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Gefahr vorbei, steht schon der nächste Satz vor meinen Augen, auch er hat keine Eingangstür.<br />
Wie soll ich mit dem Satz beginnen? Die Wörter werden immer eckiger und sperriger. Bald<br />
wachsen die einzelnen Buchstaben aus ihnen heraus. Wo beginnt ein Wort? Wo endet es?<br />
Mein Mut, der aus einer einzigen Zunge besteht, schrumpft, bis er kleiner wird als ein<br />
Komma. Mit winzigen Füßen muss ich jeden Buchstaben hochklettern, ohne sehen zu können,<br />
was hinter ihm steckt. Jeder Laut ein Sturz. Die Stimme wird immer leiser, während die<br />
Schriftzeichen immer lauter werden.<br />
Yoko Tawada, Zungentanz, in: Überseezungen<br />
Sprecher 1:<br />
Es ist durchaus möglich, die Frage der Artikulation in einem Stück von anderen Mitteln der<br />
Gestaltung unabhängig zu betrachten. Es gehört zur Professionalität des Handwerks eines<br />
Interpreten, dass er verschiedene Varianten bei ansonsten unverändertem Kontext ausprobiert,<br />
um sich dem stimmigsten Bild versuchsweise und Schritt für Schritt anzunähern. Letztlich<br />
entscheidet aber das Zusammenspiel aller Faktoren darüber, welche Wahl das intendierte<br />
Klangbild am sinnfälligsten herausarbeiten kann. Tempo, Rhythmus, Betonung, Lautstärke,<br />
Spielstil, Tongebung, bestimmte Eigenschaften des Instrumentes, die Größe und<br />
Beschaffenheit des Saales, selbst die Interaktion mit dem Publikum - es gibt kaum einen<br />
Aspekt, der in der Praxis auf der Bühne die Stimmigkeit der Artikulation nicht mit<br />
beeinflussen kann. Nicht umsonst haben große Virtuosen wie Vladimir Horowitz oftmals<br />
darauf hingewiesen, dass sie ein Stück nie zweimal genau gleich spielen, ein Phänomen, das<br />
die Artikulation nicht weniger betrifft als andere Aspekte der Gestaltung. Diese<br />
Unvorhersehbarkeit macht letztlich die Lebendigkeit des Spielens aus.<br />
Die spezifische Beziehung, die die Artikulation mit anderen Parametern eingeht, hängt vom<br />
einzelnen Stück und dem Spieler bzw. dessen Interpretation ab. Nichtsdestoweniger bilden die<br />
Instrumente aber auch von sich her schon eine eigene Idiomatik aus, die mit der Art ihrer<br />
Tonerzeugung zusammenhängt und jeweils ein eigenes Mischungsverhältnis der Parameter<br />
untereinander nahelegt.<br />
Beim Klavier besteht die unmittelbarste Bindung vielleicht an die Dynamik, die hier schon im<br />
Einzelton gegeben ist. Ein Pianist hat nur zwei Möglichkeiten diesen zu beeinflussen - und bei<br />
beiden hat er dafür nur Bruchteile von Sekunden: Am Beginn des Tones über die Dynamik<br />
und die Geschwindigkeit des Anschlages, an seinem Ende über das, was am Klavier die<br />
Artikulation ausmacht, nämlich Zeitpunkt und Art der Wegnahme des Tones. Während des<br />
Verklingens ist eine direkte Einflussnahme nicht mehr möglich, es sei denn durch Hinzu-<br />
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