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Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre - Kinderheime in ...

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gewachsenen, fest verkrusteten Strukturen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erziehungsarbeit Freistatts konnten<br />

jedoch nicht <strong>in</strong>nerhalb weniger <strong>Jahre</strong> aufgelöst werden. Die Reform vollzog sich im<br />

H<strong>in</strong>blick auf die verschiedenen Aspekte <strong>der</strong> Erziehungsarbeit – wie auch <strong>in</strong> den<br />

e<strong>in</strong>zelnen Erziehungshäusern – <strong>in</strong> unterschiedlichem Tempo. In manchen Nischen<br />

hielten sich autoritäre Leitungsstrukturen, konservative Erziehungskonzepte <strong>und</strong><br />

restriktive Erziehungspraktiken bis <strong>in</strong> die 1970er <strong>Jahre</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Die Gleichzeitigkeit<br />

des Ungleichzeitigen war e<strong>in</strong> wesentliches Kennzeichen des Reformprozesses.<br />

Dennoch: Um 1970 war <strong>der</strong> Po<strong>in</strong>t of no Return e<strong>in</strong>deutig überschritten – e<strong>in</strong>e<br />

Rückkehr zu den alten Verhältnissen war schlichtweg nicht mehr vorstellbar.<br />

Erklärungsversuche<br />

Die Autor<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Autoren verb<strong>in</strong>den mit <strong>der</strong> vorliegenden Publikation die Hoffnung,<br />

Analyse- <strong>und</strong> Interpretationsangebote entwickelt zu haben, die auch <strong>in</strong> ähnlichen<br />

Kontexten mit Gew<strong>in</strong>n angewandt werden können. Das oben umrissene<br />

Gr<strong>und</strong>dilemma ist <strong>in</strong> Diskussionen unter ehemaligen Beteiligten <strong>der</strong> Freistätter<br />

Heimerziehung während <strong>der</strong> letzten zwei <strong>Jahre</strong> wie<strong>der</strong>holt <strong>in</strong> die Frage gefasst<br />

worden: „Wie kann e<strong>in</strong> Diakon, <strong>der</strong> ‚dem Herrn Jesu dienen will <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Elenden<br />

<strong>und</strong> Armen’, zum Teil e<strong>in</strong>er Subkultur <strong>der</strong> Gewalt werden?“ Im Folgenden se<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>ige wichtige Erklärungsmomente benannt:<br />

• Die durchgängig hohe Belegungsdichte <strong>der</strong> Erziehungshäuser stellte von<br />

Anfang an e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung dar. Hier trafen sich die f<strong>in</strong>anziellen<br />

Interessen <strong>der</strong> Kostenträger, <strong>der</strong>en Verhalten zugleich Ausdruck <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Wertschätzung des Arbeitsfeldes war, mit den Interessen <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>richtung.<br />

• E<strong>in</strong>e Konzentration von „schweren Fällen“ hat es <strong>in</strong> Freistatt nachweislich<br />

gegeben. Hier kam es zu e<strong>in</strong>em verhängnisvollen Zusammenspiel von diakonischem<br />

Selbstverständnis e<strong>in</strong>erseits, für die „Verlorenen <strong>und</strong> Verworfenen“ da zu se<strong>in</strong>, <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Tendenz <strong>der</strong> Behörden <strong>und</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit an<strong>der</strong>erseits, unangepasste,<br />

schwierige Jugendliche auszugrenzen <strong>und</strong> abzuschieben.<br />

• E<strong>in</strong> – nach heutiger fachlicher E<strong>in</strong>schätzung – dauerhafter, strukturell<br />

bed<strong>in</strong>gter Personalmangel war Kennzeichen <strong>der</strong> Erziehungsarbeit – nicht nur <strong>in</strong><br />

Freistatt.<br />

• Das hatte schwerwiegende Folgen für die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen: E<strong>in</strong>e 90-<br />

St<strong>und</strong>en-Woche war bei den Erziehern ke<strong>in</strong>e Seltenheit.<br />

• H<strong>in</strong>zu kam e<strong>in</strong>e – wie<strong>der</strong>um aus heutiger Sicht – unzureichende Ausbildung<br />

des Erziehungspersonals. Damit unterschied sich Freistatt nicht von <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en<br />

Situation <strong>in</strong> den Fürsorgeerziehungse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> <strong>1950er</strong>/60er <strong>Jahre</strong>. H<strong>in</strong>zu kam<br />

aber e<strong>in</strong>e spezifische Komponente:<br />

• In <strong>der</strong> Westfälischen Diakonenanstalt Nazareth gab es bis Ende <strong>der</strong> <strong>1950er</strong><br />

<strong>Jahre</strong> e<strong>in</strong> tief e<strong>in</strong>gewurzeltes Misstrauen gegen jede Form „sem<strong>in</strong>aristischer<br />

Ausbildung“ <strong>und</strong> erhebliche Vorbehalte gegen pädagogische Fachlichkeit. Den Kern<br />

des Freistätter Erziehungspersonals bildeten ganz überwiegend Diakone <strong>und</strong><br />

Diakonenschüler aus Nazareth. Obgleich die Fürsorgeerziehung zu dieser Zeit e<strong>in</strong>es<br />

<strong>der</strong> größten Arbeitsfel<strong>der</strong> <strong>der</strong> Diakonenanstalt darstellte, orientierte sich doch die<br />

Ausbildung <strong>in</strong>haltlich eher an <strong>der</strong> Pflege von beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten <strong>und</strong> psychisch kranken<br />

Menschen.<br />

• Beson<strong>der</strong>es Gewicht wurde <strong>in</strong> den Diakonenanstalten bis weit <strong>in</strong> die <strong>1960er</strong><br />

<strong>Jahre</strong> auf die Vertiefung e<strong>in</strong>er spezifischen Form <strong>der</strong> Frömmigkeit gelegt, die mit <strong>der</strong><br />

Anerkennung <strong>der</strong> Ordnungen Nazareths (Gehorsam gegen die Direktion,<br />

Anerkennung des Sendungspr<strong>in</strong>zips <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verlobungsordnung) – verwoben war.<br />

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