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2 SPIELZEIT 07/08 Begleitendes Material zu ULRIKE ... - Theater Ulm

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<strong>SPIELZEIT</strong> <strong>07</strong>/<strong>08</strong><br />

<strong>Begleitendes</strong> <strong>Material</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />

Königinnendrama von Elfriede Jelinek<br />

Premiere 29.09.<strong>07</strong> im Podium<br />

Zusammengestellt von<br />

Schauspieldramaturg<br />

Michael Sommer<br />

Tel. <strong>07</strong>31/161 44 02<br />

m.sommer@ulm.de<br />

Zu dieser <strong>Material</strong>sammlung........................................................................................ S. 2<br />

Biografisches <strong>zu</strong> Elfriede Jelinek................................................................................. S. 3<br />

Ich möchte seicht sein<br />

Jelinek über Jelinek (1) ....................................................................................................... S. 4<br />

I m Abseits<br />

Jelinek über Jelinek (2) – Auszüge aus ihrer Nobelpreisrede................................................... S. 7<br />

Stationen der RAF bis <strong>zu</strong>m „Deutschen Herbst“<br />

Ereignisse auf dem Weg in den Terror................................................................................... S. 11<br />

Das Konzept Stadtguerilla<br />

Der vielleicht wichtigste programmatische Text der RAF, Ulrike Meinhof <strong>zu</strong>geschrieben........... S. 13<br />

„Die Götter: Schiller, Shakespeare, Büchner, Marx“<br />

Über die Prä-Texte, die im Stück verarbeitet sind.................................................................... S. 32<br />

Friedrich Schiller: Maria Stuart<br />

Auszüge aus Schillers Königinnendrama, die bei Jelinek auftauchen...................................... S. 33<br />

Georg Büchner: Dantons Tod<br />

Passagen aus Büchners Revolutionsdrama, recycelt von Elfriede Jelinek................................. S. 36<br />

„Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“<br />

Zitate aus Gudrun Ensslins Briefen, die in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART vorkommen....................... S. 37<br />

Robert Frost: Stopping by Woods on a Snowy Evening<br />

Die letzte Passage des Stücks (noch einmal der Engel) bezieht sich auf dieses Gedicht.............. S. 38<br />

Erich Fried: Gedichte<br />

Politische Lyrik aus den Sechzigern und Siebzigern............................................................... S. 39<br />

Jürgen König: Interview mit Bettina Röhl<br />

Die Tochter Ulrike Meinhofs über ihr Buch „So macht Kommunismus Spaß“........................... S. 46<br />

Stefanie Fla mm und Barbara Nolte: Von der Mutter eingeholt<br />

Über Felix Ensslin, den Sohn von Gudrun Ensslin.................................................................. S. 51<br />

Literatur/Filme/Internetressourcen <strong>zu</strong> Elfriede Jelinek und der RAF...................... S. 54<br />

Quellenangaben............................................................................................................... S. 56<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Michael Sommer<br />

ZU DIESER MATERIALSAMMLUNG<br />

Das ‚Königinnendrama’ <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART hat seinen Weg auf den Spielplan<br />

des <strong>Theater</strong>s <strong>Ulm</strong> auch deshalb gefunden, weil sich 20<strong>07</strong> der so genannte „Deutsche<br />

Herbst“ <strong>zu</strong>m dreißigsten Mal jährt. Der Terrorismus der Roten Armee Fraktion<br />

markiert eine Wende der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte – im Gegensatz<br />

<strong>zu</strong>r Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit dem Nationalsozialismus steckt die Beschäftigung mit<br />

dem Terror von links jedoch noch in den Anfängen. Selbst solche grundsätzlichen<br />

Fragen wie die Einschät<strong>zu</strong>ng der Protagonisten der RAF und ihrer Taten werden<br />

keineswegs von allen Seiten gleich vorgenommen. Stefan Aust bediente sich für den<br />

Titel seines Standardwerkes <strong>zu</strong>recht des Begriffes „Komplex“: Das Phänomen RAF<br />

ist eben noch kein in Stein gemeißeltes Kapitel der Geschichte, sondern konstituiert<br />

sowohl massenpsychologisch ein Komplex als auch eine äußerst komplexe<br />

soziologische und politische Erscheinung. Wer könnte sich mit diesem Thema<br />

besser auseinander setzen, als die österreichische Spezialisten für die komplexeste<br />

aller möglichen Herangehensweisen ans <strong>Theater</strong>, Elfriede Jelinek. In der ihr eigenen<br />

Sprache öffnet sie Denk- und Assoziationsräume, die von den weiblichen<br />

Protagonisten der RAF, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin bewohnt werden. Als<br />

Schatten der historischen Figuren besuchen die beiden ‚Königinnen’ (eine Parallele<br />

<strong>zu</strong> Schillers MARIA STUART) Topoi ihrer Biografien. Sie drehen sich um sich selbst<br />

und ecken immer wieder aneinander, die Königinnen, aber auch andere Figuren<br />

treten auf den Plan. So setzt sich Ulrike mit dem „Chor der Greisen“ auseinander,<br />

den Vertretern der Vätergeneration, die ihre im Nationalsozialismus begonnene<br />

Karriere ungebrochen in der jungen Bundesrepublik fort führen konnten. Zwischen<br />

ihr und den Vätern stehen die Kinder, „Die Prinzen im Tower“ (in Anlehnung an<br />

Richard III.), die Züge von Meinhofs Töchtern tragen, aber auch generell für die<br />

Generation der Nachgekommenen stehen. Die schillerndste Figur, die Jelinek<br />

benennt, ist „Ein Engel aus Amerika, aus der Zukunft kommend, wild, aber sinnlos,<br />

mit den Flügeln schlagend“. Er spricht mit vielen Stimmen – und so vielfältig taucht<br />

er auch in der <strong>Ulm</strong>er Inszenierung auf. Es ist ein bunter, vielfältiger, auch tief<br />

gehender und bohrender Abend, der Sie, das Publikum, erwartet.<br />

Die <strong>Material</strong>ien, die ich hier als Marschgepäck <strong>zu</strong>sammen stelle sind eher eine „Hilfe<br />

<strong>zu</strong>r Selbsthilfe“ als ein Versuch, umfassend auf das Stück und den Abend<br />

vor<strong>zu</strong>bereiten. Vielleicht macht der eine oder andere Aus<strong>zu</strong>g aber Lust, weiter <strong>zu</strong><br />

lesen. Deshalb eine Liste mit Literatur, Filmen und Internet-Ressourcen <strong>zu</strong>m<br />

Thema. Es gibt neben einer kleinen biografischen Information <strong>zu</strong>r Autorin zwei Texte<br />

von Jelinek über Jelinek, der eine schon älter, aber treffend (ICH MÖCHTE SEICHT<br />

SEIN), der andere ein Aus<strong>zu</strong>g aus ihrer Nobelpreisrede. Einige Gedichte von Erich<br />

Fried geben sehr gut das Klima der späten Sechziger und Siebziger wieder, ebenso<br />

Auszüge aus den „Schriften“ der RAF: sie machen deutlich, wie und über welche<br />

Themen die Terroristen dachten. Weiterhin Textpassagen aus Schiller, Büchner und<br />

Texten von Gudrun Ensslin, sowie ein Gedicht von Robert Frost, die Elfriede Jelinek<br />

in ihr Stück einbindet, sowie eine Einführung <strong>zu</strong>r Intertextualität im Stück: DIE<br />

GÖTTER: SCHILLER, SHAKESPEARE, BÜCHNER, MARX. Ein Interview mit Ulrike<br />

Meinhofs Tochter Bettina Röhl, sowie ein Artikel über Felix Ensslin, den Sohn von<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Gudrun Ensslin, thematisieren die Perspektive der Kinder der Terroristen. Wer sich<br />

inhaltlich über die RAF und die Figuren des Stückes informieren möchte, sei an die<br />

Standard-Einführungen von Stefan Aust und Butz Peters verwiesen, man findet aber<br />

auch im Internet alle wichtigen Informationen. Nur einen kurzer Abriss der<br />

wichtigsten Stationen der RAF bis <strong>zu</strong>m „Deutschen Herbst“ enthält diese<br />

Sammlung. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal auf die Installation<br />

hinweisen, die wir begleitend <strong>zu</strong> <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART in den Foyers des <strong>Theater</strong>s<br />

<strong>Ulm</strong> organisiert haben: Im Eingangsbereich finden Sie die Abteilung „ulmLINKS“ –<br />

die Verbindungen der RAF <strong>zu</strong> <strong>Ulm</strong>, <strong>zu</strong> <strong>Ulm</strong>ern und <strong>zu</strong> unserem <strong>Theater</strong><br />

dokumentiert. In der PODIUM.bar befindet sich die Abteilung „denkSTOFF“, in der<br />

wir Ereignisse, Fakten und Geschichten <strong>zu</strong>m Thema RAF <strong>zu</strong>sammen gestellt haben,<br />

die in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART eine große Rolle spielen, und so erschreckend wie<br />

markant sind. Weiterhin haben wir ein breites Spektrum an Begleitveranstaltungen<br />

für das Stück organisiert; neben Einführungsveranstaltungen und<br />

Publikumsgesprächen bieten wir, gemeinsam mit dem Stadthaus und der<br />

Buchhandlung Gondrom, Vorträge, Expertengespräche und Autorenlesungen an.<br />

Außerdem führen wir unsere Kooperation mit dem Mephisto Kino mit zwei RAF-<br />

Filmen fort, es werden DEUTSCHLAND IM HERBST von Fassbinder, Schlöndorff u.a.,<br />

sowie BAADER von Christopher Roth gezeigt. Das genaue Programm entnehmen Sie<br />

bitte unserem Monatsspielplan.<br />

Michael Sommer<br />

BIOGRAFISCHES ZU ELFRIEDE JELINEK<br />

Elfriede Jelinek wurde am 20.10.1946 in Mürz<strong>zu</strong>schlag in der Steiermark geboren.<br />

Als Schülerin begann sie 1960 Orgel, Blockflöte und später auch Komposition am<br />

Wiener Konservatorium <strong>zu</strong> studieren. Ihr Vater Friedrich Jelinek (der zwar jüdischer<br />

Herkunft war, aber als Chemiker in kriegswichtiger Forschung tätig und daher im<br />

Nationalsozialismus der Verfolgung entging) litt seit den frühen fünfziger Jahren an<br />

einer psychischen Krankheit. Jelinek studierte ab 1964 <strong>Theater</strong>wissenschaft und<br />

Kunstgeschichte an der Universität Wien, musste ihr Studium jedoch nach einigen<br />

Semestern wegen einer kritischen psychischen Verfassung abbrechen. Mitte der<br />

Sechziger verfasste sie erste Gedichte. Für das gesamte Jahr 1968 verließ Elfriede<br />

Jelinek ihr Elternhaus nicht mehr, freiwillig isoliert. Ihr Vater verstarb im darauf<br />

folgenden Jahr in einer psychiatrischen Klinik. Sie engagierte sich seit 1969 in der<br />

Studentenbewegung und absolvierte 1971 ihre Orgelabschlussprüfung am Wiener<br />

Konservatorium. In den Siebzigern schrieb sie erste Hörspiele, z.B. WENN DIE<br />

SONNE SINKT IST FÜR MANCHE SCHON BÜROSCHLUSS, das 1974 von der Zeitung<br />

"Die Presse" <strong>zu</strong>m erfolgreichsten Hörspiel des Jahres erklärt wurde. 1972 Aufenthalt<br />

in Berlin, 1973 Aufenthalt in Rom. Seit 1974 verheiratet mit Gottfried Hüngsberg, der<br />

in den sechziger Jahren dem Kreis um Rainer Werner Fassbinder angehörte. 1974<br />

Eintritt in die Kommunistische Partei Österreichs. Hörspiele (u.a. DIE<br />

BIENENKÖNIGE, 1976; DIE AUSGESPERRTEN, 1978) und Überset<strong>zu</strong>ngen (Thomas<br />

Pynchon: DIE ENDEN DER PARABEL, 1976). Das Drehbuch DIE AUSGESPERRTEN<br />

(nach dem gleichnamigen, 1980 erschienen Roman) wurde 1982 verfilmt.<br />

Poetologische Essays und weitere Überset<strong>zu</strong>ngen. Zusammenarbeit mit der<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Komponistin Patricia Jünger (DIE KLAVIERSPIELERIN, 1988). 1990 Filmdrehbuch<br />

MALINA <strong>zu</strong>sammen mit Werner Schroeter, nach dem Roman von Ingeborg<br />

Bachmann. 1991 Austritt aus der KPÖ gemeinsam mit den beiden Parteivorsitzenden<br />

Susanne Sohn und Walter Silbermayer. Als Reaktion auf die Rezeption ihres Romans<br />

LUST und des <strong>Theater</strong>stücks RASTSTÄTTE und auf Grund von persönlichen<br />

Angriffen zieht sich die Autorin 1995 aus der österreichischen Öffentlichkeit <strong>zu</strong>rück.<br />

Sie erlässt ein Aufführungsverbot ihrer Stücke für die Staatstheater. Dieser Rück<strong>zu</strong>g<br />

dauert bis 1998, als Einar Schleef am Burgtheater EIN SPORTSTÜCK inszeniert. Zwei<br />

Jahre später jedoch erlässt sie wiederum ein Aufführungsverbot nachdem die FPÖ<br />

Teil österreichischen Bundesregierung wird. Elfriede Jelinek nimmt in Texten<br />

konkret auf aktuelle Tagespolitik Be<strong>zu</strong>g, kritisiert etwa Haider und den Umgang mit<br />

Asylbewerbern. Im Jahr 2003 wird das zweite Aufführungsverbot mit Nicolas<br />

Stemanns Inszenierung von DAS WERK beendet; im gleichen Jahr inszeniert<br />

Christoph Schlingensief am Burgtheater BAMBILAND und LOST HIGHWAY, ein<br />

Musiktheaterstück <strong>zu</strong> dem Elfriede Jelinek das Libretto geschrieben hatte, wird<br />

uraufgeführt. 2005 findet im Wiener Burgtheater die Uraufführung von BABEL statt,<br />

einer monumentalen Meditation über den Irakkrieg und den Folterskandal in Abu<br />

Ghraib, wieder in der Regie von Nicolas Stemann, der im Herbst 2006 auch das<br />

neueste und vorerst letzte Stück Jelineks <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART inszenieren wird.<br />

Im Frühjahr 20<strong>07</strong> veröffentlicht sie auf ihrer Website nacheinander die ersten Kapitel<br />

ihres „Privatromans“ NEID.<br />

Elfriede Jelinek<br />

ICH MÖCHTE SEICHT SEIN<br />

Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei <strong>zu</strong>schauen. Ich will auch nicht<br />

andere da<strong>zu</strong> bringen <strong>zu</strong> spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so tun, als ob<br />

sie lebten. Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche<br />

Einheit spiegelt: die des Lebens. Ich will nicht das Kräftespiel dieses "gut gefetteten<br />

Muskels" (Roland Barthes) aus Sprache und Bewegung - den sogenannten<br />

"Ausdruck" eines gelernten Schauspielers sehen. Bewegung und Stimme möchte<br />

ich nicht <strong>zu</strong>sammenpassen lassen. Beim <strong>Theater</strong> Heute wird etwas enthüllt, wie,<br />

sieht man nicht, denn es werden im Hintergrund die Bühnenfäden dafür gezogen.<br />

Die Maschine also ist verborgen, der Schauspieler wird mit Geräten umbaut.<br />

angestrahlt und geht umher. Spricht. Der Schauspieler ahmt sinnlos den Menschen<br />

nach, er differenziert im Ausdruck und zerrt eine andere Person dabei aus seinem<br />

Mund hervor, die ein Schicksal hat, welches ausgebreitet wird. Ich will keine<br />

fremden Leute vor den Zuschauern <strong>zu</strong>m Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber<br />

ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem <strong>zu</strong>m Leben Erwecken auf der<br />

Bühne haben. Ich will kein <strong>Theater</strong>. Vielleicht will ich einmal nur Tätigkeiten<br />

ausstellen, die man ausüben kann, um etwas dar<strong>zu</strong>stellen, aber ohne höheren Sinn.<br />

Die Schauspieler sollen sagen, was sonst kein Mensch sagt, denn es ist ja nicht<br />

Leben. Sie sollen Arbeit zeigen. Sie sollen sagen, was los ist, aber niemals soll von<br />

ihnen behauptet werden können, in ihnen gehe etwas ganz anderes vor, das man<br />

indirekt von ihrem Gesicht und ihrem Körper ablesen könne. Zivilisten sollen etwas<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

auf einer Bühne sprechen! Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren<br />

Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein!<br />

Modeschau deswegen, weil man die Kleider auch allein vorschicken könnte. Weg mit<br />

den Menschen, die eine systematische Beziehung <strong>zu</strong> einer ersonnenen Figur<br />

herstellen könnten! Wie die Kleidung, hören Sie, die besitzt ja auch keine eigene<br />

Form,sie muß um den Menschen gegossen werden, der ihre Form IST. Schlaff und<br />

vernachlässigt hängen die Hüllen, doch dann fährt einer in sie, der spricht wie mein<br />

Lieblings Heiliger, den es nur gibt, weils auch mich gibt: Ich und der, der ich sein<br />

soll, wir werden nicht mehr auftreten.<br />

Weder einzeln noch gemeinsam. Sehen Sie mich genau an! Sie werden mich nie<br />

wieder sehen! Bedauern Sie es! Bedauern Sie es jetzt. Heilig heilig heilig. Wer kann<br />

schon sagen, welche Figuren im <strong>Theater</strong> ein Sprechen vollziehen sollen? Ich lasse<br />

beliebig viele gegeneinander antreten, aber wer ist wer? Ich kenne diese Leute ja<br />

nicht! Jeder kann ein anderer sein und von einem Dritten dargestellt werden, der mit<br />

einem Vierten identisch ist, ohne daß es jemandem auffiele. Sagt ein Mann. Sagt die<br />

Frau. Kommt ein Pferd <strong>zu</strong>m Zahnarzt und erzählt einen Witz. Ich will Sie nicht<br />

kennenlernen. Auf Wiedersehn.<br />

Die Schauspieler haben die Tendenz, falsch <strong>zu</strong> sein, während ihre Zuschauer echt<br />

sind. Wir Zuseher sind nämlich nötig. die Schauspieler nicht. Daher können die<br />

Leute auf der Bühne vage bleiben, unscharf. Accessoires des Lebens, ohne die wir<br />

wieder hinausgingen, die Handtaschen in die schlaffen Armbeugen geklebt. Die<br />

Darsteller sind unnötig wie diese Tascheln, enthalten, gleich schmutzigen<br />

Taschentüchern, Bonbondosen, Zigarettenschachteln, die Dichtung! die in sie<br />

abgefüllt wurde. Verschwommene Gespenster! Produkte ohne Sinn, ist ihr Sinn<br />

doch das "Produkt einer überwachten Freiheit" (Barthes). Für jeden Spiel<strong>zu</strong>g auf der<br />

Bühne gibt es eine so und so große Freiheitsmenge, von der sich der Schauspieler<br />

bedienen darf. Die Lacke Freiheit ist da, und der Schauspieler, nehmen Sie sich<br />

bitte!. holt sich seinen Saft, sein Kammer-Wasser, seine Sekrete. Daran ist nichts<br />

Geheimes. Er klebt seinen Rotz daneben. Aber was und wieviel er sich auch nimmt<br />

von seinem Teil an Gesten Herumstolzieren, Plappern muß imitiert werden können,<br />

denn er und andre wie er müssen es genauso nachmachen können. Wie<br />

Modebekleidung: Jedes Teil ist gleichzeitig definiert, aber nicht <strong>zu</strong> eng umgrenzt in<br />

dem, wo<strong>zu</strong> es dienen soll. Der Pullover, das Kleid, auch sie haben ihre Spielräume<br />

und Armlöcher. Ja. Und was eben unbedingt nötig ist: wir! Wir haben nicht die<br />

Freiheit, falsch <strong>zu</strong> sein. Die auf der Bühne aber schon, denn sie sind Ornamente<br />

unsres Lebens, beweglich, abnehmbar von der Hand Gottes, des Regisseurs. Und<br />

dann reißt er einen ganzen Kragen Mensch herunter und leimt uns mit einem<br />

andren, der ihm besser gefällt. Oder das Sackkleid Mensch wird einfach kürzer<br />

gemacht, indem er den Saum neu absteckt, dieser Filialleiter von einer<br />

Spielzeugladenkette. Belästigen Sie uns nicht mit Ihrer Substanz! Oder womit<br />

immer Sie Substanz vor<strong>zu</strong>täuschen versuchen, wie Hunde, die sich mit aufgeregtem<br />

Getön umkreisen. Wer ist der Chef? Maßen Sie sich nichts an! Verschwinden Sie!<br />

<strong>Theater</strong> hat den Sinn, ohne Inhalt <strong>zu</strong> sein, aber die Macht der Spielleiter vor<strong>zu</strong>führen,<br />

die die Maschine in Gang halten. Nur mit seiner Bedeutung kann der Regisseur die<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

leeren Einkaufstüten <strong>zu</strong>m Leuchten bringen, diese schlappen undichten Sackeln mit<br />

mehr oder weniger Dichtung drin. Und plötzlich bedeutet das Bedeutungslose was!<br />

Wenn der Herr Regisseur in die Ewigkeit hineingreift und etwas Zappelndes<br />

herausholt. Dann ermordet er alles, was war, und seine Inszenierung, die doch<br />

ihrerseits auf Wiederholung gegründet ist, wird <strong>zu</strong>m Einzigen, das sein kann. Er<br />

verleugnet das Vergangene und zensiert gleichzeitig (Mode!) das Zukünftige, das<br />

sich nun für die nächsten Saisonen nach ihm <strong>zu</strong> richten haben wird. Das Zukünftige<br />

wird gezähmt, das Neue geregelt, bevor es noch eingetreten ist. Dann vergeht ein<br />

Jahr, und die Zeitungen schreien wieder vor Freude über ein Neues,<br />

Unberechenbares, das das Alte ablöst. Und das <strong>Theater</strong> beginnt wieder von vorn, die<br />

Vergangenheit kann von der Gegenwart abgelöst, erlöst werden, die sich aber, in<br />

ewigem Vergleich, über die Vergangenheit neigen muß. Dafür gibt es die <strong>Theater</strong><br />

Zeitschrift. Man muß alles gesehen haben, um überhaupt etwas sehen <strong>zu</strong> können.<br />

