliche Gesetz, und daher ist ein<br />
legato-Vortrag vor allem für jede kultische Musik angebracht, darüber hinaus für alle<br />
gedankliche, reflektierende Musik. Wenn Melodie "strömende Kraft" ist, so ist legato ihr<br />
vollkommenster Ausdruck. Im staccato wird dieser Fluss unterbrochen: die Einzeltöne stellen<br />
sich gegen ihn, statt einer durchgezogenen Linie entsteht eine "punktierte", und der Ausdruck<br />
des staccatos ist daher "Ungebundenheit" in jedem Sinne. Da sich dem einen Begriff der<br />
Gebundenheit viele Arten der Ungebundenheit entgegenstellen lassen, so ist der<br />
Ausdrucksbereich des staccatos ungleich größer als der des legatos: Kraftgefühl, Übermut<br />
(etwa in den Scherzi von Beethoven), Humor, Leichtigkeit, Grazie, aber auch Angst, Zittern,<br />
Beben und anderes mehr kann durch staccato ausgedrückt werden. Hierbei spielen die<br />
Intervallbeziehungen eine große Rolle. Für Tonleiterschritte ist das legato der natürliche<br />
Ausdruck, für große Intervalle, die nur durch einen "Sprung", wie wir anschaulich sagen,<br />
überbrückt werden können, ist das staccato die gegebene Artikulation, für mittlere Intervalle<br />
… ist es das betonte, geringe Absetzen im Portato.<br />
Hermann Keller, Von der musikalischen Artikulation, Zeitschrift für Hausmusik 1952<br />
Sprecher 1:<br />
Wie eng bindet sich eine Artikulation an bestimmte Ausdruckscharaktere? Gibt es nahe<br />
liegende, möglicherweise sogar natürliche Zusammenhänge? Zunächst versteht man unter<br />
Artikulation in der Musik ja nur die Art und Weise, wie Töne miteinander verbunden sind,<br />
manchmal auch noch die Art der Tonbildung.<br />
Hermann Kellers Ausführungen bringen durch den unmittelbaren Bezug auf ein<br />
musikalisches Weltbild natürlich - anders als eine trockene Definition - Anschaulichkeit und<br />
Plastizität mit sich als, führen aber gerade dadurch auch zu erheblichen Verkürzungen. Schon<br />
sein Verweis auf die Religion ist symptomatisch: Er bleibt nicht bei der Übersetzung –<br />
nämlich Rückbindung; er spricht vom göttlichen Gesetz, eine Assoziation, die eine ganz<br />
erhebliche kulturelle Prägung besitzt - für einen Alttestamentariker wohl nachvollziehbar, für<br />
einen Buddhisten aber wenig verständlich. ‚Melodie‟ als strömende Kraft; ‚Legato‟ für<br />
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