2 SPIELZEIT 07/08 Begleitendes Material zu ULRIKE ... - Theater Ulm
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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />
Michael Sommer<br />
„DIE GÖTTER: SCHILLER, SHAKESPEARE, BÜCHNER, MARX“<br />
Elfriede Jelinek beendet den Stücktext von <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />
dankenswerterweise mit Quellenangaben – dem Titel dieses Abschnitts. Wenn auch<br />
kryptisch gehalten, sind diese Hinweise doch sehr hilfreich, weil sie Dramaturgen<br />
und Literaturwissenschaftlern das Suchen erleichtern... „Irgendwoher kenn ich doch<br />
diese Formulierung“. Der Produktionsprozess der Nobelpreisträgerin ist mit einem<br />
Fleischwolf verglichen worden, in den viele verschiedene Dinge eingefüllt werden,<br />
und aus dem am Ende eine gleichförmige Jelinekwurst herauskommt. Die Autorin<br />
hat auch in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART eine Vielzahl unterschiedlichster Texte<br />
assimiliert – in diesem Fall den wichtigsten sogar schon in den Titel integriert,<br />
nämlich Schillers MARIA STUART. Die drei Teilstücke des Jelinekschen Stückes sind<br />
parallel <strong>zu</strong> Schiller gebaut: Der erste Akt gehört dort Maria Stuart, der<br />
eingekerkerten Königin der Schotten, im zweiten Akt wird ihre Kontrahentin<br />
Elisabeth I. aufgebaut, und im dritten Akt kommt es <strong>zu</strong>r Begegnung und direkten<br />
Auseinanderset<strong>zu</strong>ng zwischen den beiden Königinnen. Entsprechend gehört Ulrike<br />
der erste Teil bei Jelinek, Gudrun der zweite, und im dritten findet der Showdown<br />
statt. Weiter gehende Parallelen, etwa zwischen Baader und Leicester und/oder<br />
Mortimer, klingen zwar an, sind aber nicht konsequent ausgeführt. So stand der<br />
„historische“ Baader einfach nicht zwischen den beiden RAF-Protagonistinnen, auch<br />
hatte Ulrike Meinhof wohl keinen Vertrauten, der einem Mortimer gleich käme. Das<br />
zweite große Palimpsest, das Jelinek in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART produziert, bezieht<br />
sich auf Shakespeares RICHARD III. Schon die erste Zeile des Stücks zitiert einen<br />
„Sohn“ aus dem Königsdrama, die Rollenbezeichnung „Die Prinzen im Tower“ für<br />
die Kinder der Ulrike weist ihnen eine ähnlich hilflose Spielballsituation <strong>zu</strong>, wie sie<br />
den rechtmäßigen Thronfolgern bei Shakespeare <strong>zu</strong>kommen, die von ihrem Onkel<br />
Richard Gloucester im Tower gefangen gehalten und später ermordet werden. Sie<br />
wachsen in eine tödliche politische Situation herein, stellen naiv-kindliche Fragen<br />
und müssen sich orientieren. Im Gegensatz <strong>zu</strong> Shakespeare lässt Jelinek ihre<br />
Prinzen freilich nicht sterben, ihre Stimmen tauchen in der <strong>Ulm</strong>er Inszenierung in<br />
der Gestalt von heutigen Linken, attac-Aktivisten auf. Der dritte große literarische<br />
Be<strong>zu</strong>gspunkt für Jelinek ist Büchners DANTONS TOD, das große Revolutionsdrama.<br />
„Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ ist das Thema, das in beiden Stücken eine<br />
große Rolle spielt. Mechanismen der Radikalisierung und Fraktionierung – bei<br />
Büchner die Robespierre-Fraktion gegen Dantons-Fraktion, bei Jelinek Ulrike gegen<br />
Gudrun/Andreas – werden durch Zitate in Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>einander gesetzt. Viele<br />
Originalzitate von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, aus ihren Briefen, Schriften<br />
der RAF, aus dem Info-System der RAF-Gefangenen und anderen Quellen sind<br />
ebenfalls in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART eingeflossen. Überaschenderweise bezieht<br />
Jelinek auch Werke über die RAF wörtlich mit ein, so Stefan Austs bekanntes Buch<br />
„Der Baader-Meinhof-Komplex“ und Butz Peters’ „Tödlicher Irrtum: Die Geschichte<br />
der RAF“. Für alle Texte, die Jelinek in ihr Stück miteinbezieht, gilt, dass sie nicht<br />
nur zitiert und verändert, sondern auch kommentiert, sich <strong>zu</strong> Text und Autor verhält.<br />
Ihr Text ist immer auch eine Reflexion über Literatur und über das Schreiben, auch<br />
über ihre Rolle als Autorin. Oft hat man den Eindruck, dass die Stimme der Autorin<br />
durch die vielen fließend ineinander übergehenden Stimmen des Textes geistert. Ein<br />
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