Doch nun <strong>zu</strong> unsren Mitarbeitern: Wie entfernen wir diese Schmutzflecken<br />

Schauspieler aus dem <strong>Theater</strong>, daß sie sich nicht mehr aus ihrer<br />

Frischhaltepackung über uns ergießen und uns erschüttern, ich meine<br />

überschütten können? Denn diese Leute sinds doch, die sich verkleiden und mit<br />

Attributen behängen, die sich ein Doppelleben anmaßen. Diese Personen lassen sich<br />

vervielfältigen, ohne daß sie ein Risiko eingingen, denn sie gehen nicht verloren. Ja,<br />

sie spielen nicht einmal mit ihrem Sein herum! Sie sind ja immer dasselbe, nie<br />

brechen sie durch den Boden oder erheben sich in die Luft. Sie bleiben belanglos.<br />

Schließen wir sie als Inventar aus unsrem Leben einfach aus! Klopfen wir sie platt<br />

<strong>zu</strong> Zelluloid! Wir machen vielleicht einen Film aus ihnen, von wo uns ihr Schweiß,<br />

Symbol einer Arbeit, der sie im Luxus ihrer Persönlichkeiten <strong>zu</strong> entkommen<br />

trachteten, nicht mehr anwehen kann. Aber ein Film als <strong>Theater</strong> nicht ein Film als<br />

Film! Einfach draufhalten und abdrücken! Wie es liegt, so pickt es. Nichts kann<br />

mehr geändert werden und unterläuft damit die ewige Wiederholung des Nie Ganz<br />

Gleichen. Sie werden einfach aus unserem Leben verbannt und auf Lochstreifen<br />

gestanzt, die wacklige Melodien winseln. Fallen aus unserer Körperbetrachtung und<br />

werden <strong>zu</strong>r Fläche, die vor uns abläuft. Werden unmöglich und müssen deshalb<br />

auch gar nicht erst verboten werden, denn sie sind nicht und nichts mehr. Oder<br />

auch: es werden bei jeder Vorstellung alle komplett ausgewechselt und machen<br />

jedes Mal etwas ganz Neues. Sie haben einen Vorrat an möglichen Spielzügen, aber<br />

nichts wird, ähnlich unserer Kleidung, ganz genauso wiederholt wie es war. Nur die<br />

Zeit bedroht uns alle mit dem Vergehn! <strong>Theater</strong> darf es nicht mehr geben. Entweder<br />

das Immergleiche wird immer gleich wiederholt (Filmabnahme einer geheimen<br />

Aufführung, die von uns Menschen nur mehr in ihrer EINZIGEN EWIGEN<br />

Wiederholung gesehen werden darf), oder keine zweimal dasselbe! Immer etwas<br />

ganz andres! Sowieso dauert nichts ewig, im <strong>Theater</strong> können wir uns drauf<br />

vorbereiten, in die Zeitlichkeit ein<strong>zu</strong>gehen. Die Bühnenmenschen treten nicht auf,<br />

weil sie etwas sind, sondern weil das Nebensächliche an ihnen <strong>zu</strong> ihrer eigentlichen<br />

Identität wird. Ihr Herumfuchteln, ihre plumpen, verwaschenen Aussagen, von<br />

Uneinsichtigen in ihre Mäuler gestopft, ihre Lügen, nur daran kann man sie<br />

voneinander unterscheiden. Ja, sie treten an die Stelle der Personen, die sie<br />

darstellen sollen und werden <strong>zu</strong>m Ornament, <strong>zu</strong> Darstellern von Darstellern, in<br />

endloser Kette, und das Ornament wird auf der Bühne das Eigentliche. Und das<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Eigentliche wird, Platz! Zurück!, <strong>zu</strong>r Zierde, <strong>zu</strong>m Effekt. Ohne sich um die<br />

Wirklichkeit <strong>zu</strong> kümmern, wird der Effekt <strong>zu</strong>r Realität. Die Schauspieler bedeuten<br />

sich selbst und werden durch sich definiert. Und ich sage: Weg mit ihnen! Sie sind<br />

nicht echt. Echt sind nur wir. Wir sind das meiste, das es gibt, wenn wir schlank und<br />

schick in unsren eleganten <strong>Theater</strong>kleidern hängen. Richten wir die Blicke nur noch<br />

auf uns! Wir sind unsere eigenen Darsteller. Brauchen wir nichts außer uns! Gehen<br />

wir in uns hinein und bleiben wir drinnen, jeder hofft ja. daß ihn möglichst viele<br />

betrachten mögen, wenn er durch die Welt stolziert, von den Zeitschriften und deren<br />

Bildern ordentlich geregelt wie eine gut geölte Maschine. Werden wir unsre eigenen<br />

Muster und sprenkeln wir den Schnee, die Wiesen, das Wissen, womit? Mit uns<br />

selbst! So ist es gut.<br />

Elfriede Jelinek<br />

IM ABSEITS<br />

Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die<br />

Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was geschieht da mit mir?<br />

Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen? Die ist ja<br />

sowas von zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten könnte. Die Dichter fahren hindurch<br />

und versammeln ihre Haare verzweifelt <strong>zu</strong> einer Frisur, von der sie dann in den<br />

Nächten prompt heimgesucht werden. Etwas stimmt nicht mehr mit dem Aussehen.<br />

[...]<br />

Die Zeit ist, als man noch geschrieben hat, in die Werke andrer Dichter<br />

eingedrungen. Da sie die Zeit ist, kann sie alles auf einmal: in die eigene Arbeit<br />

eindringen und gleichzeitig in die andrer, in die zerrauften Frisuren andrer fahren<br />

wie ein frischer, wenn auch böser Wind, der sich, von der Wirklichkeit her, plötzlich<br />

und unerwartet erhoben hat. Wenn einmal etwas aufgestanden ist, dann legt es sich<br />

vielleicht nicht so schnell wieder hin. Der Wutwind weht und reißt alles mit. Und es<br />

reißt alles davon, egal wohin, aber nie mehr in diese Wirklichkeit, die ja abgebildet<br />

werden soll, <strong>zu</strong>rück. Überallhin, nur dorthin nicht. Die Wirklichkeit ist das, was unter<br />

die Haare, unter die Röcke fährt und sie eben: davonreißt, in etwas anderes hinein.<br />

Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen, wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn<br />

davonreißt, immer ins Abseits. Von dort sieht er einerseits besser, andrerseits kann<br />

er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein<br />

Platz ist immer außerhalb. Nur was er aus dem Außen hineinsagt, kann<br />

aufgenommen werden, und zwar weil er Zweideutigkeiten sagt. Und da sind auch<br />

schon zwei Passende, zwei Richtige, die mahnen, daß nichts passiert, zwei, die es in<br />

unterschiedliche Richtungen ausdeuten, ausgreifen bis auf den un<strong>zu</strong>reichenden<br />

Grund, der längst herausgebrochen ist wie die Reißzähne des Kamms. Entweder<br />

oder. Wahr oder falsch. Das mußte ja früher oder später passieren, da der Boden als<br />

Baugrund doch höchst un<strong>zu</strong>reichend war. Wie sollte man auf einem bodenlosen<br />

Loch auch bauen können? [...]<br />

Man ist gar nicht dagewesen. Aber man weiß trotzdem, was los ist. Es ist einem von<br />

einem Bildschirm herunter gesagt worden, aus vor Schmerz verzerrten,<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

blutverschmierten Gesichtern, aus lachenden geschminkten, für die Schminke<br />

vorher noch eigens aufgeblasenen Mündern oder andren, die eine Frage im Quiz<br />

richtig beantwortet haben, oder geborenen Mundmenschen, Frauen, die nichts<br />

dafür- und nichts da<strong>zu</strong>tun können, die aufgestanden sind und eine Jacke<br />

ausgezogen haben, um ihre frisch gehärteten Brüste, die früher gestählte waren<br />

und Männern gehört haben, in die Kamera <strong>zu</strong> halten. Da<strong>zu</strong> jede Menge Kehlen, aus<br />

denen es heraussingt wie Mundgeruch, nur lauter. Das ist das, was auf dem Weg<br />

gesehen werden könnte, befände man sich noch auf ihm. Man geht dem Weg aus<br />

dem Weg. Vielleicht sieht man ihn aus der Ferne, wo man alleinbleibt, und wie gern,<br />

denn den Weg will man sehen, aber nicht gehen. Hat dieser Pfad jetzt ein Geräusch<br />

von sich gegeben? Will er auch noch durch Geräusche, nicht nur durch Leuchten,<br />

schreiende Leute, schreiendes Leuchten auf sich aufmerksam machen? Hat der<br />

Weg, den man nicht gehen kann, Angst davor, gar nicht begangen <strong>zu</strong> werden, wo<br />

doch soviele Sünden begangen werden, andauernd, Folter, Verbrechen, Diebstahl,<br />

schwere Nötigung, nötige Schwere beim Herstellen von bedeutenden<br />

Weltschicksalen? Dem Weg ist es egal. Der trägt alles auf sich, in Festigkeit, wenn<br />

auch grundlos. Ohne Grund. Auf verlorenem Boden. [...]<br />

Auch das Unterwegs ist mir versperrt, ich kann mich ja kaum fortbewegen. Ich bin<br />

fort, indem ich nicht fortgehe. Und auch dort möchte ich <strong>zu</strong>r Sicherheit Schutz<br />

haben vor meiner eigenen Unsicherheit, aber auch vor der Unsicherheit des Bodens,<br />

auf dem ich stehe. Es läuft <strong>zu</strong>r Sicherheit, nicht nur um mich <strong>zu</strong> behüten, meine<br />

Sprache neben mir her und kontrolliert, ob ich es auch richtig mache, ob ich es auch<br />

richtig falsch mache, die Wirklichkeit <strong>zu</strong> beschreiben, denn sie muß immer falsch<br />

beschrieben werden, sie kann nicht anders, aber so falsch, daß jeder, der sie liest<br />

oder hört, ihre Falschheit sofort bemerkt. Die lügt ja! Und dieser Hund Sprache, der<br />

mich beschützen soll, dafür habe ich ihn ja, der schnappt jetzt nach mir. Mein<br />

Schutz will mich beißen. Mein einziger Schutz vor dem Beschriebenwerden, die<br />

Sprache, die, umgekehrt, <strong>zu</strong>m Beschreiben von etwas anderem, das nicht ich bin, da<br />

ist – dafür beschreibe ich ja soviel Papier –, mein einziger Schutz kehrt sich also<br />

gegen mich. Vielleicht habe ich ihn überhaupt nur, damit er, indem er vorgibt, mich<br />

<strong>zu</strong> schützen, sich auf mich stürzt. Weil ich im Schreiben Schutz gesucht habe, kehrt<br />

sich dieses Unterwegssein, die Sprache, die in der Bewegung, im Sprechen, mir ein<br />

sicherer Unterstand <strong>zu</strong> sein schien, gegen mich. Kein Wunder. Ich habe ihr doch<br />

sofort mißtraut. Was ist das für eine Tarnung, die da<strong>zu</strong> da ist, daß man nicht<br />

unsichtbar wird, sondern immer deutlicher? [...]<br />

Ich schreie hinüber, in meiner Abgeschiedenheit, über diese Gräber der<br />

Verschiedenen stapfend, denn da ich schon nebenher renne, kann ich nicht auch<br />

noch drauf achten, worauf ich trete, wen ich zertrete, ich möchte nur irgendwie<br />

dorthin, wo meine Sprache schon ist und höhnisch <strong>zu</strong> mir herübergrinst. Sie weiß ja,<br />

daß, wenn ich einmal <strong>zu</strong> leben versuchte, sie mir das schon rechtzeitig eintränken<br />

würde. Sie würde es mir <strong>zu</strong>erst eintränken, dann auch noch versalzen. Gut. Streue<br />

ich also noch Salz auf den Weg der andren, ich werfe ihn hinüber, daß ihr Eis<br />

schmilzt, Streusalz, damit der Sprache ihr sicherer Grund genommen werde. Dabei<br />

ist sie doch längst bodenlos. Eine bodenlose Frechheit von ihr! Wenn ich mich schon<br />

8


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

nicht auf sicherem Grund befinde, soll meine Sprache das auch nicht dürfen. Recht<br />

geschieht ihr! [...]<br />

Meine Sprache wälzt sich bereits wohlig in ihrer Suhle, dem kleinen provisorischen<br />

Grab auf dem Weg, und sie schaut hinauf <strong>zu</strong>m Grab in den Lüften, sie wälzt sich auf<br />

den Rücken, ein <strong>zu</strong>trauliches Tier, das den Menschen gefallen möchte wie jede<br />

anständige Sprache, sie wälzt sich, macht die Beine breit, wahrscheinlich um sich<br />

streicheln <strong>zu</strong> lassen, warum denn sonst. Sie ist ja süchtig nach Liebkosungen. Das<br />

hält sie davon ab, den Toten nach<strong>zu</strong>schauen, auf die ich dafür schauen muß, das<br />

bleibt dann natürlich an mir hängen. Daher hatte ich ja keine Zeit, meine Sprache im<br />

Zaum <strong>zu</strong> halten, die sich jetzt schamlos unter den Händen der Streichler wälzt. Es<br />

gibt einfach <strong>zu</strong>viele Tote, auf die ich schauen muß, das ist ein österreichischer<br />

Fachausdruck für: um die ich mich kümmern, die ich gut behandeln muß, aber<br />

dafür sind wir ja berühmt, daß wir alle immer gut behandeln. Die Welt schaut schon<br />

auf uns, nur keine Sorge. Das müssen wir nicht selber besorgen. [...]<br />

Na ja, dann: alles mal herhören! Wer nicht hören will, muß sprechen, ohne gehört<br />

<strong>zu</strong> werden. Fast alle werden nicht gehört, obwohl sie sprechen. Ich werde gehört,<br />

obwohl mir meine Sprache nicht gehört, obwohl ich sie kaum noch sehen kann. Man<br />

sagt ihr vieles nach. So muß sie selber nicht mehr viel sagen, auch gut. Man hört ihr<br />

nach, wie sie langsam nachspricht, während irgendwo ein roter Knopf gedrückt<br />

wird, der eine schreckliche Explosion auslöst. Es bleibt nur noch übrig <strong>zu</strong> sagen:<br />

Vater unser, der du bist. Sie kann nicht mich damit meinen, obwohl ich schließlich<br />

meiner Sprache Vater, also: Mutter bin. Ich bin der Vater meiner Muttersprache. Die<br />

Muttersprache war von Anfang an schon da, sie war in mir, aber kein Vater war da,<br />

der da<strong>zu</strong>gehörig gewesen wäre. Meine Sprache war oft ungehörig, das wurde mir<br />

deutlich <strong>zu</strong> verstehen gegeben, aber ich wollte es nicht verstehen. Meine Schuld. Der<br />

Vater hat mitsamt der Muttersprache diese Kleinfamilie verlassen. Recht hatte er.<br />

Ich wäre an seiner Stelle auch nicht geblieben. Meine Muttersprache ist jetzt dem<br />

Vater nachgegangen, sie ist fort. Sie ist, wie gesagt, dort drüben. Sie hört den Leuten<br />

auf dem Weg <strong>zu</strong>. Auf dem Weg des Vaters, der <strong>zu</strong> früh gegangen ist. [...]<br />

Ich sage etwas, und dann ist es von Anfang an schon vergessen gewesen. Das hat es<br />

angestrebt, es wollte ja fort von mir. Das Unsagbare wird jeden Tag gesagt, aber das,<br />

was ich sage, das soll nicht gesagt werden dürfen. Das ist gemein von dem<br />

Gesagten. Das ist sagenhaft gemein. Nicht einmal <strong>zu</strong> mir gehören will das Gesagte.<br />

Es will getan werden, damit man sagen kann: gesagt – getan. Ich würde mich ja<br />

<strong>zu</strong>friedengeben, wenn sie verleugnete, mir <strong>zu</strong> gehören, meine Sprache, aber <strong>zu</strong> mir<br />

gehören sollte sie schon. Wie kann ich erreichen, daß sie wenigstens ein bißchen an<br />

mir hängt? [...]<br />

Ich schaue dem Leben immer nur nach, meine Sprache zeigt mir den Rücken, damit<br />

sie fremden Leuten den Bauch <strong>zu</strong>m Liebhaben hinhalten kann, schamlos, mir zeigt<br />

sie den Rücken, wenn überhaupt irgend etwas. Zu oft gibt sie mir kein Zeichen und<br />

sagt auch nichts. Manchmal sehe ich sie dort drüben gar nicht mehr, und jetzt kann<br />

ich nicht einmal sagen „wie gesagt“, denn ich habe es zwar schon öfter gesagt, aber<br />

ich kann es jetzt nicht mehr sagen, mir fehlen die Worte. Manchmal sehe ich ihren<br />

9


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Rücken oder die Unterseite ihrer Füße, mit denen sie nicht richtig gehen können, die<br />

Worte, aber schneller als ich schon lange und immer noch. [...]<br />

Man soll der eigenen Sprache nicht <strong>zu</strong> nahetreten, das ist ein Affront, sie ist glatt<br />

imstande, sich selbst etwas nach<strong>zu</strong>sprechen, gellend laut, damit man nicht hört,<br />

daß ihr das, was sie sagt, vorher vorgesprochen wurde. Sie macht mir sogar<br />

Versprechungen, damit ich wegbleibe von ihr. Sie verspricht mir alles, wenn ich ihr<br />

nur nicht nahekomme. Millionen dürfen ihr nahekommen, nur ich nicht! Dabei ist sie<br />

meine! Wie finden Sie das? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich das finde. Diese<br />

Sprache hat ihren Anfang wohl vergessen, anders kann ich es mir nicht erklären. Sie<br />

hat einst bei mir klein angefangen. Nein, wie die groß geworden ist, gar nicht <strong>zu</strong>m<br />

Sagen! So erkenne ich sie ja gar nicht. Ich habe sie noch gekannt, als sie soo klein<br />

gewesen ist. Als es so still gewesen ist, als die Sprache noch mein Kind war. Jetzt ist<br />

sie auf einmal riesig geworden. Das ist nicht mehr mein Kind. Das Kind ist nicht<br />

erwachsen geworden, dafür aber groß, es weiß nicht, daß es mir noch nicht<br />

entwachsen ist, aber wach ist es immerhin. Es ist so wach, daß es sich selbst mit<br />

seinem Schreien übertönt, und auch jeden anderen, der lauter schreit als sie. Dann<br />

schraubt sie sich in unglaubliche Höhen. Glauben Sie mir, das wollen Sie gar nicht<br />

wirklich hören! Ich bin nicht stolz auf dieses Kind, glauben Sie mir auch das, bitte!<br />

Ich habe an seinem Anfang gewollt, daß es so leise bleibt wie damals, als es noch<br />

sprachlos war. Ich will auch jetzt nicht, daß es über etwas hinwegfegt wie ein Sturm,<br />

daß es andre da<strong>zu</strong> bringt, noch lauter <strong>zu</strong> brüllen und die Arme hoch<strong>zu</strong>reißen und<br />

mit harten Gegenständen <strong>zu</strong> werfen, die meine Sprache gar nicht mehr fassen und<br />

fangen kann, sie ist ja, auch meine Schuld, immer so unsportlich gewesen. Sie fängt<br />

nicht. Sie wirft zwar, aber fangen kann sie nicht. Ich bleibe in ihr gefangen, auch<br />

wenn sie weg ist. Ich bin die Gefangene meiner Sprache, die mein Gefängniswärter<br />

ist. Komisch – sie paßt ja gar nicht auf mich auf! Weil sie meiner so sicher ist? Weil<br />

sie so sicher ist, daß ich nicht wegrenne, glaubt sie deshalb, sie kann selber von mir<br />

fort? Da kommt einer, der schon gestorben ist, und der spricht <strong>zu</strong> mir, obwohl das<br />

für ihn nicht vorgesehen ist. Er darf das, viele Tote sprechen jetzt mit ihren<br />

erstickten Stimmen, jetzt trauen sie sich das, weil meine eigene Sprache nicht auf<br />

mich aufpaßt. Weil sie weiß, daß das nicht nötig ist. Wenn sie mir auch wegrennen<br />

mag, ich komme ihr nicht abhanden. Ich bin ihr <strong>zu</strong> Handen, aber dafür ist sie mir<br />

abhanden gekommen. Ich aber bleibe. Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter. Was<br />

bleibt, ist fort. Der Höhenflug wurde gestrichen. Es ist nichts und niemand<br />

eingetroffen. Und wenn doch, wider jede Vernunft, etwas, das gar nicht<br />

angekommen ist, doch ein wenig bleiben möchte, dann ist dafür das, was bleibt, das<br />

Flüchtigste, die Sprache, verschwunden. Sie hat auf ein neues Stellenangebot<br />

geantwortet. Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt<br />

einem also übrig.<br />

10


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Michael Sommer<br />

STATIONEN DER RAF BIS ZUM „DEUTSCHEN HERBST“<br />

14. Mai 1970<br />

Andreas Baader wird durch Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin u.a. aus der Haft befreit.<br />

Dabei wird ein Angestellter des Instituts für Soziale Fragen angeschossen und<br />

erliegt später seinen Verlet<strong>zu</strong>ngen.<br />

Sommer 1970<br />

Baader, Ensslin, Meinhof und andere lassen sich in einem Trainingslager der<br />

palästinensischen Fatah in Jordanien im Umgang mit Waffen und im Nahkampf<br />

ausbilden.<br />

1970-1971<br />

Zahlreiche Banküberfälle, Autodiebstähle, und andere „Beschaffungskriminalität“<br />

der Gruppe.<br />

15.<strong>07</strong>.1971<br />

Das RAF-Mitglied Petra Schelm wird beim Versuch, sie <strong>zu</strong> verhaften, erschossen -<br />

die erste tote Terroristin.<br />

22.10.1971<br />

Der Polizist Norbert Schmid wird erschossen - der erste tote Beamte.<br />

Mai 1972<br />

Bombenattentate auf Einrichtungen des US-Militärs, der Polizei, auf den Wagen<br />

eines Bundesrichters und das Axel-Springer-Gebäude in Hamburg.<br />

01.06.1972<br />

Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe werden in Frankfurt verhaftet.<br />

<strong>07</strong>.06.1972<br />

Gudrun Ensslin wird in Hamburg beim Einkauf in der Boutique „Linette“ verhaftet.<br />

