Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - Kinderheime in ...

Wahrheit, der Gerechtigkeit und Sittlichkeit, und es ist mit Recht gesagt worden, dass
der Begriff der Verwahrlosung problematisch wird, wenn alle verwahrlost sind. (…)
Man kann von denen, die der Belastungsprobe, der sie die Gesellschaft und das
Schicksal heute aussetzt, nicht mehr gewachsen sind, weil sie über ihre Kraft geht,
schwerlich erwarten, dass sie diese Gesellschaft für bevollmächtigt halten, über sie
den Stab zu brechen und die sittlichen Werturteile zu fällen, die gemeinhin die
Voraussetzung für die FE abgeben. Und dem Richter fällt es deshalb schwer, solche
Werturteile auszusprechen. Die FE ist daher in den Augen der Armen eine ihnen
vorbehaltene soziale Brandmarkung, eine Strafe für die Armut, unvereinbar mit der
Gleichheit vor dem Gesetz, und die Krise der FE wird damit zum Bestandteil der
allgemeinen Krisis des Vertrauens und der Achtung von Mensch zu Mensch, durch
die unsere Zeit gekennzeichnet ist.“ Weiter heißt es in dem Referat: „Dem Wort
Verwahrlosung (…) haftet heute der subjektiv verächtliche Sinn an, dass der
Verwahrloste auf einer tiefen sittlichen Ebene stehe und dass er an diesem Zustande
selbst schuld sei. Ein solcher Ausdruck musste deshalb auf die Dauer notwendig zur
Diffamierung der Fürsorgeerziehung erheblich beitragen.“
Auf derselben AFET-Fachtagung vertrat der Reformpädagoge Eyferth aus
erziehungswissenschaftlicher Sicht ähnliche Standpunkte und Forderungen wie der
Jurist Vinz.
Die Rechtsgrundlagen der „Heimunterbringung“ und ihre Praktizierung durch
Jugendämter und Vormundschaftsgerichte
Einiges dazu habe ich im Zusammenhang mit dem Verwahrlosungsbegriff schon
ausgeführt. Ich will jetzt noch etwas systematischer auf dieses Thema eingehen.
Auf mannigfachen Wegen wurde die Aufmerksamkeit des örtlichen Jugendamts auf
Familien, Kinder und Jugendliche gerichtet. Die soziale Kontrolle im Wiederaufbau-
Deutschland vor der Achtundsechziger-Bewegung war dicht und danach in Abwehr
der kulturellen Liberalisierungstendenzen der Gesellschaft noch ein gutes Jahrzehnt,
vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Milieu, wirksam. Nachbarn, LehrerInnen,
Kirchengemeinden, Lehrherren und andere gaben Hinweise oder es handelte sich
um seit längerem im Gemeinwesen bekannte sogenannte Problemfamilien. Von
Geburt an waren fast alle unehelich geborenen Kinder und ihre Mütter unter der
Aufsicht des Jugendamts durch die Institution der „Amtsvormundschaft“, die in den
§§ 32-48 des JWG, die ohne wesentliche Änderungen in das JWG von 1961
übernommen wurden, geregelt waren. Erst um 1970 wurde durch eine Verbesserung
der Rechtsstellung der unehelichen Mutter dieser Automatismus durch die
Umwandlung in Pflegschaften mit vorwiegend unterhaltsrechtlichen Aufgaben
geändert.
In den ersten Nachkriegsjahren bis etwa 1950 wurden 10% aller Kinder in den
westdeutschen Besatzungszonen beziehungsweise der frühen Bundesrepublik
unehelich geboren. Danach pendelte sich die Rate bis in die siebziger Jahre um 5%
herum ein. Das bedeutete in absoluten Zahlen der fünfziger Jahre nach einer
Statistik, die die „unehelichen Kinder unter fünfzehn Jahren“ erfasste, dass während
dieses Jahrzehnts immer circa sechshunderttausend Kinder dieser Altersgruppe als
„unehelich geboren“ lebten. Ungefähr ein Drittel dieser Kinder und Jugendlichen in
der Heimerziehung gehörten zu dieser Gruppe. In den Säuglings- und
Kleinkinderheimen lag der Anteil der unehelich geborenen zwischen 70 und 80%.
Diese Kinder führten innerhalb des Systems der Heimerziehung lange Zeit ein
Schattendasein, da sie, anders als Jugendliche, keinen Widerstand leisten konnten
und die meisten von ihnen überhaupt keinen Anschluss an eine Herkunftsfamilie
13