14.06.1972<br />

Ulrike Meinhof wird in Hannover verhaftet.<br />

1973-1977<br />

Zahlreiche Hungerstreiks der RAF-Gefangenen, um Verbesserungen der<br />

Haftbedingungen und Zulassung von Anwälten <strong>zu</strong> erreichen. Die Gefangenen<br />

werden immer wieder zwangsernährt.<br />

09.11.1974<br />

Holger Meins stirbt an den Folgen eines Hungerstreiks.<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

25.04.1975<br />

Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm durch das „Kommando<br />

Holger Meins“, Forderung nach Freilassung der Gefangenen. Drei Tote.<br />

21.05.1975<br />

Der Prozess gegen Baader, Meinhof, Raspe und Ensslin beginnt in Stammheim.<br />

09.05.1976<br />

Ulrike Meinhof erhängt sich in ihrer Zelle in Stammheim.<br />

<strong>07</strong>.04.1977<br />

Generalbundesanwalt Siegfried Buback wird ermordet.<br />

28.04.1977<br />

Prozessende: Baader, Raspe und Ensslin werden <strong>zu</strong> lebenslanger Haft verurteilt.<br />

30.<strong>07</strong>.1977<br />

Dresdner Bank-Chef Jürgen Ponto wird erschossen.<br />

05.09.1977<br />

Der Arbeitgeberpräsident und Chef des BDI, Hanns Martin Schleyer wird entführt.<br />

Das „Kommando Siegfried Hausner“ forderte die Freilassung von Baader, Ensslin,<br />

Raspe u.a.<br />

13.10.1977<br />

Die Lufthansa-Maschine „Landshut“ wird von palästinensischen Terroristen<br />

entführt, die sich den Forderungen der Schleyer-Entführer anschließen.<br />

18.10.1977<br />

Nach einem Irrflug durch den Nahen Osten werden die Geiseln an Bord der<br />

„Landshut“ durch die GSG 9 befreit. Drei der vier Terroristen werden erschossen.<br />

Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe begehen in Stammheim<br />

Selbstmord. Irmgard Möller überlebt schwer verletzt.<br />

19.10.1977<br />

Hanns Martin Schleyer wird erschossen.<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Rote Armee Fraktion<br />

DAS KONZEPT STADTGUERILLA<br />

Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!<br />

Mao<br />

Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht:<br />

Ich bin der Meinung, daß es für uns - sei es für den Einzelnen, für eine Partei, eine<br />

Armee oder eine Schule - schlecht ist, wenn der Feind nicht gegen uns Front macht<br />

- denn in diesem Fall würde es doch bedeuten, daß wir mit dem Feind unter einer<br />

Decke steckten. Wenn wir vom Feind bekämpft werden, dann ist das gut; denn es ist<br />

ein Beweis, daß wir zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich<br />

gezogen haben. Wenn uns der Feind energisch entgegentritt, uns in den<br />

schwärzesten Farben malt und gar nichts bei uns gelten läßt, dann ist das noch<br />

besser; denn es zeugt davon, daß wir nicht nur zwischen uns und dem Feind eine<br />

klare Trennungslinie gezogen haben, sondern daß unsere Arbeit auch glänzende<br />

Erfolge gezeitigt hat. Mao Tse Tung, 26. Mai 1939<br />

I. Konkrete Antworten auf konkrete Fragen<br />

Ich beharre fest darauf, daß jemand, der keine Untersuchung angestellt hat, auch<br />

kein Mitspracherecht haben kann. Mao Einige Genossen sind mit ihrem Urteil über<br />

uns schon fertig. Für sie ist es eine "Demagogie der bürgerlichen Presse", diese<br />

"anarchistische Gruppe" mit der sozialistischen Bewegung überhaupt in Verbindung<br />

<strong>zu</strong> bringen. Indem sie ihn falsch und denunziatorisch benutzen, hebt sich ihr<br />

Anarchismusbegriff von dem der Springerpresse nicht ab. Auf einem so miesen<br />

Niveau möchten wir uns mit niemandem unterhalten.<br />

Viele Genossen wollen wissen, was wir uns dabei denken. Der Brief an "883" vom Mai<br />

70 war <strong>zu</strong> allgemein; das Tonband, das Michele Ray hatte, wovon Auszüge im<br />

"Spiegel" erschienen sind, war ohnehin nicht authentisch und stammte aus dem<br />

Zusammenhang privatistischer Diskussion. Die Ray wollte es als Gedächtnisstütze<br />

für einen selbständigen Artikel von sich benutzen. Sie hat uns reingelegt, oder wir<br />

haben sie überschätzt. Wäre unsere Praxis so überstürzt wie einige Formulierungen<br />

dort, hätten sie uns schon. Der "Spiegel" hat der Ray ein Honorar von 1000 Dollar<br />

dafür bezahlt.<br />

Daß fast alles, was die Zeitungen über uns schreiben - und wie sie es schreiben:<br />

alles -, gelogen ist, ist klar. Entführungspläne mit Willy Brandt sollen uns <strong>zu</strong><br />

politischen Hornochsen stempeln, die Verbindung zwischen einer Kindsentführung<br />

und uns <strong>zu</strong> Verbrechern, die in der Wahl der Mittel skrupellos sind. Das geht bis in<br />

die "gesicherten Einzelheiten" in "Konkret", wo allerdings schon die für die Sache<br />

belanglosen Details nur <strong>zu</strong>sammengeschludert wurden. Daß es bei uns "Offiziere<br />

und Soldaten" gäbe, daß jemand jemandem "hörig" sei, daß jemals jemand<br />

"liquidiert" werden sollte, daß Genossen, die sich von uns getrennt haben, noch was<br />

von uns <strong>zu</strong> befürchten hätten, daß wir uns mit der vorgehaltenen Knarre Zutritt <strong>zu</strong><br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Wohnungen oder Pässe verschafft hätten, daß "Gruppenterror" ausgeübt würde -<br />

das alles ist nur Dreck.<br />

Wer sich die illegale Organisation von bewaffnetem Widerstand nach dem Muster<br />

von Freikorps und Feme vorstellt, will selbst das Pogrom. Psychische Mechanismen,<br />

die solche Projektionen produzieren, sind in Horkheimer/Adornos "Autoritärer<br />

Persönlichkeit" und in Reichs "Massenpsychologie des Faschismus" im<br />

Zusammenhang mit dem Faschismus analysiert worden. Der revolutionäre<br />

Zwangscharakter ist eine contradictio in adjecto - ein Widerspruch, der nicht geht.<br />

Eine revolutionäre politische Praxis unter den herrschenden Bedingungen - wenn<br />

nicht überhaupt - setzt die permanente Integration von individuellem Charakter und<br />

politischer Motivation voraus, d.h. politische Identität. Marxistische Kritik und<br />

Selbstkritik hat mit "Selbstbefreiung" nichts, dagegen mit revolutionärer Disziplin<br />

sehr viel <strong>zu</strong> tun. Wer hier "nur Schlagzeilen machen" wollte, waren ganz sicher nicht<br />

einmal irgendwelche "linken Organisationen", die - anonym - als Verfasser<br />

firmieren, sondern "Konkret" selbst, dessen Herausgeber auch sonst als linke Hand<br />

von Eduard Zimmermann Image-Pflege treibt, um diese bestimmte Wichsvorlage in<br />

einer bestimmten Marktlücke <strong>zu</strong> behaupten.<br />

Auch viele Genossen verbreiten Unwahrheiten über uns. Sie machen sich damit fett,<br />

daß wir bei ihnen gewohnt hätten, daß sie unsere Reise in den Nahen Osten<br />

organisiert hätten, daß sie über Kontakte informiert wären, über Wohnungen, daß sie<br />

was für uns täten, obwohl sie nichts tun. Manche wollen damit nur zeigen, daß sie<br />

"in" sind. So hat es Günther Voigt erwischt, der sich gegenüber Dürrenmatt <strong>zu</strong>m<br />

Baader-Befreier aufgeblasen hatte, was er bereut haben wird, als die Bullen kamen.<br />

Das Dementi, auch wenn es der Wahrheit entspricht, ist dann gar nicht so einfach.<br />

Manche wollen damit beweisen, daß wir blöde sind, un<strong>zu</strong>verlässig, unvorsichtig,<br />

durchgeknallt. Damit nehmen sie andere gegen uns ein. In Wirklichkeit schließen sie<br />

nur von sich auf uns. Sie konsumieren. Wir haben mit diesen Schwätzern, für die<br />

sich der antiimperialistische Kampf beim Kaffee-Kränzchen abspielt, nichts <strong>zu</strong> tun.<br />

- Solche, die nicht schwatzen, die einen Begriff von Widerstand haben, denen genug<br />

stinkt, um uns eine Chance <strong>zu</strong> wünschen, die uns unterstützen, weil sie wissen, daß<br />

ihr Kram lebenslängliche Integration und Anpassung nicht wert ist, gibt es viele.<br />

Die Wohnung in der Knesebeckstraße 89 (Mahler-Verhaftung) ist nicht durch eine<br />

Schlamperei von uns hochgegangen, sondern durch Verrat. Der Denunziant war<br />

einer von uns. Dagegen gibt es für die, die das machen, was wir machen, keinen<br />

Schutz; dagegen, daß Genossen von den Bullen fertig gemacht werden, daß einer<br />

den Terror nicht aushalten kann, den das System gegen die entfaltet, die es<br />

tatsächlich bekämpfen. Sie hätten nicht die Macht, wenn sie nicht die Mittel hätten,<br />

die Schweine.<br />

Manche geraten durch uns in einen unerträglichen Rechtfertigungsdruck. Um der<br />

politischen Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit uns aus<strong>zu</strong>weichen, der Infragestellung der<br />

eigenen Praxis durch unsere Praxis, werden sogar einfache Fakten verdreht. So wird<br />

z.B. immer noch behauptet, Baader hätte nur drei oder neun oder zwölf Monate<br />

ab<strong>zu</strong>sitzen gehabt, obwohl die richtigen Daten leicht <strong>zu</strong> ermitteln sind: drei Jahre<br />

14


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

für Brandstiftung, sechs Monate von früher auf Bewährung, sechs Monate<br />

schät<strong>zu</strong>ngsweise für Urkundenfälschung etc. - der Prozeß stand noch bevor. Von<br />

diesen 48 Monaten hatte Andreas Baader 14 in zehn hessischen Gefängnissen<br />

abgesessen - neun Verlegungen wegen schlechter Führung, d.h. Organisierung von<br />

Meuterei, Widerstand. Das Kalkül, mit dem die verbleibenden 34 Monate auf drei,<br />

neun und zwölf heruntergefeilscht worden sind, hatte den Zweck, der<br />

Gefangenenbefreiung vom 14. Mai auch noch den moralischen Wind aus den Segeln<br />

<strong>zu</strong> nehmen. So rationalisieren einige Genossen ihre Angst vor den persönlichen<br />

Konsequenzen, die die politische Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit uns für sie haben würde.<br />

Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir<br />

gewußt hätten, daß ein Linke dabei angeschossen wird - sie ist uns oft genug<br />

gestellt worden -, kann nur mit Nein beantwortet werden. Die Frage: was wäre<br />

gewesen, wenn, ist aber vieldeutig - pazifistisch, platonisch, moralisch, unparteiisch.<br />

Wer ernsthaft über Gefangenenbefreiung nachdenkt, stellt sie nicht, sondern sucht<br />

sich die Antwort selbst. Mit ihr wollen Leute wissen, ob wir so brutalisiert sind, wie<br />

uns die Springerpresse darstellt, da soll uns der Katechismus abgefragt werden. Sie<br />

ist ein Versuch, an der Frage der revolutionären Gewalt herum<strong>zu</strong>fummeln,<br />

revolutionäre Gewalt und bürgerliche Moral auf einen Nenner <strong>zu</strong> bringen, was nicht<br />

geht. Es gab bei Berücksichtigung aller Möglichkeiten und Umstände keinen Grund<br />

für die Annahme, daß ein Ziviler sich noch dazwischenwerfen könnte und würde.<br />

Daß die Bullen auf so einen keine Rücksicht nehmen würden, war uns klar. Der<br />

Gedanke, man müßte eine Gefangenenbefreiung unbewaffnet durchführen, ist<br />

selbstmörderisch.<br />

Am 14. Mai, ebenso wie in Frankfurt, wo zwei von uns abgehauen sind, als sie<br />

verhaftet werden sollten, weil wir uns nicht einfach verhaften lassen - haben die<br />

Bullen <strong>zu</strong>erst geschossen. Die Bullen haben jedesmal gezielte Schüsse abgegeben.<br />

Wir haben z.T. überhaupt nicht geschossen, und wenn, dann nicht gezielt: in Berlin,<br />

in Nürnberg, in Frankfurt. Das ist nachweisbar, weil es wahr ist. Wir machen nicht<br />

"rücksichtslos von der Waffe Gebrauch". Der Bulle, der sich in dem Widerspruch<br />

zwischen sich als "kleinem Mann" und als Kapitalistenknecht, als kleinem<br />

Gehaltsempfänger und Voll<strong>zu</strong>gsbeamten des Monopolkapitals befindet, befindet<br />

sich nicht im Befehlsnotstand. Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird. Den<br />

Bullen, der uns laufen läßt, lassen wir auch laufen.<br />

Es ist richtig, wenn behauptet wird, mit dem immensen Fahndungsaufwand gegen<br />

uns sei die ganze sozialistische Linke in der Bundesrepublik und Westberlin<br />

gemeint. Weder das bißchen Geld, das wir geklaut haben sollen, noch die paar Autound<br />

Dokumentendiebstähle, derentwegen gegen uns ermittelt wird, auch nicht der<br />

Mordversuch, den man uns an<strong>zu</strong>hängen versucht, rechtfertigen für sich den Tanz.<br />

Der Schreck ist den Herrschenden in die Knochen gefahren, die schon geglaubt<br />

hatten, diesen Staat und alle seine Einwohner und Klassen und Widersprüche bis in<br />

den letzten Winkel im Griff <strong>zu</strong> haben, die Intellektuellen wieder auf ihre Zeitschriften<br />

reduziert, die Linken wieder in ihre Zirkel eingeschlossen, den Marxismus-<br />

Leninismus entwaffnet, den Internationalismus demoralisiert <strong>zu</strong> haben. So<br />

zimperlich freilich, wie die sich aufführten, so verletzbar ist die Machtstruktur, die<br />

15


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

sie repräsentieren, nicht. Man sollte sich von ihrem Gezeter nicht da<strong>zu</strong> verleiten<br />

lassen, selbst große Töne <strong>zu</strong> spucken.<br />

Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen <strong>zu</strong><br />

diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist,<br />

gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt<br />

Stadtguerilla <strong>zu</strong> machen. Daß der bewaffnete Kampf als "die höchste Form des<br />

Marxismus-Leninismus" (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß, daß es ohne<br />

das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.<br />

Wir sagen nicht, daß die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgrupen<br />

legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen<br />

Klassenkämpfe, und nicht, daß der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im<br />

Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, daß das eine die<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ng für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine<br />

Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui für einen großen<br />

Revolutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz<br />

und gar nicht verächtlich.<br />

Unsere Praxis ist kein Jahr alt. Die Zeit ist <strong>zu</strong> kurz, um schon von Ergebnissen reden<br />

<strong>zu</strong> können. Die große Öffentlichkeit, die uns die Herren Genscher, Zimmermann &<br />

Co. verschafft haben, läßt es uns aber propagandistisch opportun erscheinen, schon<br />

jetzt einiges <strong>zu</strong> bedenken <strong>zu</strong> geben.<br />

"Wenn ihr allerdings wissen wollt, was die Kommunisten denken, dann seht auf ihre<br />

Hände und nicht auf ihren Mund", sagt Lenin.<br />

II. Metropole Bundesrepublik<br />

Die Krise entsteht nicht so sehr durch den Stillstand der Entwicklungsmechanismen<br />

als vielmehr durch die Entwicklung selbst. Da sie einzig das Anwachsen von Profit<br />

<strong>zu</strong>m Ziel hat, speist diese Entwicklung mehr und mehr den Parasitismus und die<br />

Vergeudung, benachteiligt sie ganze soziale Schichten, produziert sie wachsende<br />

Bedürfnisse, die sie nicht befriedigen kann, und beschleunigt sie den Zerfall des<br />

gesellschaftlichen Lebens. Nur ein monströser Apparat kann die provozierten<br />

Spannungen und Revolten durch Meinungsmanipulation und offene Repression<br />

kontrollieren. Die Rebellion der Studenten und der Negerbewegung in Amerika, die<br />

Krise, in die die politische Einheit der amerikanischen Gesellschaft geraten ist, die<br />

Ausdehnung der studentischen Kämpfe in Europa, der heftige Wiederbeginn und die<br />

neuen Inhalte des Arbeiter- und Massenkampfes bis hin <strong>zu</strong>r Explosion des "Mai" in<br />

Frankreich, <strong>zu</strong>r tumultuarischen Gesellschaftskrise in Italien und <strong>zu</strong>m<br />

Wiederaufkommen von Un<strong>zu</strong>friedenheit in Deutschland kennzeichnen die Situation.<br />

Il Manifesto: Notwendigkeit des Kommunismus<br />

16


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Aus These 33<br />

Die Genossen von Il Manifesto nennen bei dieser Aufzählung die Bundesrepublik<br />

<strong>zu</strong>recht an letzter Stelle und benennen das, was die Situation hier kennzeichnet, nur<br />

vage als "Un<strong>zu</strong>friedenheit". Die Bundesrepublik, von der Barzel (5) vor sechs Jahren<br />

noch gesagt hat, sie sei ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg - ihre<br />

ökonomische Stärke ist seither nicht weniger geworden, ihre politische Stärke mehr,<br />

nach innen und außen. Mit der Bildung der Großen Koalition 1966 kam man der<br />

politischen Gefahr, die aus der damals bevorstehenden Rezession hätte spontan<br />

entstehen können, <strong>zu</strong>vor. Mit den Notstandsgesetzen hat man sich das Instrument<br />

geschaffen, das einheitliches Handeln der Herrschenden auch in <strong>zu</strong>künftigen<br />

Krisensituationen sichert - die Einheit zwischen politischer Reaktion und allen,<br />

denen an Legalität noch gelegen sein würde. Der sozial-liberalen Koalition ist es<br />

gelungen, die "Un<strong>zu</strong>friedenheit", die sich durch Studentenbewegung und<br />

außerparlamentarische Bewegung bemerkbar gemacht hatte, weitgehend <strong>zu</strong><br />

absorbieren, insofern der Reformismus der Sozialdemokratischen Partei im<br />

Bewußtsein ihrer Anhänger noch nicht abgewirtschaftet hat, sie mit ihren<br />

Reformversprechen auch für große Teile der Intelligenz die Aktualität einer<br />

kommunistischen Alternative aufschieben, dem antikapitalistischen Protest die<br />

Schärfe nehmen konnte. Ihre Ostpolitik erschließt dem Kapital neue Märkte, besorgt<br />

den deutschen Beitrag <strong>zu</strong>m Ausgleich und Bündnis zwischen US-Imperialismus<br />

und Sowjetunion, den die USA brauchen, um freie Hand für ihre Aggressionskriege in<br />

der Dritten Welt <strong>zu</strong> haben. Dieser Regierung scheint es auch <strong>zu</strong> gelingen, die Neue<br />

Linke von den alten Antifaschisten <strong>zu</strong> trennen und damit die Neue Linke einmal<br />

mehr von ihrer Geschichte, der Geschichte der Arbeiterbewegung, <strong>zu</strong> isolieren. Die<br />

DKP, die ihre Zulassung der neuen Komplizenschaft US-<br />

Imperialismus/Sowjetrevisionismus verdankt, veranstaltet Demonstrationen für die<br />

Ostpolitik dieser Regierung; Niemöller - antifaschistische Symbolfigur - wirbt für<br />

die SPD in bevorstehenden Wahlkämpfen. -<br />

Unter dem Vorwand "Gemeinwohl" nahm staatlicher Dirigismus mit Lohnleitlinien<br />

und Konzertierter Aktion die Gewerkschaftsbürokratien an die Kandare. Die<br />

Septemberstreiks '69 (7) zeigten, daß man den Bogen <strong>zu</strong>gunsten des Profits<br />

überspannt hatte, zeigten in ihrem Verlauf als nur-ökonomische Streiks, wie fest<br />

man das Heft in der Hand hat.<br />

Die Tatsache, daß die Bundesrepublik mit ihren annähernd zwei Millionen<br />

ausländischen Arbeitern in der sich abzeichnenden Rezession eine Arbeitslosigkeit<br />

bis <strong>zu</strong> annähernd 10 Prozent da<strong>zu</strong> wird benutzen können, den ganzen Terror, den<br />

ganzen Disziplinierungsmechanismus, der Arbeitslosigkeit für das Proletariat<br />

bedeutet, <strong>zu</strong> entfalten, ohne ein Heer von Arbeitslosen verkraften <strong>zu</strong> müssen, ohne<br />

die politische Radikalisierung dieser Massen am Hals <strong>zu</strong> haben, verschafft einen<br />

Begriff von der Stärke des Systems.<br />

Durch Entwicklungs- und Militärhilfe an den Aggressionskriegen der USA beteiligt,<br />

profitiert die Bundesrepublik von der Ausbeutung der Dritten Welt, ohne die<br />

Verantwortung für diese Kriege <strong>zu</strong> haben, ohne sich deswegen mit einer Opposition<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

im Innern streiten <strong>zu</strong> müssen. Nicht weniger aggressiv als der US-Imperialismus, ist<br />

sie doch weniger angreifbar.<br />

Die politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind hier weder in ihrer<br />

reformistischen noch in ihrer faschistischen Variante erschöpft, seine Fähigkeiten,<br />

die von ihm selbst erzeugten Widersprüche <strong>zu</strong> integrieren oder <strong>zu</strong> unterdrücken,<br />

nicht am Ende.<br />

Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer<br />

optimistischen Einschät<strong>zu</strong>ng der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin.<br />

III. Studentenrevolte<br />

Aus der Erkenntnis des einheitlichen Charakters des kapitalistischen<br />

Herrschaftssystems resultiert, daß es unmöglich ist, die Revolution "in den<br />

Hochburgen" von der "in den rückständigen Gebieten" <strong>zu</strong> trennen. Ohne eine<br />

Wiederbelebung der Revolution im Westen kann nicht mit Sicherheit verhindert<br />

werden, daß der Imperialismus durch seine Logik der Gewalt da<strong>zu</strong> fortgerissen<br />

wird, seinen Ausweg in einem katastrophischen Krieg <strong>zu</strong> suchen, oder daß die<br />

Supermächte der Welt ein erdrückendes Joch aufzwingen. Il Manifesto. Aus These 52<br />

Die Studentenbewegung als kleinbürgerliche Revolte abtun heißt: sie auf die<br />

Selbstüberschät<strong>zu</strong>ngen, die sie begleiten, reduzieren; heißt: ihren Ursprung aus<br />

dem konkreten Widerspruch zwischen bürgerlicher Ideologie und bürgerlicher<br />

Gesellschaft leugnen; heißt: mit der Erkenntnis ihrer notwendigen Begrenztheit das<br />

theoretische Niveau verleugnen, das ihr antikapitalistischer Protest schon erreicht<br />

hatte.<br />

Gewiß war das Pathos übertrieben, mit dem sich die Studenten, die sich ihrer<br />

psychischen Verelendung in Wissenschaftsfabriken bewußt geworden waren, mit<br />

den ausgebeuteten Völkern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens identifizierten;<br />

stellte der Vergleich zwischen der Massenauflage der "Bild"-Zeitung hier und dem<br />

Massenbombardement auf Vietnam eine grobe Vereinfachung dar; war der<br />

Vergleich zwischen ideologischer Systemkritik hier und bewaffnetem Kampf dort<br />

überheblich; war der Glaube, selbst das revolutionäre Subjekt <strong>zu</strong> sein - soweit er<br />

unter Berufung auf Marcuse verbreitet war -, gegenüber der tatsächlichen Gestalt<br />

der bürgerlichen Gesellschaft und den sie begründenden Produktionsverhältnissen<br />

ignorant.<br />

Es ist das Verdienst der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und Westberlin<br />

- ihrer Straßenkämpfe, Brandstiftungen, Anwendung von Gegengewalt, ihres Pathos,<br />

also auch ihrer Übertreibungen und Ignoranz, kurz: ihrer Praxis, den Marxismus-<br />

Leninismus im Bewußtsein wenigstens der Intelligenz als diejenige politische<br />

Theorie rekonstruiert <strong>zu</strong> haben, ohne die politische, ökonomische und ideologische<br />

Tatsachen und ihre Erscheinungsformen nicht auf den Begriff <strong>zu</strong> bringen sind, ihr<br />

innerer und äußerer Zusammenhang nicht <strong>zu</strong> beschreiben ist.<br />

18


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Gerade weil die Studentenbewegung von der konkreten Erfahrung des Widerspruchs<br />

zwischen der Ideologie der Freiheit der Wissenschaft und der Realität der dem<br />

Zugriff des Monopolkapitals ausgesetzten Universität ausging, weil sie nicht nur<br />

ideologisch initiiert war, ging ihr die Puste nicht aus, bis sie dem Zusammenhang<br />

zwischen der Krise der Universität und der Krise des Kapitalismus wenigstens<br />

theoretisch auf den Grund gegangen war. Bis ihnen und ihrer Öffentlichkeit klar war,<br />

daß nicht "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", nicht Menschenrechte, nicht UNO-<br />

Charta den Inhalt dieser Demokratie ausmachen; daß hier gilt, was für die<br />

kolonialistische und imperialistische Ausbeutung Lateinamerikas, Afrikas und<br />

Asiens immer gegolten hat: Disziplin, Unterordnung und Brutalität für die<br />

Unterdrückten, für die, die sich auf deren Seite stellen, Protest erheben, Widerstand<br />

leisten, den antiimperialistischen Kampf führen.<br />

Ideologiekritisch hat die Studentenbewegung nahe<strong>zu</strong> alle Bereiche staatlicher<br />

Repression als Ausdruck imperialistischer Ausbeutung erfaßt: in der<br />

Springerkampagne, in den Demonstrationen gegen die amerikanische Aggression in<br />

Vietnam, in der Kampagne gegen die Klassenjustiz, in der Bundeswehrkampagne,<br />

gegen die Notstandsgesetze, in der Schülerbewegung. Enteignet Springer!,<br />

Zerschlagt die Nato!, Kampf dem Konsumterror!, Kampf dem Erziehungsterror!,<br />

Kampf dem Mietterror! waren richtige politische Parolen. Sie zielten auf die<br />

Aktualisierung der vom Spätkapitalismus selbst erzeugten Widersprüche im<br />

Bewußtsein aller Unterdrückten, zwischen neuen Bedürfnissen und den durch die<br />

Entwicklung der Produktivkräfte neuen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung auf<br />

der einen Seite und dem Druck irrationaler Unterordnung in der Klassengesellschaft<br />

als Kehrseite.<br />

Was ihr Selbstbewußtsein gab, waren nicht entfaltete Klassenkämpfe hier, sondern<br />

das Bewußtsein, Teil einer internationalen Bewegung <strong>zu</strong> sein, es mit demselben<br />

Klassenfeind hier <strong>zu</strong> tun <strong>zu</strong> haben wie der Vietcong dort, mit demselben Papiertiger,<br />

mit denselben Pigs.<br />

Die provinzialistische Abkapselung der alten Linken durchbrochen <strong>zu</strong> haben, ist das<br />

zweite Verdienst der Studentenbewegung: Die Volksfrontstrategie der alten Linken<br />

als Ostermarsch, Deutsche Friedensunion, "Deutsche Volkszeitung", als irrationale<br />

Hoffnung auf den "großen Erdrutsch" bei irgendwelchen Wahlen, ihre<br />

parlamentarische Fixierung auf Strauß hier, Heinemann da, ihre pro- und<br />

antikommunistische Fixierung auf die DDR, ihre Isolation, ihre Resignation, ihre<br />

moralische Zerrissenheit: <strong>zu</strong> jedem Opfer bereit, <strong>zu</strong> keiner Praxis fähig <strong>zu</strong> sein. Der<br />

sozialistische Teil der Studentenbewegung nahm - trotz theoretischer<br />

Ungenauigkeiten - sein Selbstbewußtsein aus der richtigen Erkenntnis, daß "die<br />

revolutionäre Initiative im Westen auf die Krise des globalen Gleichgewichts und auf<br />

das Heranreifen neuer Kräfte in allen Ländern vertrauen kann" (These 55 von Il<br />

Manifesto). Sie machten <strong>zu</strong>m Inhalt ihrer Agitation und Propaganda das, worauf sie<br />

sich angesichts der deutschen Verhältnisse hauptsächlich berufen konnten: daß<br />

gegenüber der Globalstrategie des Imperialismus die Perspektive nationaler Kämpfe<br />

internationalistisch <strong>zu</strong> sein hat, daß erst die Verbindung nationaler Inhalte mit<br />

internationalen, traditioneller Kampfformen mit internationalistischen revolutionäre<br />

19


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Initiative stabilisieren kann. Sie machten ihre Schwäche <strong>zu</strong> ihrer Stärke, weil sie<br />

erkannt hatten, daß nur so erneute Resignation, provinzialistische Abkapselung,<br />

Reformismus, Volksfrontstrategie, Integration verhindert werden können - die<br />

Sackgassen sozialistischer Politik unter post- und präfaschistischen Bedingungen,<br />

wie sie in der Bundesrepublik und Westberlin bestehen.<br />

Die Linken wußten damals, daß es richtig sein würde, sozialistische Propaganda im<br />

Betrieb mit der tatsächlichen Verhinderung der Auslieferung der "Bild"-Zeitung <strong>zu</strong><br />

verbinden. Daß es richtig wäre, die Propaganda bei den GI's, sich nicht nach Vietnam<br />

schicken <strong>zu</strong> lassen, mit tatsächlichen Angriffen auf Militärflugzeuge für Vietnam <strong>zu</strong><br />

verbinden, die Bundeswehrkampagne mit tatsächlichen Angriffen auf Nato-<br />

Flughäfen. Daß es richtig wäre, die Kritik an der Klassenjustiz mit dem Sprengen<br />

von Gefängnismauern <strong>zu</strong> verbinden, die Kritik am Springerkonzern mit der<br />

Entwaffnung seines Werkschutzes, richtig, einen eigenen Sender in Gang <strong>zu</strong> setzen,<br />

die Polizei <strong>zu</strong> demoralisieren, illegale Wohnungen für Bundeswehrdeserteure <strong>zu</strong><br />

haben, für die Agitation bei ausländischen Arbeitern Personalpapiere fälschen <strong>zu</strong><br />

können, durch Betriebssabotage die Produktion von Napalm <strong>zu</strong> verhindern.<br />

Und falsch, seine eigene Propaganda von Angebot und Nachfrage abhängig <strong>zu</strong><br />

machen: keine Zeitung, wenn die Arbeiter sie noch nicht finanzieren, kein Auto, wenn<br />

die "Bewegung" es noch nicht kaufen kann, keinen Sender, weil es keine Lizenz<br />

dafür gibt, keine Sabotage, weil der Kapitalismus davon nicht gleich<br />

<strong>zu</strong>sammenbricht.<br />

Die Studentenbewegung zerfiel, als ihre spezifisch studentisch-kleinbürgerliche<br />

Organisationsform, das "Antiautoritäre Lager", sich als ungeeignet erwies, eine ihren<br />

Zielen angemessene Praxis <strong>zu</strong> entwickeln, ihre Spontaneität weder einfach in die<br />

Betriebe <strong>zu</strong> verlängern war noch in eine funktionsfähige Stadtguerilla noch in eine<br />

sozialistische Massenorganisation. Sie zerfiel, als der Funke der<br />

Studentenbewegung - anders als in Italien und Frankreich - nicht <strong>zu</strong>m<br />

Steppenbrand entfalteter Klassenkämpfe geworden war. Sie konnte die Ziele und<br />

Inhalte des antiimperialistischen Kampfes benennen - selbst nicht das revolutionäre<br />

Subjekt, konnte sie deren organisatorische Vermittlung nicht leisten.<br />

Die Rote Armee Fraktion leugnet im Unterschied <strong>zu</strong> den "proletarischen<br />

Organisationen" der Neuen Linken ihre Vorgeschichte als Geschichte der<br />

Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im<br />

Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären<br />

Kampf in den Metropolen hergestellt hat.<br />

IV. Primat der Praxis<br />

Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennenlernen will,<br />

muß persönlich am praktischen Kampf <strong>zu</strong>r Veränderung der Wirklichkeit, <strong>zu</strong>r<br />

Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen teilnehmen, denn nur so<br />

kommt er mit der Erscheinung der betreffenden Dinge in Berührung, und erst durch<br />

die persönliche Teilnahme am praktischen Kampf <strong>zu</strong>r Veränderung der Wirklichkeit<br />

20


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

ist er imstande, das Wesen jenes Dinges bzw. jenes Komplexes von Dingen <strong>zu</strong><br />

enthüllen und sie <strong>zu</strong> verstehen.<br />

Aber der Marxismus legt der Theorie darum und nur darum ernste Bedeutung bei,<br />

weil sie die Anleitung <strong>zu</strong>m Handeln sein kann. Wenn man über eine richtige Theorie<br />

verfügt, sie aber nur als etwas behandelt, worüber man einmal schwatzt, um es<br />

dann in die Schublade <strong>zu</strong> legen, was man jedoch keineswegs in die Praxis umsetzt,<br />

dann wird diese Theorie, so gut sie auch sein mag, bedeutungslos. Mao Tse Tung:<br />

Über die Praxis<br />

Die Hinwendung der Linken, der Sozialisten, die <strong>zu</strong>gleich die Autoritäten der<br />

Studentenbewegung waren, <strong>zu</strong>m Studium des wissenschaftlichen Sozialismus, die<br />

Aktualisierung der Kritik der politischen Ökonomie als ihrer Selbstkritik an der<br />

Studentenbewegung, war gleichzeitig die Rückkehr <strong>zu</strong> ihren studentischen<br />

Schreibtischen. Nach ihrer Papierproduktion <strong>zu</strong> urteilen, ihren<br />

Organisationsmodellen, dem Aufwand, den sie mit und in ihren Erklärungen treiben,<br />

könnte man meinen, hier beanspruchten Revolutionäre die Führung in gewaltigen<br />

Klassenkämpfen, als wäre das Jahr 1967/68 das 1905 des Sozialismus in<br />

Deutschland. Wenn Lenin 1903 in "Was tun?" das Theoriebedürfnis der russischen<br />

Arbeiter hervorhob und gegenüber Anarchisten und Sozialrevolutionären die<br />

Notwendigkeit von Klassenanalyse und Organisation und entlarvender Propaganda<br />

postulierte, dann, weil massenhafte Klassenkämpfe im Gange waren. "Das ist es ja<br />

gerade, daß die Arbeitermassen durch die Niederträchtigkeit des russischen Lebens<br />

sehr stark aufgerüttelt werden, wir verstehen es nur nicht, alle jene Tropfen und<br />

Rinnsale der Volkserregung <strong>zu</strong> sammeln und - wenn man so sagen darf - <strong>zu</strong><br />

konzentrieren, die aus dem russischen Leben in unermeßlich größerer Menge<br />

hervorquellen, als wir alle es uns vorstellen und glauben, die aber <strong>zu</strong> einem<br />

gewaltigen Strom vereinigt werden müssen." (Lenin: Was tun?)<br />

Wir bezweifeln, ob es unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Bundesrepublik<br />

und Westberlin überhaupt schon möglich ist, eine die Arbeiterklasse vereinigende<br />

Strategie <strong>zu</strong> entwikkeln, eine Organisation <strong>zu</strong> schaffen, die gleichzeitig Ausdruck<br />

und Initiator des notwendigen Vereinheitlichungsprozesses sein kann. Wir<br />

bezweifeln, daß sich das Bündnis zwischen der sozialistischen Intelligenz und dem<br />

Proletariat durch programmatische Erklärungen "schweißen", durch ihrem<br />

Anspruch nach proletarische Organisationen erzwingen läßt. Die Tropfen und<br />

Rinnsale über die Niederträchtigkeiten des deutschen Lebens sammelt bislang noch<br />

der Springer-Konzern und leitet sie neuen Niederträchtigkeiten <strong>zu</strong>.<br />

Wir behaupten, daß ohne revolutionäre Initiative, ohne die praktische revolutionäre<br />

Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter und Intellektuellen, ohne<br />

den konkreten antiimperialistischen Kampf es keinen Vereinheitlichungsprozeß gibt,<br />

daß das Bündnis nur in gemeinsamen Kämpfen hergestellt wird oder nicht, in<br />

denen der bewußte Teil der Arbeiter und Intellektuellen nicht Regie <strong>zu</strong> führen,<br />

sondern voran<strong>zu</strong>gehen hat.<br />

21


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

In der Papierproduktion der Organisationen erkennen wir ihre Praxis hauptsächlich<br />

nur wieder als den Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich vor einer<br />

imaginären Jury, die die Arbeiterklasse nicht sein kann, weil ihre Sprache schon<br />

deren Mitsprache ausschließt, den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen.<br />

Es ist ihnen peinlicher, bei einem falschen Marx-Zitat ertappt <strong>zu</strong> werden als bei<br />

einer Lüge, wenn von ihrer Praxis die Rede ist. Die Seitenzahlen, die sie in ihren<br />

Anmerkungen angeben, stimmen fast immer, die Mitgliederzahlen, die sie für ihre<br />

Organisationen angeben, stimmen fast nie. Sie fürchten sich vor dem Vorwurf der<br />

revolutionären Ungeduld mehr als vor ihrer Korrumpierung in bürgerlichen<br />

Berufen, mit Lukacz langfristig <strong>zu</strong> promovieren, ist ihnen wichtig, sich von Blanqui<br />

kurzfristig agitieren <strong>zu</strong> lassen, ist ihnen suspekt. Ihrem Internationalismus geben sie<br />

in Zensuren Ausdruck, mit denen sie die eine palästinensische<br />

Kommandoorganisation vor der anderen auszeichnen - weiße Herren, die sich als die<br />

wahren Sachwalter des Marxismus aufspielen; sie bringen ihn in den<br />

Umgangsformen von Mäzenatentum <strong>zu</strong>m Ausdruck, indem sie befreundete Reiche<br />

im Namen der Black Panther Partei anbetteln und das, was die für ihren Ablaß <strong>zu</strong><br />

geben bereit sind, sich selbst beim lieben Gott gutschreiben lassen - nicht den "Sieg<br />

im Volkskrieg" im Auge, nur um ihr gutes Gewissen besorgt. Eine revolutionäre<br />

Interventionsmethode ist das nicht.<br />

Mao stellte in seiner "Analyse der Klassen in der chinesischen Geselschaft" (1926)<br />

den Kampf der Revolution und den Kampf der Konterrevolution einander gegenüber<br />

als "das Rote Banner der Revolution, hoch erhoben von der III. Internationale, die alle<br />

unterdrückten Klassen in der Welt aufruft, sich um ihr Banner <strong>zu</strong> scharen; das<br />

andere ist das Weiße Banner der Konterrevolution, erhoben vom Völkerbund, der alle<br />

Konterrevolutionäre aufruft, sich um sein Banner <strong>zu</strong> scharen." Mao unterschied die<br />

Klassen in der chinesischen Gesellschaft danach, wie sie sich zwischen Rotem und<br />

Weißem Banner beim Fortschreiten der Revolution in China entscheiden würden. Es<br />

genügte ihm nicht, die ökonomische Lage der verschiedenen Klassen in der<br />

Chinesischen Gesellschaft <strong>zu</strong> analysieren. Bestandteil seiner Klassenanalyse war<br />

ebenso die Einstellung der verschiedenen Klassen <strong>zu</strong>r Revolution.<br />

Eine Führungsrolle der Marxisten-Leninisten in <strong>zu</strong>künftigen Klassenkämpfen wird<br />

es nicht geben, wenn die Avantgarde selbst nicht das Rote Banner des<br />

Proletarischen Internationalismus hochhält und wenn die Avantgarde selbst die<br />

Frage nicht beantwortet, wie die Diktatur des Proletariats <strong>zu</strong> errichten sein wird, wie<br />

die politische Macht des Proletariats <strong>zu</strong> erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie <strong>zu</strong><br />

brechen ist, und durch keine Praxis darauf vorbereitet ist, sie <strong>zu</strong> beantworten. Die<br />

Klassenanalyse, die wir brauchen, ist nicht <strong>zu</strong> machen ohne revolutionäre Praxis,<br />

ohne revolutionäre Initiative.<br />

Die "revolutionären Übergangsforderungen", die die proletarischen Organisationen<br />

landauf landab aufgestellt haben, wie Kampf der Intensivierung der Ausbeutung,<br />

Verkür<strong>zu</strong>ng der Arbeitszeit, gegen die Vergeudung von gesellschaftlichem<br />

Reichtum, gleicher Lohn für Männer und Frauen und ausländische Arbeiter, gegen<br />

Akkordhetze etc., - diese Übergangsforderungen sind nichts als gewerkschaftlicher<br />

Ökonomismus, solange nicht gleichzeitig die Frage beantwortet wird, wie der<br />

22


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

politische, militärische und propagandistische Druck <strong>zu</strong> brechen sein wird, der sich<br />

schon diesen Forderungen aggressiv in den Weg stellen wird, wenn sie in<br />

massenhaften Klassenkämpfen erhoben werden. Dann aber - wenn es bei ihnen<br />

bleibt - sind sie nur noch ökonomistischer Dreck, weil es sich um sie nicht lohnt, den<br />

revolutionären Kampf auf<strong>zu</strong>nehmen und <strong>zu</strong>m Sieg <strong>zu</strong> führen, wenn "siegen heißt,<br />

prinzipiell akzeptieren, daß das Leben nicht das höchste Gut des Revolutionärs ist"<br />

(Debray - 10). Mit diesen Forderungen kann man gewerkschaftlich intervenieren -<br />

"die tradeunionistische Politik der Arbeiterklasse ist aber eben bürgerliche Politik<br />

der Arbeiterklasse" (Lenin). Eine revolutionäre Interventionsmethode ist sie nicht.<br />

Die sogenannten proletarischen Organisationen unterscheiden sich, wenn sie die<br />

Frage der Bewaffnung als Antwort auf die Notstandsgesetze, die Bundeswehr, den<br />

Bundesgrenzschutz, die Polizei, die Springerpresse nicht aufwerfen,<br />

opportunistisch verschweigen, nur insoweit von der DKP, als sie noch weniger in den<br />

Massen verankert sind, als sie wortradikaler sind, als sie theoretisch mehr drauf<br />

haben. Praktisch begeben sie sich auf das Niveau von Bürgerrechtlern, die es auf<br />

Popularität um jeden Preis abgesehen haben, unterstützen sie die Lügen der<br />

Bourgeoisie, daß in diesem Staat mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie<br />

noch was aus<strong>zu</strong>richten sei, ermutigen sie das Proletariat <strong>zu</strong> Kämpfen, die<br />

angesichts des Potentials an Gewalt in diesem Staat nur verloren werden können -<br />

auf barbarische Weise. "Diese marxistisch-leninistischen Fraktionen oder Parteien" -<br />

schreibt Debray über die Kommunisten in Lateinamerika - "bewegen sich innerhalb<br />

derselben politischen Fragestellungen, wie sie von der Bourgeoisie beherrscht<br />

werden. Anstatt sie <strong>zu</strong> verändern, haben sie da<strong>zu</strong> beigetragen, sie noch fester <strong>zu</strong><br />

verankern ..."<br />

Den Tausenden von Lehrlingen und Jugendlichen, die aus ihrer Politisierung<br />

während der Studentenbewegung erstmal den Schluß gezogen haben, sich dem<br />

Ausbeutungsdruck im Betrieb <strong>zu</strong> entziehen, bieten diese Organisationen keine<br />

politische Perspektive mit dem Vorschlag, sich dem kapitalistischen<br />

Ausbeutungsdruck erstmal wieder an<strong>zu</strong>passen. Gegenüber der Jugendkriminalität<br />

nehmen sie praktisch den Standpunkt von Gefängnisdirektoren ein, gegenüber den<br />

Genossen im Knast den Standpunkt ihrer Richter, gegenüber dem Untergrund den<br />

Standpunkt von Sozialarbeitern.<br />

Praxislos ist die Lektüre des "Kapital" nichts als bürgerliches Studium. Praxislos<br />

sind programmatische Erklärungen nur Geschwätz. Praxislos ist proletarischer<br />

Internationalismus nur Angeberei. Theoretisch den Standpunkt des Proletariats<br />

einnehmen heißt, ihn praktisch einnehmen.<br />

Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den<br />

bewaffneten Widerstand jetzt <strong>zu</strong> organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob<br />

es möglich ist, ist nur praktisch <strong>zu</strong> ermitteln.<br />

23


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

V. Stadtguerilla<br />

Somit muß man von seinem Wesen her, aus einer langen Perspektive, in<br />

strategischer Hinsicht den Imperialismus und alle Reaktionäre als das betrachten,<br />

was sie in Wirklichkeit sind: als Papiertiger. Darauf müssen wir unser strategisches<br />

Denken gründen. Andererseits sind sie aber wiederum lebendige, eisenharte,<br />

wirkliche Tiger, die Menschen fressen. Darauf müssen wir unser taktisches Denken<br />

gründen. Mao Tse Tung, 1.12.1958<br />

Wenn es richtig ist, daß der amerikanische Imperialismus ein Papiertiger ist, d.h.<br />

daß er letzten Endes besiegt werden kann; und wenn die These der chinesischen<br />

Kommunisten richtig ist, daß der Sieg über den amerikanischen Imperialismus<br />

dadurch möglich geworden ist, daß an allen Ecken und Enden der Welt der Kampf<br />

gegen ihn geführt wird, so daß dadurch die Kräfte des Imperialismus zersplittert<br />

werden und durch ihre Zersplitterung schlagbar werden - wenn das richtig ist, dann<br />

gibt es keinen Grund, irgendein Land und irgendeine Region aus dem<br />

antiimperialistischen Kampf deswegen aus<strong>zu</strong>schließen oder aus<strong>zu</strong>klammern, weil<br />

die Kräfte der Revolution dort besonders schwach, weil die Kräfte der Reaktion dort<br />

besonders stark sind.<br />

Wie es falsch ist, die Kräfte der Revolution <strong>zu</strong> entmutigen, indem man sie<br />

unterschätzt, ist es falsch, ihnen Auseinanderset<strong>zu</strong>ngen vor<strong>zu</strong>schlagen, in denen sie<br />

nur verheizt und kaputtgemacht werden können. Der Widerspruch zwischen den<br />

ehrlichen Genossen in den Organisationen - lassen wir die Schwätzer mal raus - und<br />

der Roten Armee Fraktion ist der, daß wir ihnen vorwerfen, die Kräfte der Revolution<br />

<strong>zu</strong> entmutigen, und daß sie uns verdächtigen, wir würden die Kräfte der Revolution<br />

verheizen. Daß damit die Richtung angegeben wird, in der die Fraktion der in<br />

Betrieben und Stadtteilen arbeitenden Genossen und die Rote Armee Fraktion den<br />

Bogen überspannen, wenn sie ihn überspannen, entspricht der Wahrheit.<br />

Dogmatismus und Abenteurertum sind seit je die charakteristischen Abweichungen<br />

in Perioden der Schwäche der Revolution in einem Land. Da seit je die Anarchisten<br />

die schärfsten Kritiker des Opportunismus waren, setzt sich dem Anarchismus-<br />

Vorwurf aus, wer die Opportunisten kritisiert. Das ist gewissermaßen ein alter Hut.<br />

Das Konzept Stadtguerilla stammt aus Lateinamerika. Es ist dort, was es auch hier<br />

nur sein kann: die revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwachen<br />

revolutionären Kräften.<br />

Stadtguerilla geht davon aus, daß es die preußische Marschordnung nicht geben<br />

wird, in der viele sogenannte Revolutionäre das Volk in den revolutionären Kampf<br />

führen möchten. Geht davon aus, daß dann, wenn die Situation reif sein wird für den<br />

bewaffneten Kampf, es <strong>zu</strong> spät sein wird, ihn erst vor<strong>zu</strong>bereiten. Daß es ohne<br />

revolutionäre Initiative in einem Land, dessen Potential an Gewalt so groß, dessen<br />

revolutionäre Traditionen so kaputt und so schwach sind wie in der Bundesrepublik,<br />

auch dann keine revolutionäre Orientierung geben wird, wenn die Bedingungen für<br />

den revolutionären Kampf günstiger sein werden, als sie es jetzt schon sind -<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

aufgrund der politischen und ökonomischen Entwicklung des Spätkapitalismus<br />

selbst.<br />

Stadtguerilla ist insofern die Konsequenz aus der längst vollzogenen Negation der<br />

parlamentarischen Demokratie durch ihre Repräsentanten selbst, die<br />

unvermeidliche Antwort auf Notstandsgesetze und Handgranatengesetz, die<br />

Bereitschaft, mit den Mitteln <strong>zu</strong> kämpfen, die das System für sich bereitgestellt hat,<br />

um seine Gegner aus<strong>zu</strong>schalten. Stadtguerilla basiert auf der Anerkennung der<br />

Tatsachen statt der Apologie von Tatsachen.<br />

Was Stadtguerilla machen kann, hat die Studentenbewegung teilweise schon<br />

gewußt. Sie kann die Agitation und Propaganda, worauf linke Arbeit noch reduziert<br />

ist, konkret machen. Das kann man sich für die Springerkampagne von damals<br />

vorstellen und für die Carbora-Bassa-Kampagne der Heidelberger Studenten, für<br />

die Hausbeset<strong>zu</strong>ngen in Frankfurt, in be<strong>zu</strong>g auf die Militärhilfen, die die<br />

Bundesrepublik den Kompradoren-Regimes in Afrika gibt, in be<strong>zu</strong>g auf die Kritik am<br />

Strafvoll<strong>zu</strong>g und an der Klassenjustiz, am Werkschutz und innerbetrieblicher Justiz.<br />

Sie kann den verbalen Internationalismus konkretisieren als die Beschaffung von<br />

Waffen und Geld. Sie kann die Waffe des Systems, die Illegalisierung von<br />

Kommunisten, stumpf machen, indem sie einen Untergrund organisiert, der dem<br />

Zugriff der Polizei entzogen bleibt. Stadtguerilla ist eine Waffe im Klassenkampf.<br />

Stadtguerilla ist bewaffneter Kampf, insofern es die Polizei ist, die rücksichtslos von<br />

der Schußwaffe Gebrauch macht, und die Klassenjustiz, die Kurras freispricht und<br />

die Genossen lebendig begräbt, wenn wir sie nicht daran hindern. Stadtguerillla<br />

heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demoralisieren <strong>zu</strong> lassen.<br />

Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten<br />

<strong>zu</strong> destruieren, stellenweise außer Kraft <strong>zu</strong> setzen, den Mythos von der Allgegenwart<br />

des Systems und seiner Unverletzbarkeit <strong>zu</strong> zerstören.<br />

Stadtguerilla setzt die Organisierung eines illegalen Apparates voraus, das sind<br />

Wohnungen, Waffen, Munition, Autos, Papiere. Was dabei im einzelnen <strong>zu</strong> beachten<br />

ist, hat Marighela in seinem "Minihandbuch der Stadtguerilla" beschrieben. Was<br />

dabei noch <strong>zu</strong> beachten ist, sind wir jederzeit jedem bereit <strong>zu</strong> sagen, der es wissen<br />

muß, wenn er es machen will. Wir wissen noch nicht viel, aber schon einiges.<br />

Wichtig ist, daß man, bevor man sich entschließt, bewaffnet <strong>zu</strong> kämpfen, legale<br />

politische Erfahrungen gemacht hat. Wo der Anschluß an die revolutionäre Linke<br />

auch noch einem modischen Bedürfnis entspricht, schließt man sich besser nur da<br />

an, von wo man wieder <strong>zu</strong>rück kann.<br />

Rote Armee Fraktion und Stadtguerilla sind diejenige Fraktion und Praxis, die, indem<br />

sie einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und dem Feind ziehen, am<br />

schärfsten bekämpft werden. Das setzt politische Identität voraus, das setzt voraus,<br />

daß einige Lernprozesse schon gelaufen sind.<br />

25


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Unser ursprüngliches Organisationskonzept beinhaltete die Verbindung von<br />

Stadtguerilla und Basisarbeit. Wir wollten, daß jeder von uns gleichzeitig im<br />

Stadtteil oder im Betrieb in den dort bestehenden sozialistischen Gruppen<br />

mitarbeitet, den Diskussionsprozeß mit beeinflußt, Erfahrungen macht, lernt. Es hat<br />

sich gezeigt, daß das nicht geht. Daß die Kontrolle, die die politische Polizei über<br />

diese Gruppen hat, ihre Treffen, ihre Termine, ihre Diskussionsinhalte, schon jetzt so<br />

weit reicht, daß man dort nicht sein kann, wenn man auch noch unkontrolliert sein<br />

will. Daß der einzelne die legale Arbeit nicht mit der illegalen verbinden kann.<br />

Stadtguerilla setzt voraus, sich über seine eigene Motivation im klaren <strong>zu</strong> sein, sicher<br />

<strong>zu</strong> sein, daß "Bild"-Zeitungsmethoden bei einem nicht mehr verfangen, daß das<br />

Antisemitismus-Kriminellen-Untermenschen-Mord&Brand-Syndrom, das sie auf<br />

Revolutionäre anwenden, die ganze Scheiße, die nur die ab<strong>zu</strong>sondern und <strong>zu</strong><br />

artikulieren imstande sind und die immer noch viele Genossen in ihrem Urteil über<br />

uns beeinflußt, daß die einen nicht trifft.<br />

Denn natürlich überläßt uns das System nicht das Terrain, und es gibt kein Mittel -<br />

auch keines der Verleumdung -, das sie nicht gegen uns an<strong>zu</strong>wenden entschlossen<br />

wären.<br />

Und es gibt keine Öffentlichkeit, die ein anderes Ziel hätte, als die Interessen des<br />

Kapitals auf die eine oder andere Art wahr<strong>zu</strong>nehmen, und es gibt noch keine<br />

sozialistische Öffentlichkeit, die über sich selbst, ihre Zirkel, ihren Handvertrieb, ihre<br />

Abonnenten hinausreichte, die sich nicht noch hauptsächlich in <strong>zu</strong>fälligen, privaten,<br />

persönlichen, bürgerlichen Umgangsformen abspielte. Es gibt keine<br />

Publikationsmittel, die nicht vom Kapital kontrolliert würden, über das<br />

Anzeigengeschäft, über den Ehrgeiz der Schreiber, sich in das ganz große<br />

Establishment rein<strong>zu</strong>schreiben, über die Rundfunkräte, über die Konzentration auf<br />

dem Pressemarkt. Herrschende Öffentlichkeit ist die Öffentlichkeit der<br />

Herrschenden, in Marktlücken aufgeteilt, schichtenspezifische Ideologien<br />

entwickelnd, was sie verbreiten, steht im Dienst ihrer Selbstbehauptung auf dem<br />

Markt. Die journalistische Kategorie heißt: Verkauf. Die Nachricht als Ware, die<br />

Information als Konsum. Was nicht konsumierbar ist, muß sie ankotzen.<br />

Leserblattbindung bei den anzeigenintensiven Publikationsmitteln, ifas-<br />

Punktsysteme beim Fernsehen - das kann keine Widersprüche zwischen sich und<br />

dem Publikum aufkommen lassen, keine antagonistischen, keine mit Folgen. Den<br />

Anschluß an den mächtigsten Meinungsbildner am Markt muß halten, wer sich am<br />

Markt halten will; d.h. die Abhängigkeit vom Springerkonzern wächst in dem Maße,<br />

als der Springerkonzern wächst, der angefangen hat, auch die Lokalpresse<br />

ein<strong>zu</strong>kaufen. Die Stadtguerilla hat von dieser Öffentlichkeit nichts anderes <strong>zu</strong><br />

erwarten als erbitterte Feindschaft. An marxistischer Kritik und Selbstkritik hat sie<br />

sich <strong>zu</strong> orientieren, an sonst nichts. "Wer keine Angst vor Vierteilung hat, wagt es,<br />

den Kaiser vom Pferd <strong>zu</strong> zerren", sagt Mao da<strong>zu</strong>.<br />

Langfristigkeit und Kleinarbeit sind Postulate, die für die Stadtguerilla erst recht<br />

gelten, insofern wir nicht nur davon reden, sondern auch danach handeln. Ohne den<br />

Rück<strong>zu</strong>g in bürgerliche Berufe offen <strong>zu</strong> halten, ohne die Revolution noch mal an den<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Nagel im Reihenhaus hängen <strong>zu</strong> können, ohne also auch das <strong>zu</strong> wollen, also mit<br />

dem Pathos, das Blanqui ausgedrückt hat: "Die Pflicht eines Revolutionärs ist,<br />

immer <strong>zu</strong> kämpfen, trotzdem <strong>zu</strong> kämpfen, bis <strong>zu</strong>m Tod <strong>zu</strong> kämpfen."<br />

- Es gibt keinen revolutionären Kampf und hat noch keinen gegeben, dessen Moral<br />

nicht diese gewesen wäre: Rußland, China, Kuba, Algerien, Palästina, Vietnam.<br />

Manche sagen, die politischen Möglichkeiten der Organisierung, der Agitation, der<br />

Propaganda seien noch längst nicht erschöpft, aber erst dann, wenn sie erschöpft<br />

seien, könnte man die Frage der Bewaffnung aufwerfen. Wir sagen: Die politischen<br />

Möglichkeiten werden solange nicht wirklich ausgenutzt werden können, solange<br />

das Ziel, der bewaffnete Kampf, nicht als das Ziel der Politisierung <strong>zu</strong> erkennen ist,<br />

solange die strategische Bestimmung, daß alle Reaktionäre Papiertiger sind, nicht<br />

hinter der taktischen Bestimmung, daß sie Verbrecher, Mörder, Ausbeuter sind, <strong>zu</strong><br />

erkennen ist.<br />

Von "bewaffneter Propaganda" werden wir nicht reden, sondern werden sie machen.<br />

Die Gefangenenbefreiung lief nicht aus propagandistischen Gründen, sondern um<br />

den Typ raus<strong>zu</strong>holen. Banküberfälle, wie man sie uns in die Schuhe <strong>zu</strong> schieben<br />

versucht, würden auch wir nur machen, um Geld auf<strong>zu</strong>reißen. Die "glänzenden<br />

Erfolge", von denen Mao sagt, daß wir sie erzielt haben müssen, "wenn der Feind<br />

uns in den schwärzesten Farben malt", sind nur bedingt unsere eigenen Erfolge.<br />

Das große Geschrei, das über uns angestimmt worden ist, verdanken wir mehr den<br />

lateinamerikanischen Genossen - aufgrund des klaren Trennungsstrichs zwischen<br />

sich und dem Feind, den sie schon gezogen haben -, so daß die Herrschenden hier<br />

uns wegen des Verdachts von ein paar Banküberfällen so "energisch<br />

entgegentreten", als gäbe es schon das, was auf<strong>zu</strong>bauen wir angefangen haben: die<br />

Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion.<br />

VI. Legalität und Illegalität<br />

Die Revolution im Westen, die Herausforderung der kapitalistischen Macht in den<br />

Hochburgen, ist das Gebot der Stunde. Sie ist von entscheidender Bedeutung. Die<br />

derzeitige Weltsituation kennt keinen Ort und keine Kräfte, die in der Lage wären,<br />

eine friedliche Entwicklung und eine demokratische Stabilisierung <strong>zu</strong> garantieren.<br />

Die Krise spitzt sich tendenziell <strong>zu</strong>. Sich jetzt provinzialistisch ab<strong>zu</strong>kapseln oder den<br />

Kampf auf später <strong>zu</strong> verschieben, bedeutet: Man wird in den Strudel des<br />

umfassenden Niedergangs hineingerissen. Il Manifesto. Aus These 55<br />

Die Parole der Anarchisten "Macht kaputt, was Euch kaputt macht" zielt auf die<br />

direkte Mobilisierung der Basis, der Jugendlichen in Gefängnissen und Heimen, in<br />

Schulen und in der Ausbildung, richtet sich an die, denen es am dreckigsten geht,<br />

zielt auf spontanes Verständnis, ist die Aufforderung <strong>zu</strong>m direkten Widerstand. Die<br />

Black Power-Parole von Stokely Carmichael : "Vertrau deiner eigenen Erfahrung!"<br />

meinte eben das. Die Parole geht von der Einsicht aus, daß es im Kapitalismus<br />

nichts, aber auch nichts gibt, das einen bedrückt, quält, hindert, belastet, was seinen<br />

Ursprung nicht in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hätte, daß jeder<br />

27


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Unterdrücker, in welcher Gestalt auch immer er auftritt, ein Vertreter des<br />

Klasseninteresses des Kapitals ist, das heißt: Klassenfeind.<br />

Insofern ist die Parole der Anarchisten richtig, proletarisch, klassenkämpferisch. Sie<br />

ist falsch, soweit sie das falsche Bewußtsein vermittelt, man brauchte bloß<br />

<strong>zu</strong><strong>zu</strong>schlagen, denen in die Fresse <strong>zu</strong> schlagen, Organisierung sei zweitrangig,<br />

Disziplin bürgerlich, die Klassenanalyse überflüssig. Schutzlos der verschärften<br />

Repression, die auf ihre Aktionen folgt, ausgesetzt, ohne die Dialektik von Legalität<br />

und Illegalität organisatorisch beachtet <strong>zu</strong> haben, werden sie legal verhaftet. Der<br />

Satz einiger Organisationen "Kommunisten sind nicht so einfältig, sich selbst <strong>zu</strong><br />

illegalisieren," redet der Klassenjustiz <strong>zu</strong>m Munde, sonst niemandem. Soweit er<br />

besagt, daß die legalen Möglichkeiten kommunistischer Agitation und Propaganda,<br />

von Organisierung, von politischem und ökonomischen Kampf unbedingt genutzt<br />

werden müssen und nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfen, ist er richtig<br />

- aber das beinhaltet er ja gar nicht. Er beinhaltet, daß die Grenzen, die der<br />

Klassenstaat und seine Justiz der sozialistischen Arbeit setzen, ausreichen, um alle<br />

Möglichkeiten aus<strong>zu</strong>nutzen, daß man sich an die Begren<strong>zu</strong>ngen <strong>zu</strong> halten hat, daß<br />

vor illegalen Übergriffen dieses Staates, da sie ja allemal legalisiert werden,<br />

unbedingt <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>weichen ist - Legalität um jeden Preis. Illegale Inhaftierung,<br />

Terrorurteile, Übergriffe der Polizei, Erpressung und Nötigung durch den<br />

Staatsanwalt - Friß Vogel oder stirb, Kommunisten sind nicht so einfältig ...<br />

Der Satz ist opportunistisch. Er ist unsolidarisch. Er schreibt die Genossen im Knast<br />

ab, er schließt die Organisierung und Politisierung all derer aus der sozialistischen<br />

Bewegung aus, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Lage nicht anders als<br />

kriminell überleben können: den Untergrund, das Subproletariat, unzählige<br />

proletarische Jugendliche, Gastarbeiter. Er dient der theoretischen Kriminalisierung<br />

all derer, die sich den Organisationen nicht anschließen. Er ist ihr Bündnis mit der<br />

Klassenjustiz. Er ist dumm.<br />

Legalität ist eine Machtfrage. Das Verhältnis von Legalität und Illegalität ist an dem<br />

Widerspruch von reformistischer und faschistischer Herrschaftsausübung <strong>zu</strong><br />

bestimmen, deren Bonner Repräsentanten gegenwärtig die sozial-liberale Koalition<br />

hier, Barzel/Strauß da sind, deren publizistische Repräsentanten z.B. die<br />

"Süddeutsche Zeitung", der "Stern", das Dritte Programm des WDR und des SFB,<br />

die "Frankfurter Rundschau" hier sind, der Springerkonzern, der Sender Freies<br />

Berlin, das Zweite Deutsche Fernsehen, der Bayernkurier da, deren Polizei die<br />

Münchner Linie hier, das Berliner Modell da ist, deren Justiz das<br />

Bundesverwaltungsgericht hier, der Bundesgerichtshof da ist.<br />

Die reformistische Linie zielt darauf, Konflikte <strong>zu</strong> vermeiden, durch<br />

Institutionalisierung (Mitbestimmung), durch Reformversprechen (im Strafvoll<strong>zu</strong>g<br />

z.B.), indem sie überalterten Konfliktstoff ausräumt (der Kniefall des Kanzlers in<br />

Polen z.B.), indem sie Provokationen vermeidet (die weiche Linie der Münchner<br />

Polizei und des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin z.B.), durch die verbale<br />

Anerkennung von Mißständen (in der öffentlichen Erziehung in Hessen und Berlin<br />

z.B.). Es gehört <strong>zu</strong>r konfliktvermeidenden Taktik des Reformismus, sich etwas<br />

28


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

innerhalb und etwas weniger außerhalb der Legalität <strong>zu</strong> bewegen, das gibt ihm den<br />

Schein von Legitimation, von Grundgesetz unterm Arm, das zielt auf Integration von<br />

Widersprüchen, das läßt linke Kritik totlaufen, leer laufen, das will die<br />

Jungsozialisten in der SPD halten. Daß die reformistische Linie im Sinne von<br />

langfristiger Stabilisierung kapitalistischer Herrschaft die effektivere Linie ist, wird<br />

nicht bezweifelt, nur ist sie an bestimmte Vorausset<strong>zu</strong>ngen gebunden. Sie setzt<br />

wirtschaftliche Prosperität voraus, weil die weiche Linie der Münchner Polizei z.B.<br />

sehr viel kostspieliger ist als die harte Tour der Berliner - wie es der Münchner<br />

Polizeipräsident sinnfällig dargetan hat: "Zwei Beamte mit Maschinengewehr<br />

können 1000 Leute in Schach halten, 100 Beamte mit Gummiknüppeln können 1000<br />

Leute in Schach halten. Ohne derartige Instrumente benötigt man 300 bis 400<br />

Polizeibeamte." Die reformistische Linie setzt die nicht bis gar nicht organisierte<br />

antikapitalistische Opposition voraus - wie man ebenfalls vom Beispiel München her<br />

weiß.<br />

Unter dem Deckmantel des politischen Reformismus nimmt im übrigen die<br />

Monopolisierung von staatlicher und wirtschaftlicher Macht <strong>zu</strong>, was Schiller mit<br />

seiner Wirtschaftspolitik betreibt und Strauß mit seiner Finanzreform durchgesetzt<br />

hat - die Verschärfung der Ausbeutung durch Arbeitsintensivierung und<br />

Arbeitsteilung im Bereich der Produktion, durch langfristige<br />

Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich der Verwaltung und der Dienstleistungen.<br />

Daß die Akkumulation von Gewalt in den Händen weniger widerstandsloser<br />

funktioniert, wenn man sie geräuschloser durchführt, wenn man dabei unnötige<br />

Provokationen vermeidet, die unkontrollierbare Solidarisierungsprozesse <strong>zu</strong>r Folge<br />

haben können - das hat man aus der Studentenbewegung und dem Mai in Paris<br />

gelernt. Deshalb werden die Roten Zellen noch nicht verboten, deshalb wurde die<br />

KP als DKP - ohne Aufhebung des KP-Verbots - <strong>zu</strong>gelassen, deshalb gibt es noch<br />

liberale Fernsehsendungen, und deshalb können es sich einige Organisationen noch<br />

leisten, sich nicht für so einfältig <strong>zu</strong> halten, wie sie es sind.<br />

Der Legalitätsspielraum, den Reformismus bietet, ist die Antwort des Kapitals auf<br />

die Attacken der Studentenbewegung und der APO - solange man sich die<br />

reformistische Antwort leisten kann, ist sie die effektivere. Auf diese Legalität setzen,<br />

sich auf sie verlassen, sie metaphysisch verlängern, sie statistisch hochrechnen, sie<br />

nur verteidigen wollen, heißt, die Fehler der Strategie der Selbstverteidigungszonen<br />

in Lateinamerika wiederholen, nichts gelernt haben, der Reaktion Zeit lassen, sich <strong>zu</strong><br />

formieren, <strong>zu</strong> reorganisieren, bis sie die Linke nicht illegalisiert, sondern zerschlägt.<br />

Willy Weyer macht eben nicht auf Toleranz, sondern macht Manöver und setzt der<br />

Kritik der liberalen Presse, daß er mit seinen Alkoholkontrollen alle Autofahrer <strong>zu</strong><br />

potentiellen Straftätern macht, nur frech entgegen: "Wir machen weiter!" - womit er<br />

der liberalen Öffentlichkeit ihre Bedeutungslosigkeit nachweist. Eduard<br />

Zimmermann macht ein ganzes Volk <strong>zu</strong> Polizisten, der Springerkonzern hat die<br />

Berliner Polizeiführung gemacht, "BZ"-Kolumnist Reer schreibt den Berliner<br />

Haftrichtern die Haftbefehle vor. Die Massenmobilisierung im Sinn von Faschismus,<br />

von Durchgreifen, von Todesstrafe, von Schlagkraft, von Einsatz findet statt - der<br />

New Look, den die Brandt/Heinemann/Scheel-Administration der Politik in Bonn<br />

gegeben hat, ist die Fassade da<strong>zu</strong>.<br />

29


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Die Genossen, die mit der Frage von Legalität und Illegalität so oberflächlich<br />

umgehen, haben offenbar auch die Amnestie in den falschen Hals gekriegt, mit der<br />

der Studentenbewegung noch nachträglich der Zahn gezogen worden ist. Indem<br />

man die Kriminalisierung Hunderter von Studenten aufhob, kamen diese mit dem<br />

Schrecken davon, wurde weiterer Radikalisierung vorgebeugt, wurden sie energisch<br />

daran erinnert, was die Privilegien bürgerlichen Studentseins wert sind, trotz<br />

Wissenschaftsfabrik Universität, der soziale Aufstieg. So wurde die Klassenschranke<br />

zwischen ihnen und dem Proletariat wieder aufgerichtet, zwischen ihrem<br />

privilegierten Alltag als Studium und dem Alltag des Akkordarbeiters, der<br />

Akkordarbeiterin, die nicht amnestiert wurden vom gleichen Klassenfeind. So blieb<br />

einmal mehr die Theorie von der Praxis getrennt. Die Rechnung: Amnestie gleich<br />

Befriedung ging auf.<br />

Die sozialdemokratische Wählerinitiative von einigen honorablen Schriftstellern -<br />

nicht nur dem abgefuckten Grass -, als Versuch positiver, demokratischer<br />

Mobilisierung, als Abwehr also von Faschismus gemeint und deshalb <strong>zu</strong> beachten,<br />

verwechselt die Wirklichkeit von einigen Verlagen und Redaktionen in Funk- und<br />

Fernsehanstalten, die der Rationalität der Monopole noch nicht unterworfen sind, die<br />

als Überbau nachhinken, mit dem Ganzen der politischen Wirklichkeit. Die Bereiche<br />

verschärfter Repression sind nicht die, mit denen ein Schriftsteller es <strong>zu</strong>erst <strong>zu</strong> tun<br />

hat: Gefängnisse, Klassenjustiz, Akkordhetze, Arbeitsunfälle, Konsum auf Raten,<br />

Schule, "Bild" und "BZ", die Wohnkasernen der Vorstädte, Ausländerghettos - das<br />

alles kriegen Schriftsteller höchstens ästhetisch mit, politisch nicht.<br />

Legalität ist die Ideologie des Parlamentarismus, der Sozialpartnerschaft, der<br />

pluralistischen Gesellschaft. Sie wird <strong>zu</strong>m Fetisch, wenn die, die darauf pochen,<br />

ignorieren, daß Telefone legal abgehört werden, Post legal kontrolliert, Nachbarn<br />

legal befragt, Denunzianten legal bezahlt, daß legal observiert wird - daß die<br />

Organisierung von politischer Arbeit, wenn sie dem Zugriff der politischen Polizei<br />

nicht permanent ausgesetzt sein will, gleichzeitig legal und illegal <strong>zu</strong> sein hat.<br />

Wir setzen nicht auf die spontane antifaschistische Mobilisierung durch Terror und<br />

Faschismus selbst und halten Legalität nicht nur für Korrumpierung und wissen,<br />

daß unsere Arbeit Vorwände liefert, wie der Alkohol für Willy Weyer und die<br />

steigende Kriminalität für Strauß und die Ostpolitik für Barzel und das Rotlicht an<br />

der Ampel, das der Jugoslawe überfuhr, für die Frankfurter Taxifahrer und der Griff<br />

in die Tasche für den Mörder des Autodiebs in Berlin. Und für noch mehr Vorwand,<br />

weil wir Kommunisten sind und es davon, ob die Kommunisten sich organisieren<br />

und kämpfen, abhängt, ob Terror und Repression nur Angst und Resignation<br />

bewirken oder Widerstand und Klassenhaß und Solidarität provozieren, ob das hier<br />

alles so glatt im Sinn des Imperialismus über die Bühne geht oder nicht. Weil es<br />

davon abhängt, ob die Kommunisten so einfältig sind, alles mit sich machen <strong>zu</strong><br />

lassen, oder die Legalität u.a. da<strong>zu</strong> benutzen, die Illegalität <strong>zu</strong> organisieren, statt das<br />

eine vor dem anderen <strong>zu</strong> fetischisieren.<br />

30


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Das Schicksal der Black Panther Partei und das Schicksal der Gauche Proletarienne<br />

dürfte auf jener Fehleinschät<strong>zu</strong>ng basieren, die den tatsächlichen Widerspruch<br />

zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit und dessen Verschärfung, wenn<br />

Widerstand organisiert in Erscheinung tritt, nicht realisiert. Die nicht realisiert, daß<br />

sich die Bedingungen der Legalität durch aktiven Widerstand notwendigerweise<br />

verändern und daß es deshalb notwendig ist, die Legalität gleichzeitig für den<br />

politischen Kampf und für die Organisierung von Illegalität aus<strong>zu</strong>nutzen, und daß es<br />

falsch ist, auf die Illegalisierung als Schicksalsschlag durch das System <strong>zu</strong> warten,<br />

weil Illegalisierung dann gleich Zerschlagung ist und das dann die Rechnung ist,<br />

die aufgeht.<br />

Die Rote Armee Fraktion organisiert die Illegalität als Offensiv-Position für<br />

revolutionäre Intervention.<br />

Stadtguerilla machen heißt, den antiimperialistischen Kampf offensiv führen. Die<br />

Rote Armee Fraktion stellt die Verbindung her zwischen legalem und illegalem<br />

Kampf, zwischen nationalem und internationalem Kampf, zwischen politischem und<br />

bewaffnetem Kampf, zwischen der strategischen und der taktischen Bestimmung<br />

der internationalen kommunistischen Bewegung.<br />

Stadtguerilla heißt, trotz der Schwäche der revolutionären Kräfte in der<br />

Bundesrepublik und Westberlin hier und jetzt revolutionär intervenieren!<br />

Entweder sie sind ein Teil des Problems, oder sie sind ein Teil der Lösung.<br />

Dazwischen gibt es nichts. Die Scheiße ist seit Dekaden und Generationen von allen<br />

Seiten untersucht und begutachtet worden. Ich bin lediglich der Meinung, daß das<br />

meiste, was in diesem Lande vor sich geht, nicht länger analysiert <strong>zu</strong> werden<br />

braucht - sagt Cleaver.<br />

DEN BEWAFFNETEN KAMPF UNTERSTÜTZEN!<br />

SIEG IM VOLKSKRIEG!<br />

31


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Michael Sommer<br />

„DIE GÖTTER: SCHILLER, SHAKESPEARE, BÜCHNER, MARX“<br />

Elfriede Jelinek beendet den Stücktext von <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />

dankenswerterweise mit Quellenangaben – dem Titel dieses Abschnitts. Wenn auch<br />

kryptisch gehalten, sind diese Hinweise doch sehr hilfreich, weil sie Dramaturgen<br />

und Literaturwissenschaftlern das Suchen erleichtern... „Irgendwoher kenn ich doch<br />

diese Formulierung“. Der Produktionsprozess der Nobelpreisträgerin ist mit einem<br />

Fleischwolf verglichen worden, in den viele verschiedene Dinge eingefüllt werden,<br />

und aus dem am Ende eine gleichförmige Jelinekwurst herauskommt. Die Autorin<br />

hat auch in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART eine Vielzahl unterschiedlichster Texte<br />

assimiliert – in diesem Fall den wichtigsten sogar schon in den Titel integriert,<br />

nämlich Schillers MARIA STUART. Die drei Teilstücke des Jelinekschen Stückes sind<br />

parallel <strong>zu</strong> Schiller gebaut: Der erste Akt gehört dort Maria Stuart, der<br />

eingekerkerten Königin der Schotten, im zweiten Akt wird ihre Kontrahentin<br />

Elisabeth I. aufgebaut, und im dritten Akt kommt es <strong>zu</strong>r Begegnung und direkten<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng zwischen den beiden Königinnen. Entsprechend gehört Ulrike<br />

der erste Teil bei Jelinek, Gudrun der zweite, und im dritten findet der Showdown<br />

statt. Weiter gehende Parallelen, etwa zwischen Baader und Leicester und/oder<br />

Mortimer, klingen zwar an, sind aber nicht konsequent ausgeführt. So stand der<br />

„historische“ Baader einfach nicht zwischen den beiden RAF-Protagonistinnen, auch<br />

hatte Ulrike Meinhof wohl keinen Vertrauten, der einem Mortimer gleich käme. Das<br />

zweite große Palimpsest, das Jelinek in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART produziert, bezieht<br />

sich auf Shakespeares RICHARD III. Schon die erste Zeile des Stücks zitiert einen<br />

„Sohn“ aus dem Königsdrama, die Rollenbezeichnung „Die Prinzen im Tower“ für<br />

die Kinder der Ulrike weist ihnen eine ähnlich hilflose Spielballsituation <strong>zu</strong>, wie sie<br />

den rechtmäßigen Thronfolgern bei Shakespeare <strong>zu</strong>kommen, die von ihrem Onkel<br />

Richard Gloucester im Tower gefangen gehalten und später ermordet werden. Sie<br />

wachsen in eine tödliche politische Situation herein, stellen naiv-kindliche Fragen<br />

und müssen sich orientieren. Im Gegensatz <strong>zu</strong> Shakespeare lässt Jelinek ihre<br />

Prinzen freilich nicht sterben, ihre Stimmen tauchen in der <strong>Ulm</strong>er Inszenierung in<br />

der Gestalt von heutigen Linken, attac-Aktivisten auf. Der dritte große literarische<br />

Be<strong>zu</strong>gspunkt für Jelinek ist Büchners DANTONS TOD, das große Revolutionsdrama.<br />

„Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ ist das Thema, das in beiden Stücken eine<br />

große Rolle spielt. Mechanismen der Radikalisierung und Fraktionierung – bei<br />

Büchner die Robespierre-Fraktion gegen Dantons-Fraktion, bei Jelinek Ulrike gegen<br />

Gudrun/Andreas – werden durch Zitate in Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>einander gesetzt. Viele<br />

Originalzitate von Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, aus ihren Briefen, Schriften<br />

der RAF, aus dem Info-System der RAF-Gefangenen und anderen Quellen sind<br />

ebenfalls in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART eingeflossen. Überaschenderweise bezieht<br />

Jelinek auch Werke über die RAF wörtlich mit ein, so Stefan Austs bekanntes Buch<br />

„Der Baader-Meinhof-Komplex“ und Butz Peters’ „Tödlicher Irrtum: Die Geschichte<br />

der RAF“. Für alle Texte, die Jelinek in ihr Stück miteinbezieht, gilt, dass sie nicht<br />

nur zitiert und verändert, sondern auch kommentiert, sich <strong>zu</strong> Text und Autor verhält.<br />

Ihr Text ist immer auch eine Reflexion über Literatur und über das Schreiben, auch<br />

über ihre Rolle als Autorin. Oft hat man den Eindruck, dass die Stimme der Autorin<br />

durch die vielen fließend ineinander übergehenden Stimmen des Textes geistert. Ein<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Spezifikum des Textes ist es, dass Äußerungen unmittelbar wieder in Zweifel<br />

gezogen werden, dass sich die Figuren verfransen, vom eigentlichen Thema<br />

abkommen und ins Uneigentliche abgleiten: „Was wollt ich gleich noch sagen?“ –<br />

diese Formel findet sich überall im Text. Die Aufteilung des Jelinekschen<br />

Sprachflusses (der Nobelpreis wurde ihr verliehen für: „den musikalischen Fluss<br />

von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger<br />

sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen<br />

Klischees enthüllen“) – die Aufteilung des Sprachflusses auf Figuren scheint oft nur<br />

bedingt gültig <strong>zu</strong> sein. Schemen- oder besser schattenhaft werden die Konturen von<br />

Figuren erkennbar, viel stärker als deren Charakterisierung ist jedoch die<br />

charakteristische Schreibe der Autorin. Nimmt man die Reflexion ihrer Rolle als<br />

Autorin, die ständigen Zitate anderer Texte und diese Unschärfe der Figuren<br />

<strong>zu</strong>sammen, so lässt sich argumentieren, dass ein Text wie <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />

nur dann als dramatischer Text <strong>zu</strong> klassifizieren ist, wenn man ihn als Monolog der<br />

Autorin, als Selbstgespräch mit beliebig verteilten Rollen auffasst. Keinesfalls<br />

erhebt Elfriede Jelinek mit diesem Text Anspruch auf eine realistische, historisch<br />

oder politisch korrekte Repräsentationen von Wirklichkeit. Vielmehr leistet sie durch<br />

die sprachspielerische Zusammenschau von Texten, ihrer Geschichte und ihrer<br />

Wirkung eine assoziative Bewertung und Deutung von Geschichte. Gebrochen,<br />

uneigentlich, parodistisch ist die Sicht auf die Wirklichkeit, die dem Leser und<br />

Publikum in <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART präsentiert wird. Immer komplex, immer<br />

differenziert, wahrscheinlich eine Überforderung des Publikums, ein Text, mit dem<br />

man nicht fertig wird – und im besten Falle höchst unterhaltsam!<br />

Friedrich Schiller<br />

MARIA STUART<br />

I.6.<br />

Maria. In ew’gen Kerker will man mich bewahren<br />

Und meine Rache, meinen Rechtsanspruch<br />

Mit mir verscharren in Gefängnisnacht.<br />

I.6.<br />

Maria. Ich bin die Schwache, sie die Mächt’ge. – Wohl,<br />

Sie brauche die Gewalt, sie töte mich,<br />

Sie bringe ihrer Sicherheit das Opfer.<br />

Doch sie gestehe dann, dass sie die Macht<br />

Allein, nicht die Gerechtigkeit geübt.<br />

Nicht vom Gesetze borge sie das Schwert,<br />

Sich der verhassten Feindin <strong>zu</strong> entladen,<br />

Und kleide nicht in heiliges Gewand<br />

Der rohen Stärke blutiges Erkühnen.<br />

Solch Gaukelspiel betrüge nicht die Welt!<br />

Ermorden lassen kann sie mich, nicht richten!<br />

Sie geb’ es auf, mit des Verbrechens Früchten<br />

Den heil’gen Schein der Tugend <strong>zu</strong> vereinen.<br />

33


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Und was sie ist, das wage sie <strong>zu</strong> scheinen!<br />

I.8.<br />

Burleigh. O, auch die heilige Gerechtigkeit<br />

Entflieht dem Tadel nicht. Die Meinung hält es<br />

Mit dem Unglücklichen, es wird der Neid<br />

Stets den obsiegend Glücklichen verfolgen.<br />

Das Richterschwert, womit der Mann sich ziert,<br />

Verhasst ist’s in der Frauen Hand. Die Welt<br />

Glaubt nicht an die Gerechtigkeit des Weibes,<br />

Sobald ein Weib das Opfer wird. Umsonst<br />

Dass wir, die Richter, nach Gewissen sprächen!<br />

Sie hat der Gnade königliches Recht,<br />

Sie muss es brauchen; unerträglich ist’s,<br />

Wenn sie den strengen Lauf lässt dem Gesetze!<br />

I.8.<br />

Burleigh (rasch einfallend). Also soll sie leben?<br />

Nein! Sie darf nicht leben! Nimmermehr!<br />

Dies, eben Dies ist’s, was unsre Königin beängstigt –<br />

Warum der Schlaf ihr Lager flieht –<br />

Ich lese In ihren Augen ihrer Seele Kampf,<br />

Ihr Mund wagt ihre Wünsche nicht <strong>zu</strong> sprechen,<br />

Doch viel bedeutend fragt ihr stummer Blick:<br />

Ist unter allen meinen Dienern keiner,<br />

Der die verhasste Wahl mir spart, in ew’ger Furcht<br />

Auf meinem Thron <strong>zu</strong> zittern oder grausam<br />

Die Königin, die eigne Blutsverwandte,<br />

Dem Beil <strong>zu</strong> unterwerfen?<br />

III.4.<br />

Elisabeth. Wie, Mylords? Wer war es denn, der eine Tiefgebeugte<br />

Mir angekündigt? Eine Stolze find’ ich,<br />

Vom Unglück keineswegs geschmeidigt.<br />

Maria. Sei’s! Ich will mich auch noch diesem unterwerfen.<br />

Fahr’ hin, ohnmächt’ger Stolz der edeln Seele!<br />

Ich will vergessen, wer ich bin, und was<br />

Ich litt; ich will vor ihr mich niederwerfen,<br />

Die mich in diese Schmach herunterstieß.<br />

(Sie wendet sich gegen die Königin.)<br />

Der Himmel hat für euch entschieden, Schwester!<br />

Gekrönt vom Sieg ist euer glücklich Haupt,<br />

Die Gottheit bet’ ich an, die euch erhöhte!<br />

(Sie fällt vor ihr nieder.)<br />

Doch seid auch ihr nun edelmütig, Schwester!<br />

Lasst mich nicht schmachvoll liegen!<br />

34


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Euer Hand Streckt aus, reicht mir die königliche Rechte,<br />

Mich <strong>zu</strong> erheben von dem tiefen Fall!<br />

III.4.<br />

Maria (mit steigendem Affekt). Denkt an den Wechsel alles Menschlichen!<br />

Es leben Götter, die den Hochmut rächen!<br />

Verehret, fürchtet sie, die Schrecklichen,<br />

Die mich <strong>zu</strong> euren Füßen niederstürzen –<br />

Um dieser fremden Zeugen willen ehrt<br />

In mir euch selbst, entweihet, schändet nicht<br />

Das Blut der Tudor, das in meinen Adern,<br />

Wie in den euren, fließt – O Gott im Himmel!<br />

Steht nicht da, schroff und un<strong>zu</strong>gänglich, wie<br />

Die Felsenklippe, die der Strandende<br />

Vergeblich ringend <strong>zu</strong> erfassen strebt.<br />

Mein alles hängt, mein Leben, mein Geschick<br />

An meiner Worte, meiner Tränen Kraft,<br />

Löst mir das Herz, dass ich das eure rühre!<br />

Wenn ihr mich anschaut mit dem Eisesblick,<br />

Schießt sich das Herz mir schaudernd <strong>zu</strong>, der Strom<br />

Der Tränen stockt, und kaltes Eisen fesselt<br />

Die Flehensworte mir im Busen an.<br />

III.4.<br />

Maria. Womit soll ich den Anfang machen, wie<br />

Die Worte klüglich stellen, dass sie euch<br />

Das Herz ergreifen, aber nicht verletzen!<br />

O Gott, gib meiner Rede Kraft, und nimm<br />

Ihr jeden Stachel, der verwunden könnte!<br />

Kann ich doch für mich selbst nicht sprechen, ohne euch<br />

Schwer <strong>zu</strong> verklagen, und das will ich nicht. –<br />

Ihr habt an mir gehandelt, wie nicht recht ist,<br />

Denn ich bin eine Königin, wie ihr,<br />

Und ihr habt als Gefangne mich gehalten.<br />

Ich kam <strong>zu</strong> euch als eine Bittende,<br />

Und ihr, des Gastrechts heilige Gesetze,<br />

Der Völker heilig Recht in mir verhöhnend,<br />

Schlosst mich in Kerkermauern ein, die Freunde,<br />

Die Diener werden grausam mir entrissen,<br />

Unwürd’gem Mangel werd’ ich preisgegeben,<br />

Man stellt mich vor ein schimpfliches Gericht –<br />

Nichts mehr davon! Ein ewiges Vergessen<br />

Bedecke, was ich Grausames erlitt.<br />

IV.10.<br />

Elisabeth. Umgeben rings von Feinden, hält mich nur<br />

Die Volksgunst auf den angefochtnen Thron.<br />

35


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Mich <strong>zu</strong> vernichten, streben alle Mächte<br />

Des festen Landes.<br />

V.6.<br />

Maria (mit ruhiger Hoheit im ganzen Kreise herumsehend).<br />

Was klagt ihr? Warum weint ihr? Freuen solltet<br />

Ihr euch mit mir, dass meiner Leiden Ziel<br />

Nun endlich naht, dass meine Bande fallen,<br />

Mein Kerker aufgeht, und die frohe Seele sich<br />

Auf Engelsflügeln schwingt <strong>zu</strong>r ew’gen Freiheit.<br />

Da, als ich in die Macht der stolzen Feindin<br />

Gegeben war, Unwürdiges erduldend,<br />

Was einer freien großen Königin<br />

Nicht ziemt, da war es Zeit, um mich <strong>zu</strong> weinen! –<br />

Wohltätig, heilend nahet mir der Tod,<br />

Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln<br />

Bedeckt er meine Schmach – Den Menschen adelt,<br />

Den tief gesunkenen, das letzte Schicksal.<br />

Die Krone fühl’ ich wieder auf dem Haupt,<br />

Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele!<br />

Georg Büchner<br />

DANTONS TOD<br />

I.2.<br />

1. Büger. Wir sind das Volk und wir wollen, daß kein Gesetz sei, ergo ist dieser<br />

Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibts kein Gesetz mehr, ergo<br />

totgeschlagen!<br />

II.7.<br />

St. Just. Wir schließen schnell und einfach: da Alle unter den gleichen<br />

Verhältnissen geschaffen werden, so sind Alle gleich, die Unterschiede abgerechnet,<br />

welche die Natur selbst gemacht hat.<br />

IV.6.<br />

Julie. Die Sonne ist hinunter. Der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch<br />

jetzt ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. Wie schön das Abendlicht<br />

ihr um Stirn und Wangen spielt. Stets bleicher wird sie, wie eine Leiche treibt sie<br />

abwärts in der Flut des Äthers; will denn kein Arm sie bei den goldnen Locken<br />

fassen und aus dem Strom sie ziehen und sie begraben?<br />

Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, daß kein Hauch, kein Seufzer sie aus dem<br />

Schlummer wecke.<br />

Schlafe, schlafe.<br />

36


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Gudrun Ensslin.<br />

„ZIEHT DEN TRENNUNGSSTRICH, JEDE MINUTE“<br />

P. 27<br />

Ich möchte eine Jacke, und zwar einen Lumber-Jack (weißt Du? mit gestrickten<br />

Bündchen an Hals, Ärmel und Taille), Wildleder, schwarz Gr. 46, gibt’s jetzt in<br />

etlichen Läden, Selbach z.B., muß sich halt jemand ’n bißchen Mühe geben <strong>zu</strong><br />

finden; ich hoffe, daß irgendwann mal mir 1 ziviles Kleidungsstück <strong>zu</strong>gebilligt wird,<br />

und das wäre es dann; in der Zelle ist es sowieso selbst im Sommer so kalt, daß<br />

man kaum länger als 3/4 Stunden so sitzen kann, das weiß ich auch noch aus<br />

Frankfurt, es ist einfach so. Wegen der Kohle dafür, denn das Ding ist teuer, ich<br />

weiß, rede mit Groenewold.<br />

P. 40<br />

Folgendes stinkendes Machwerk <strong>zu</strong>r Bücherliste bitte: „Baader-Meinhof-Report“ –<br />

Verlag von Hase und Köhler, Mainz<br />

P. 57<br />

Schön, also der beschriebene Vorgang im Bewußtsein setzt natürlich voraus, daß ein<br />

Mensch noch das macht, was er ja soll: denken, also die Ursache von der Folge<br />

unterscheiden. Und an dem Punkt liefert die kapitalistische Gesellschaft (laß’ mal<br />

die sogenannten sozialistischen Länder hier weg, darüber reden wir auch mal –<br />

behalte nur schon jetzt im Auge, daß die Regierungen der UdSSR, der DDR usw. die<br />

revolutionäre, sozialistische Bewegung nicht ganz so, aber doch auch fürchten wie<br />

die kapitalistischen Regierungen) ein schönes Bild: die zerstörte Psyche, die total<br />

betriebene und total erreichte Trennung von „Kopf und Gefühl“ (was Du beschreibst<br />

und beklagst von Dir), von Kopf und Hand und Kopf und Votze.<br />

P. 36<br />

Bitte schick’ im nächsten Brief das Titel-Foto vom „Stern“, auf dem Andreas ist,<br />

einfach gefaltet in ’nem großen Kuvert.<br />

P. 134<br />

Der Vorwurf, die „Kritik an dem Projekt damals 69 war immer dasselbe, ob von ML<br />

oder vom SDS: daß wir die Lehrlinge überforderten. Da<strong>zu</strong> muß man nur mal die 2<br />

dicken Ordner Protokolle lesen, dann sieht man, was davon (an Schwachsinn und<br />

allerdings auch Realität, aber welche) übrigbleibt: daß die Revolution überfordert,<br />

was kein Wunder sondern Realität ist, solange die Genossen „Verbündeten“ ihre<br />

Bedingungen von ihrer Bequemlichkeit und ihrem Angsthaushalt vor Konsequenzen<br />

abhängig machen.<br />

Egal von welcher spezifischen Frage oder Gruppe Du die Sache untersuchst: du<br />

landest logisch und klar bei den allgemeinen Bedingungen. Deren Kern ist die<br />

Gewalt. Das ist natürlich der Drudenfuß. Aber entschieden mehr und tiefer für jeden<br />

Bürgerlichen als für jeden Proletarier, der von der Gewaltherrschaft (der Fabrik z.B.)<br />

mehr Vorstellung, konkret-sinnliche Erfahrung hat als unsere Sorte; er weiß nur<br />

nicht, WAS ES eigentlich ist. Wenn er das weiß, sind sein nächstes Problem die<br />

traditionellen Arbeiterapparate, denn das Problem, das ein Nebenproblem ist, wen<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

er ficken darf also will, das löst er dann mal nebenbei, sei sicher. Denn an der Macht<br />

des Überbaus trägt der Intellektuelle entschieden schwerer, das bringt die<br />

Arbeitsteilung so mit sich.<br />

P. 65<br />

Und jetzt noch ein Zitat, das vielleicht ein bißchen von dem Problem erklärt, das wir<br />

faustdick, knüppeldick, hageldick natürlich haben: wieso vom Proletariat die Rede<br />

ist und jeder Revolutionär die Aufgabe hat, vom Proletariat <strong>zu</strong> reden, auch wenn es<br />

selbst noch nicht von sich redet, geschweige denn als Subjekt handelt (als Objekt<br />

handelt die bürgerliche Klasse mit ihm. „Es handelt sich nicht darum, was dieser<br />

oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilig<br />

vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es, diesem Sein gemäß<br />

geschichtlich <strong>zu</strong> tun gezwungen sein wird.“ (Aus Marx/Engels, „Die heilige Familie“)<br />

Robert Frost<br />

STOPPING BY WOODS ON A SNOWY EVENING<br />

Whose woods these are I think I know.<br />

His house is in the village, though;<br />

He will not see me stopping here<br />

To watch his woods fill up with snow.<br />

My little horse must think it queer<br />

To stop without a farmhouse near<br />

Between the woods and frozen lake<br />

The darkest evening of the year.<br />

He gives his harness bells a shake<br />

To ask if there is some mistake.<br />

The only other sound's the sweep<br />

Of easy wind and downy flake.<br />

The woods are lovely, dark and deep,<br />

But I have promises to keep,<br />

And miles to go before I sleep,<br />

And miles to go before I sleep.<br />

Die letzen vier Zeilen wurden in dem Film TELEFON benutzt, um die russischen „Schläfer“<br />

<strong>zu</strong> wecken:<br />

Des Waldes Dunkel zieht mich an<br />

Doch muß <strong>zu</strong> meinem Wort ich steh'n<br />

Und Meilen geh'n bevor ich schlafen kann<br />

Und Meilen geh'n bevor ich schlafen kann<br />

38


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Erich Fried<br />

TIERMARKT/ANKAUF<br />

Der Polizeipräsident<br />

in Berlin sucht:<br />

Schäferhundrüden.<br />

Alter ein bis vier Jahre,<br />

mit und ohne<br />

Ahnentafel.<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ngen: einwandfreies Wesen<br />

rücksichtslose Schärfe<br />

ausgeprägter Verfolgungstrieb<br />

Schußgleichgültig<br />

und<br />

gesund<br />

Überprüfung<br />

am ungeschützten Scheintäter<br />

Hund mit Beißkorb<br />

Gezahlt werden<br />

bis <strong>zu</strong><br />

750,- DM<br />

Angebote an:<br />

Der Polizeipräsident<br />

in Berlin W-F 1<br />

1 Berlin 42<br />

Tempelhofer Damm 17<br />

Tel. 69 10 91<br />

Apparat<br />

27 61<br />

Strich 64<br />

Diese Anzeige des Polizeipräsidiums erschien im Westberliner „Tagesspiegel“ am<br />

28. Februar und 7. März 1970. 28. Februar: Reißkorb; 7. März: Beißkorb – Wortlaut<br />

nicht verändert.<br />

39


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Erich Fried<br />

DIE SÄUE VON GADARA<br />

„Zu Menschen sind wir menschlich<br />

<strong>zu</strong> einer Sau eine Sau<br />

wenn es sein muß sogar eine Wildsau“<br />

Evangelium des Markus, 5<br />

Dieses Wort eines Sprechers der Polizei<br />

nach der Verhaftung und Mißhandlung Ulrike Meinhofs<br />

macht zwar keine sachlichen Angaben <strong>zu</strong> der Frage<br />

wie mit Ulrike Meinhof verfahren wurde<br />

von Polizeibeamten<br />

deren Name auch nicht Legion ist<br />

Aber es ist besessen vom Grundgedanken<br />

„Wer ein Mensch ist und wer eine Sau<br />

das entscheidet die Polizei“<br />

Erich Fried<br />

ANGST UND ZWEIFEL<br />

Zweifle nicht<br />

an dem<br />

der dir sagt<br />

er hat Angst<br />

aber hab Angst<br />

vor dem<br />

der dir sagt<br />

er kennt keinen Zweifel<br />

Erich Fried<br />

DIE ANFRAGE<br />

Mit Verleumdung und Unterdrückung<br />

und Kommunistenverbot<br />

und Todesschüssen in Notwehr<br />

auf unbewaffnete Linke<br />

gelang es den Herrschenden<br />

eine Handvoll empörte Empörer<br />

Ulrike Meinhof<br />

Horst Mahler<br />

und einige mehr<br />

so weit <strong>zu</strong> treiben<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

daß sie den Sinn verloren<br />

für das was in dieser Gesellschaft<br />

verwirklichbar ist<br />

Was weiter geschah<br />

war eigentlich <strong>zu</strong> erwarten:<br />

Wieder Menschenjagd<br />

Wieder Todesschüsse in Notwehr<br />

die bekannten Justizmethoden<br />

die bekannten Zeitungsartikel<br />

und die Urteile gegen Horst Mahler<br />

und gegen Ulrike Meinhof<br />

Aber Anfrage an die Justiz<br />

betreffend die Länge der Strafen:<br />

Wieviel Tausend Juden<br />

muß ein Nazi ermordet haben<br />

um heute verurteilt <strong>zu</strong> werden<br />

<strong>zu</strong> so langer Haft?<br />

Erich Fried<br />

AUF DEN TOD DES GENERALBUNDESANWALTS SIEGFRIED BUBACK<br />

1<br />

Was soll ich sagen<br />

von einem toten Menschen<br />

der auf der Straße lag<br />

zerfetzt von Schüssen<br />

den ich nicht kannte<br />

und nur wenig <strong>zu</strong> kennen glaubte<br />

aus einigen seiner Taten<br />

und einigen seiner Worte?<br />

2<br />

Dieses Stück Fleisch<br />

war einmal ein Kind<br />

und spielte<br />

Dieses Stück Fleisch<br />

war einmal ein Vater<br />

voll Liebe<br />

41


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Dieses Stück Fleisch<br />

glaubte Recht <strong>zu</strong> tun<br />

und tat Unrecht<br />

Dieses Stück Fleisch<br />

war ein Mensch<br />

und wäre wahrscheinlich<br />

ein besserer Mensch<br />

gewesen<br />

in einer besseren Welt<br />

3<br />

Aber genügt das?<br />

Könnte man nicht dasselbe<br />

von anderen Menschen sagen<br />

die eingingen in die Geschichte<br />

befleckt und verurteilt<br />

vom Nachruhm<br />

ihrer Unmenschlichkeit?<br />

4<br />

Was er für Recht hielt<br />

hat Menschen<br />

schaudern gemacht<br />

Was er für Recht hielt<br />

hat dieses Recht<br />

in Verruf gebracht<br />

Seine Nachrufe waren<br />

nur so<br />

wie Nachrufe sind<br />

5<br />

Was er getan hat<br />

im Leben<br />

davon wurde mir kalt ums Herz<br />

Soll mir<br />

nun warm ums Herz werden<br />

durch seinen Tod?<br />

2


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

6<br />

Der Abscheu vor ihm<br />

half Herzen<br />

verhärten wie seines<br />

sein Tod<br />

wird helfen<br />

sein Lebenswerk fort<strong>zu</strong>setzen<br />

Sein Tod wird helfen<br />

das Denken<br />

auf ihn ab<strong>zu</strong>lenken<br />

und so <strong>zu</strong> verdecken das Unrecht<br />

von dem dieser Mensch<br />

nur ein Teil war<br />

Schon darum<br />

kann ich nicht ja sagen<br />

<strong>zu</strong> seinem Tod<br />

vor dem mir<br />

fast so sehr graut<br />

wie vor seinem Leben<br />

7<br />

Es wäre besser gewesen<br />

so ein Mensch<br />

wäre nicht so gestorben<br />

Es wäre besser gewesen<br />

ein Mensch<br />

hätte nicht so gelebt<br />

Erich Fried<br />

VERDAMMUNGSURTEIL<br />

1<br />

Sie wurde <strong>zu</strong>m<br />

politischen Wahnsinn<br />

getrieben<br />

von den politisch<br />

Normalen<br />

und deren Normen<br />

für Ulrike Meinhof<br />

43


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

2<br />

Wenn sie noch schreiben könnte<br />

sie selbst müßte ihn schreiben<br />

den endgültigen Bericht<br />

über ihren Tod<br />

und die Selbstmordbeweise<br />

sichten<br />

und einzeln<br />

erwägen<br />

und sagen<br />

wer<br />

diesen Selbstmord<br />

begangen hat<br />

Verstandsaufnahme<br />

Der Befassungsschutz<br />

verschützt die Versitzenden<br />

vor denen die den Verhörden<br />

als bestockte Beschwörer verkannt sind<br />

weil sie eine Veänderung<br />

der Lebensverdingungen wollen<br />

durch Bewandlung der Produktionsbehältnisse<br />

Ein Wohlverstallter Veramtenapparat<br />

leistet Bezicht auf eigenes kritisches Denken<br />

die Herrschenden aber halten Verratungen ab<br />

wie sie die Verherrschten<br />

davon abhalten können<br />

sich verdrückt<br />

und um ihr Leben vertrogen <strong>zu</strong> fühlen<br />

Ein Heer von Bedummern<br />

will sie <strong>zu</strong>r Selbstverherrschung erziehen<br />

und verarbeitet <strong>zu</strong> diesem Zweck<br />

die Normalbebraucher<br />

mit Verschwichtigungen<br />

und mit Betröstungen<br />

Aber seht die Behafteten<br />

und ihre verwaffneten Verwacher<br />

und was die Gerichte bezapfen<br />

vor die man sie stellt<br />

Seht euch diese Verweisbefahren an<br />

und Haftverfehle<br />

44


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

und Bestöße gegen das Grundrecht<br />

die Bedrehungen und ausweichenden Verscheide<br />

dann die Hauptbehandlungen<br />

und die begnügten Verrichterstatter<br />

und <strong>zu</strong>letzt die Beurteilten<br />

und die vergnadigten Kronzeugen<br />

Wieviel Bestellung<br />

wieviel heimliches Einbenehmen<br />

wieviel Bekommenheit angeblich beläßlicher Menschen<br />

die verstochen sind von ihren betauschbaren Rollen<br />

von Verförderungsbesprechungen<br />

oder auch nur<br />

von der Verrufung auf ihre Treue<br />

als Diener des Staates<br />

Seht die Bemarktung<br />

der menschlichen Arbeitskraft<br />

die Bezahnung der Staatsorgane<br />

in immer neuen Verreichen<br />

seht die Verleidigung der Würde des Menschen<br />

und fragt euch dann ob ihr das<br />

verjahen wollt<br />

oder beneint<br />

Erich Fried<br />

DIE FRAGEN UND DIE ANTWORTEN<br />

Wohin ist die Freiheit gegangen?<br />

In alle vier Winde<br />

Und die Demokratie?<br />

Vor die Hunde und in den Knast<br />

Wohin ist die Hoffnung gegangen?<br />

In die Verfassung<br />

Und die Enttäuschung?<br />

In ihre Auslegungen<br />

Wer hört die Gerechtigkeit an?<br />

Wo soll sie wohnen?<br />

Wann kommt die Freiheit <strong>zu</strong>rück?<br />

Wem wird sie geopfert?<br />

Wohin sind die Fragen gegangen?<br />

Zu den Scheren<br />

Was haben sie gebracht?<br />

45


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Nichts als Papier<br />

Wohin sind die Antworten gegangen?<br />

Zu den Maschinenpistolen<br />

Was haben sie gebracht?<br />

Tote und Tote<br />

Jürgen König<br />

„ETWAS ENTGLEIST" - BETTINA RÖHL ÜBER IHRE ELTERN <strong>ULRIKE</strong><br />

MEINHOF UND KLAUS RAINER RÖHL<br />

Nach Ansicht von Bettina Röhl, Autorin des Buches "So macht Kommunismus Spaß.<br />

Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte Konkret" sind nicht nur private<br />

Gründe für den Gang ihrer Mutter in den Untergrund ausschlaggebend gewesen.<br />

Ende der 60er Jahre seien ihre Eltern auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs "etwas<br />

entgleist". Neben dem Zerbrechen ihrer Ehe hätten die politischen Ereignisse Ulrike<br />

Meinhof nach Berlin getrieben.<br />

Jürgen König: Frau Röhl, wie macht denn der Kommunismus Spaß?<br />

Bettina Röhl: Ja, "So macht Kommunismus Spaß", das war so der Titel, der mir<br />

eingefallen ist, in dieser Mischung aus Berlin Geld <strong>zu</strong> bekommen für eine<br />

Zeitschrift, aber gleichzeitig im süßen Westen, im Kapitalismus <strong>zu</strong> leben und ich<br />

sage mal, nach Kampen fahren <strong>zu</strong> können, an die Riviera fahren <strong>zu</strong> können und<br />

eigentlich alle Vorteile <strong>zu</strong> haben des Westens und gleichzeitig sich eigentlich nicht<br />

um die normale wirtschaftliche Firma kümmern <strong>zu</strong> müssen, weil eben das Geld aus<br />

dem Osten da war.<br />

Und dieses Privileg genossen Ihre Eltern?<br />

Dieses Privileg genossen meine Eltern, aber sie bekamen natürlich auch die<br />

Ideologisierung auch irgendwo geliefert. Also es war so<strong>zu</strong>sagen eine doppelgleisige<br />

Sache, es gab sowohl die Finanzierung als auch die Einschät<strong>zu</strong>ng und auch<br />

so<strong>zu</strong>sagen, der moralische Anspruch, der Kommunismus und so weiter. Also das ist<br />

ja auch eine Form, sich toll <strong>zu</strong> fühlen. Man sagt, man ist für den Kommunismus, für<br />

sozial Gerechtigkeit, aber man hat eben gleichzeitig nicht die Nachteile, die eben der<br />

Kommunismus in der Ausprägung hatte, wie in der DDR oder der Sowjetunion.<br />

Sie erzählen die Geschichte Ihrer Eltern, diese Geschichte ist eng verbunden mit der<br />

Geschichte der Zeitschrift Konkret. In Hamburg herausgegeben, gesteuert aber von<br />

der illegalen West-KPD mit Sitz in Ostberlin, auch finanziert von der KPD, wie auch<br />

von der SED, bis 1964 <strong>zu</strong>nächst, dann kommt es <strong>zu</strong>m Bruch zwischen Röhl und der<br />

Partei. Dieses Verhältnis der Konkret-Truppe in Hamburg und den Geldgebern aus<br />

Ostberlin. Wer hat da eigentlich mit wem gespielt?<br />

46


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Ja, das ist eine gute Frage. Also, die ersten Kommunisten, die meine Eltern<br />

angeleitet haben, <strong>zu</strong>erst Klaus Röhl und eine Truppe und dann 1958 kam Ulrike<br />

Meinhof da<strong>zu</strong>, die eine junge Studentin war, die aus der Anti-Atomwaffenbewegung<br />

kam. Die ersten "Führungsoffiziere" waren eigentlich Kumpel, die waren ja auch erst<br />

27 und 30 Jahre alt und meine Eltern haben sich mit denen sehr, sehr gut<br />

verstanden. Das war auch glaube ich ein kumpelhaftes, kameradschaftliches<br />

Verhältnis. Es waren auch, würde ich sagen, noch quasi antifaschistische Kämpfer,<br />

die noch mit den alten kommunistischen Idealen verknüpft waren und die auch, um<br />

das Wort "so macht Kommunismus Spaß" <strong>zu</strong> sagen, die auch sehr viel Spaß an<br />

dieser Mischung hatten, zwischen Ostberlin und Hamburg und da wird also<br />

beschrieben, von denen, aber auch von anderen aus der Redaktion, dass mein Vater,<br />

so Peter Rühmkorf <strong>zu</strong>m Beispiel, mit brechtscher List immer wieder auch<br />

antikommunistische Artikel auch durchgebracht hat, also sich nicht hat gängeln<br />

lassen. Umgekehrt wird auch sicherlich dort mal ein Machtwort gesprochen worden<br />

sein. Das ergibt sich übrigens auch aus der Akte, die ich dort gefunden habe.<br />

Interessant und auch ein bisschen amüsant fand ich ja, dass so viel von Geld die<br />

Rede ist bei diesen Sachen. Also das Geld kommt aus Ostberlin, das muss immer<strong>zu</strong><br />

geheim gehalten werden, später, nachdem es dann <strong>zu</strong>m Bruch gekommen ist, hat<br />

Konkret Schulden, 40.000 bzw. 80.000 Mark. Diese Schulden sind plötzlich wie durch<br />

Geisterhand verschwunden. Man vermutet aus Ostberlin. Das ist doch amüsant,<br />

oder?<br />

Also, die ganze Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, um es mal positiv<br />

aus<strong>zu</strong>drücken. Also, wenn man sich mal überlegt, was die DDR eigentlich hingelegt<br />

hat an Misserfolgen, gerade wirtschaftlich gesehen, dann ist gerade dieses Produkt<br />

Konkret, was ja eine Osterfindung eigentlich war, um die westdeutsche Jugend <strong>zu</strong><br />

erreichen und kommunistisch <strong>zu</strong> infiltrieren, das ist eigentlich eine<br />

Erfolgsgeschichte und deshalb machte sie besonders viel Spaß. Es war das<br />

Wirtschaftswunder, <strong>zu</strong>sammen mit dem Kommunismus. Und insofern, klar, das ist<br />

eine tolle Geschichte, wo beide Seiten so<strong>zu</strong>sagen, sowohl für den Osten als auch den<br />

Westen, wo man stolz sein kann, denn es war ja nicht nur Infiltrierung, es waren ja<br />

auch Künstler, Literaten, die in dieser Zeitung schrieben und groß wurden und da ist<br />

ja eine eigene Kultur gebildet worden, die dann <strong>zu</strong> der erfolgreichsten<br />

Studentenzeitung wurde 1968.<br />

Ihre Eltern haben ja mit den Kindern <strong>zu</strong>sammen so eine Art linke Vorzeigefamilie<br />

gebildet. Irgendwann hat man dann ein feines Haus bezogen in Hamburg-<br />

Blankenese. Ihren Vater Klaus Rainer Röhl, schreiben Sie, habe es dann immer mehr<br />

<strong>zu</strong>r Süße des Kapitalismus hingezogen, vom Sozialismus habe er sich losgesagt. Wie<br />

hat Ulrike Meinhof diesen inneren Spagat zwischen - sagen wir mal - inneren<br />

Ideologie und diesem eigenen Lebensstil gemeistert?<br />

Meiner Ansicht nach war für beide Eltern, die eigentlich aus dieser KPD kamen, das<br />

war ja eine illegale KPD, das heißt sie waren auch lange Zeit wirklich verheimlicht in<br />

der Bundesrepublik, sie konnten sich nicht offen zeigen und dann dieser enorme<br />

Erfolg plötzlich ihrer Zeitung, dann war plötzlich Geld da, dann war plötzlich ein<br />

47


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Haus da, dann war plötzlich das Medienestablishment da, also von Augstein über<br />

Joachim Fest über Marcel Reich-Ranicki, Raddatz, Fernsehen, Funk usw.<br />

interessierten sich plötzlich für dieses junge, erfolgreiche Paar, für diese ernste<br />

Journalistin und für diesen Spaßmacher Röhl. Und ich glaube, dass sie beide auf<br />

diesem Höhepunkt dieses Erfolges, wo man dann plötzlich nach Kampen auf Sylt<br />

fuhr und die Zeitung plötzlich für alle sichtbar, ja eigentlich ein kapitalistisches<br />

Unternehmen war plötzlich, dass sie da beide etwas entgleist sind. Und da möchte<br />

ich doch noch da<strong>zu</strong>sagen, dass das nicht nur meinen Eltern so ging, sondern meine<br />

Eltern sind dafür eigentlich sehr exemplarisch und die Zeitschrift Konkret auch. Es<br />

ging eigentlich - glaub ich - der ganzen Partyrepublik so, und es ist ja nicht umsonst<br />

in unserer Gesellschaft, dass '68 wirklich eine Zäsur ist und da sind sehr, sehr viele<br />

Ehen zerbrochen, also mit dieser neuen Welle freier Sexualität und einer neuen Zeit<br />

und wie mein Vater dann sagte, banal, es klingt die Beatles. Es sind sehr viele<br />

entgleist und da hat jeder etwas anders drauf reagiert.<br />

Sie schreiben, dass Ihre Mutter durch die Trennung von Klaus Rainer Röhl und<br />

durch die Entdeckung, dass er sie nie geliebt hat, dass sie dadurch in den<br />

Untergrund getrieben wurde. Also, mir kam es im Moment etwas <strong>zu</strong> vereinfacht vor.<br />

Nein, das habe ich so auch nicht geschrieben, das ist eher die These des<br />

Schriftstellers Peter Rühmkorf, es wird aus diesen Partyrepubliken, da haben viele,<br />

meine Eltern, dieses Zerbrechen dieser Ehe, natürlich miterlebt, so ein ganzer<br />

Partykreis. Und da gibt es diese These schon sehr lange, schon seit dreißig Jahren.<br />

Sie ist eigentlich an der Ehe, an der Untreue meines Vaters, dem Zerbrechen dieser<br />

Ehe gescheitert. Aber das kann natürlich unter keinen Umständen der Grund sein,<br />

dass man in den Untergrund geht und das denke ich auch nicht. Sondern sie war<br />

fasziniert auch von den '68er-Ideen. Meine Eltern hatten ja 1967 Rudi Dutschke<br />

kennen gelernt und Bahman Nirumand, der ein Anführer so<strong>zu</strong>sagen dieser<br />

iranischen Opposition gegen den Schah von Persien war und sie war natürlich<br />

immer sehr politisch ausgerichtet und das, was neu war bei der 68er-Bewegung,<br />

das fand auch in Berlin statt und insofern glaube ich, waren da zwei Seiten in ihr:<br />

Einmal das Zerbrechen der Ehe und andererseits zog es sie auch nach Berlin an den<br />

Punkt, wo es wirklich politisch losging.<br />

Frau Röhl Sie bringen sehr, sehr viele Originaldokumente in Ihrem Buch, unter<br />

anderem auch den Artikel von Ulrike Meinhof über den vierfachen Kindsmörder<br />

Jürgen Bartsch, indem sie ihn von jeder individuellen Verantwortung freispricht,<br />

dafür aber der Gesellschaft vorwirft, Jürgen Bartsch, wie es heißt durch<br />

institutionalisierte Gleichgültigkeit, Misshandlung und Fehlverhalten, <strong>zu</strong>m<br />

Sexualmörder gemacht <strong>zu</strong> haben. Es fragen sich ja Historiker, Politologen immer,<br />

warum eine so intelligente Frau wie Ulrike Meinhof <strong>zu</strong> einer Terroristin werden<br />

konnte, bezogen auf diesen Artikel über Jürgen Bartsch. Wie konnte eine so kluge<br />

Frau sich so verrennen und einen vierfachen Mörder für schuldlos erklären?<br />

Also ich denke, dass meine Mutter Ulrike Meinhof an einem Punkt immer sehr weit<br />

voran war, voran eilte der Bewegung und es war damals ein aufbrechender Trend,<br />

dass man irgendwie alles so sozial erklärte, also alles war so<strong>zu</strong>sagen von der<br />

48


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Gesellschaft gemacht. Und wie immer ist sie vor allen vorneweg gestürmt und hat<br />

das, wie ich finde, in einer sehr schlimmen Weise auf den Punkt gebracht, dass sie<br />

fast einen Kindsmörder fast exkulpiert und die Gesellschaft dafür verantwortlich<br />

macht, und ich glaube, das hat sie nicht mal gemerkt. Ich habe dieses Dokument, da<br />

es nun <strong>zu</strong>fällig mitten in der Scheidungskrise, also kurz davor passiert, geschrieben<br />

wird, das kann man dann so<strong>zu</strong>sagen historisch nachsehen, auch als eine Art<br />

Abschiedsbrief empfunden, so<strong>zu</strong>sagen, sehr persönlich gesteuert, was aber sehr<br />

cool, ideologisch so verpackt ist, dass man dass nicht merkt, aber man merkt eine<br />

starke Kälte in diesem Text, denn das Erschreckende ist - um noch mal auf diesen<br />

Kindsmörder Bartsch <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kommen, der vier Jungs ermordet hat und einen<br />

fünften fast, also der konnte fliehen - diese fünf Kinder werden von ihr nicht mit<br />

einem einzigen Wort erwähnt, also nicht mal die Zahl und das ist so erschütternd<br />

eigentlich, dass man sich fragt, was war eigentlich mit ihr los, und da habe ich<br />

versucht, das mal so <strong>zu</strong> interpretieren, dass da auch sehr viel persönliche<br />

Identifikation, ein großes Unglück, doch <strong>zu</strong>m Tragen kommt, von ihr selber.<br />

Das heißt, das wäre dann auch Ihre eigene Antwort auf die Frage, wie aus der<br />

charismatischen Journalistin eine Terroristin werden konnte.<br />

Zumindest habe ich gesagt, dass sie sich in diesem Artikel mit der letzten<br />

Konsequenz des Todes und auch des Mordes beschäftigt hat und zwar mit dem<br />

Mord, dem man einem anderen Menschen antun kann, oder eben auch der<br />

Gesellschaft antun müsste, wollte man sie verändern, ganz theoretisch. Vielleicht<br />

hat sie das nicht mal gemerkt, aber ja, ich halte das für einen möglichen Schlüssel,<br />

<strong>zu</strong>mindest ihre innere seelische Verfasstheit <strong>zu</strong> ergründen.<br />

Konkret gibt es immer noch. Warum ist es jetzt nicht mehr Sprachrohr der Linken,<br />

die immerhin jetzt als Ost-West-Partei im Bundestag vertreten ist.<br />

Gute Frage. Ich bin, muss ich gestehen, seitdem die Zeitung an Hermann Gremliza<br />

gegangen ist, das war ja in meiner Kindheit, da war ich also so<strong>zu</strong>sagen kein Konkret-<br />

Leser. Aber seitdem ich erwachsen bin, bin ich selten da<strong>zu</strong> gekommen, diese<br />

Zeitschrift <strong>zu</strong> lesen. Sie läuft mir einfach nicht über den Weg und wenn ich sie mal<br />

gesehen hab, dann finde ich, ist das eine solche Bleiwüste, dass es mich eigentlich<br />

nie wirklich gereizt hat. Also ich habe erst später, so in aller jüngsten Jahren mal<br />

gewisser Maßen einen Respekt gefunden, weil der eine oder andere Schreiber doch<br />

ganz interessant ist: Wolfgang Pohrt <strong>zu</strong>m Beispiel. Aber in welche Richtung dieses<br />

Blatt eigentlich läuft, und das wird ja heute sehr kritisiert, weil sie eine linke<br />

Richtung haben, aber pro Bush sind usw. Das habe ich bis heute nicht ergründen<br />

können.<br />

49


theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Stefanie Flamm und Barbara Nolte<br />

VON DER MUTTER EINGEHOLT<br />

Er heißt Felix Ensslin. Er hat eine Ausstellung über die RAF gemacht. Er sagt, das<br />

hat nichts mit ihm persönlich <strong>zu</strong> tun<br />

Felix Ensslin hat eine Stimme, <strong>zu</strong> der man sich bei geschlossenen Augen einen<br />

gewaltigen Resonanzkörper vorstellt. Opernbässe sprechen so tief, Märchenerzähler<br />

oder Pfeifenraucher. Doch <strong>zu</strong> dem schmalen blonden Mann, der im Café Bravo in<br />

Berlin-Mitte auf seinem Stuhl herumrutscht, als wäre er schon wieder auf dem<br />

Sprung, will dieser ausgeruhte Bass einfach nicht passen. Was passt schon <strong>zu</strong><br />

einem Menschen? Die Kleidung etwa, oder der Name? Felix Ensslin trägt an diesem<br />

Nachmittag eine verwaschene Jeans, T-Shirt, darüber eine grasgrüne Strickjacke. Es<br />

ist kalt und nass draußen, die Haare gehorchen bei diesem Wetter keinem Scheitel.<br />

Er wirkt ein bisschen abwesend, seine Haltung signalisiert Abwehr. Der Oberkörper<br />

ist leicht nach vorne gebeugt, die Hände ruhen auf der Tischplatte, als müsse er sich<br />

festhalten. Er sagt, dass er sehr müde sei.<br />

Vor ein paar Wochen hatte sein erstes <strong>Theater</strong>stück Premiere, in Weimar, am<br />

kommenden Samstag wird in den Ausstellungsräumen der Berliner Kunstwerke die<br />

seit langem erwartete RAF-Schau eröffnet, die er <strong>zu</strong>sammen mit den Kuratoren<br />

Ellen Blumenstein und Klaus Biesenbach drei Jahre lang konzipiert hat. Ein Teil der<br />

Arbeiten hängt schon, der Rest muss in den nächsten Tagen noch fertig werden. Sie<br />

sind knapp dran. Nachdem das Projekt vor anderthalb Jahren heftig in die Kritik<br />

geraten war, hatte der Hauptstadtkulturfonds seine Förderung <strong>zu</strong>rückgezogen. Erst<br />

kurz vor Weihnachten konnte eine Kunstauktion im Internet das Budget sichern.<br />

Doch Ensslin ist <strong>zu</strong>versichtlich, dass sie es bis <strong>zu</strong>m 29. schaffen. Das Konzept stehe<br />

schließlich nicht erst seit drei Wochen.<br />

Er zündet sich eine Zigarette an, seine Augen heften sich prüfend auf sein<br />

Gegenüber. Felix Ensslin ist der Sohn der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, die sich<br />

im Herbst 1977 in ihrer Zelle in Stuttgart-Stammheim das Leben nahm. Er weiß,<br />

dass – egal, was er sagen wird – die Fragen sich immer auch an Gudrun Ensslins<br />

Sohn richten.<br />

Ist er wirklich der Richtige, um so eine Ausstellung <strong>zu</strong> kuratieren?<br />

„Es geht um Kunst, nicht um meine persönliche Betroffenheit.“<br />

Macht er mit dieser Ausstellung die eigene Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit seiner Mutter<br />

öffentlich?<br />

„Ich mache meine Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit Kunst, die sich mit der RAF beschäftigt,<br />

öffentlich.“<br />

Ensslin war sechs Monate alt, als seine Mutter im Frühling 1967 die Familie verließ.<br />

Nach dem 2. Juni war das. Tausende hatten an diesem Tag in Berlin gegen den<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

Besuch des persischen Schahs demonstriert, an dem ein Polizist den Studenten<br />

Benno Ohnesorg erschoss. Das Bild von seinem toten Körper, über den sich eine<br />

hübsche Frau beugt, ist bekannt. Es wurde unzählige Male vervielfältigt, verfremdet,<br />

zitiert, und es wird auch in den Kunstwerken <strong>zu</strong> sehen sein. Denn Benno Ohnesorgs<br />

Tod markiert <strong>zu</strong>mindest im Nachhinein den Zeitpunkt, an dem die<br />

Studentenbewegung sich in verschiedene Richtungen radikalisierte. Die RAF hat<br />

diesen Tag <strong>zu</strong> ihrem Schlüsseltag stilisiert. Dass die Ausstellung mit diesem Datum<br />

beginnt, kann man ihr nicht <strong>zu</strong>m Vorwurf machen, genauso wenig, dass sie mit dem<br />

1. April 1991 mit dem Rohwedder-Mord endet. Denn um diese Zeit geht es. Vor allem<br />

aber geht es um die Bilder, die sich in den letzten 30 Jahren in die Köpfe gebrannt<br />

haben und wie sie in diesen Köpfen verarbeitet wurden. Es geht um drei<br />

Generationen von Künstlern, die sich mit diesen Bildern beschäftigt haben, sagt<br />

Ensslin.<br />

Herr Ensslin, viele dieser Bilder zeigen Ihre Mutter.<br />

Ensslin nimmt einen Schluck von seinem Wasser. Er kennt diese Sätze. Er hat schon<br />

tausend Mal darauf seine Antwort gegeben. Gudrun Ensslin sei die Frau die ihn<br />

geboren habe, aber die RAF sei nicht seine Familie. Und die Ausstellung garantiert<br />

kein Familienalbum. „Unsere Ausstellung ermöglicht eine Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit<br />

der Macht der Bilder.“<br />

Aber Bilder können die RAF nicht erklären. Kunst benutzt sie als <strong>Material</strong>, mehr<br />

nicht, und muss sich deshalb gefallen lassen, dass die Opfer nun befürchten, eine<br />

Schau, die den mehrdeutigen Titel „Zur Vorstellung des Terrors“ trägt, ginge<br />

rücksichtslos über ihre Schicksale hinweg. Wenn jemand, der direkt betroffen ist,<br />

sich kritisch äußert, kann er das verstehen, sagt Ensslin. Er spricht aus Erfahrung.<br />

Auch er ist ja in gewisser Weise ein Betroffener.<br />

Ensslin ist bei einer Pflegefamilie auf der Schwäbischen Alb groß geworden, den<br />

Seilers. Sein Vater, der Schriftsteller Bernward Vesper, hatte ihn dort untergebracht,<br />

als er sich nicht mehr um ihn kümmern konnte. Der Pflegevater war Landarzt, die<br />

Pflegemutter leitete den Kirchenchor. Er hatte drei ältere Schwestern. Als 1976 der<br />

Prozess gegen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin begann, war er<br />

neun Jahre alt, ein Landbub, der sich an Vesper fast nicht mehr erinnern konnte.<br />

Gudrun Ensslin hat er <strong>zu</strong>m ersten Mal auf einem Fahndungsplakat gesehen. Es<br />

habe eine Zeit gedauert, bis er begriff, dass diese Frau etwas mit ihm <strong>zu</strong> tun hat,<br />

warum die Leute im Dorf mit dem Finger auf ihn zeigten. „Ich wurde von außen in<br />

meine Geschichte geholt, nicht von innen“, sagte er einmal in einem Interview mit<br />

der „tageszeitung“. Er hatte sich bis dahin nie gefragt, warum auf seinem Zeugnis<br />

ein anderer Name stand als bei seinen Schwestern.<br />

Die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik Geborenen können<br />

sich noch an den Terror der „Baader-Meinhof-Bande“ erinnern. An die<br />

Fahndungsplakate, die damals auf jedem Bahnhof hingen. Die meisten verbinden<br />

damit heute nicht mehr als eine dumpfe Panik. Doch bei Felix Ensslin vermischen<br />

sich Zeitgeschichte und Leben stärker als bei anderen Menschen. In seiner Biografie<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

verdichtet sich eine Epoche der Bundesrepublik, in seinem Namen der „Deutsche<br />

Herbst“ von 1977, der immer noch Fragen aufwirft, auf die es niemals einfache<br />

Antworten geben wird.<br />

Nur warum soll er diese Fragen beantworten? Haften Kinder etwa für ihre Eltern?<br />

Ensslin schüttelt den Kopf. Seine Position sei ja nun wirklich klar. Es seien<br />

mörderische Taten gewesen, die <strong>zu</strong> Unrecht begangen und <strong>zu</strong> Recht bestraft<br />

wurden. Auch Leute, die weit links von ihm stünden, sähen das nicht anders.<br />

Felix Ensslin ist 37 Jahre alt, bald wird er älter sein, als seine Mutter je wurde. Er hat<br />

in New York Philosophie und Drama studiert und an der renommierten New Yorker<br />

New School of Social Research gelehrt. Mitte der 90er Jahre wurde er<br />

wissenschaftlicher Referent der Grünen-Politikerin Antje Vollmer, später leitete er<br />

das Büro ihres Parteikollegen Rezzo Schlauch. Er soll ziemlich gut in diesem Job<br />

gewesen sein. Auch sein erstes <strong>Theater</strong>stück „Durch einen Spiegel in ein dunkles<br />

Bild“ bekam durch die Bank begeisterte Kritiken und trug ihm den Ruf ein, ein<br />

unzeitgemäßer Sprachkünstler <strong>zu</strong> sein.<br />

Als nächstes will er in Weimar Schillers „Räuber“ inszenieren. Das ist im<br />

Schillerjahr nahe liegend, <strong>zu</strong>mal für einen aufstrebenden jungen <strong>Theater</strong>mann.<br />

Doch wenn dieser aufstrebende junge <strong>Theater</strong>mann Felix Ensslin heißt, wird sich<br />

garantiert ein Kritiker finden, der sagt, Schillers gesetzloser, marodierender<br />

Räuberhauptmann Franz Moor sei so etwas wie der Andreas Baader des 18.<br />

Jahrhunderts gewesen, weshalb Ensslin im Grunde ein RAF-Stück inszeniert habe.<br />

Er hebt die Schultern. Sicher. Er kann niemanden daran hindern, so <strong>zu</strong> tun, als sei er<br />

der einzige Mensch auf Erden, der sich an seiner Familie abarbeiten muss, bloß weil<br />

diese Familie relativ bekannt ist und auch sein Name in den Quellen und<br />

Interpretationen dieser Zeit immer wieder eine Rolle spielt.<br />

In den Briefen, die Gudrun Ensslin aus dem Gefängnis an ihren Exfreund Vesper<br />

schickt, geht es meistens um ihn, in Vespers Autobiografie „Die Reise“ heißt er „die<br />

kleine Sonne“, in „Die bleierne Zeit“, Margarethe von Trottas Film über die Ensslin-<br />

Schwestern, heißt er Jan. Dieser Jan zerreißt in der letzten Szene das Bild seiner<br />

Mutter. „Ich will alles wissen“, sagt er dabei. Das war ein klarer Auftrag, doch mit 17,<br />

so alt war Felix Ensslin, als er den Film sah, muss ihm das vorgekommen sein wie<br />

ein Fluch. Heute sagt er, er habe kein engeres Verhältnis <strong>zu</strong>r RAF als andere<br />

Menschen seines Alters auch.<br />

Doch warum kuratiert er dann diese Ausstellung? Warum stellt er sich bewusst in<br />

den Kontext, in dem er nie gesehen werden wollte? Weil er testen will, wie die<br />

Öffentlichkeit reagiert, jetzt wo die RAF seit mehr als zehn Jahren Geschichte ist?<br />

Weil er den eigenen Namen historisieren will? Oder weil er die Aufträge, die an ihn<br />

herangetragen werden, eben doch noch erfüllen will?<br />

Er starrt auf seine Zigarettenschachtel, dann auf das Aufnahmegerät auf dem Tisch.<br />

Bevor ihm das Gespräch entgleitet, drückt er jetzt lieber die Stopp-Taste. Sein Blick<br />

sagt: Jetzt reicht’s. Leute, die ihn länger kennen, sagen der Ensslin sei ein<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

„Vollprofi“. Während der acht Jahre, die er für die Grünen arbeitete, hat er für Antje<br />

Vollmer und Rezzo Schlauch Reden geschrieben und Interviews gegengelesen. Er<br />

weiß, dass ein einziges unbedachtes Wort eine lange Diskussion lostreten kann, dass<br />

Zitate ein prekäres Eigenleben entwickeln können und dass sich <strong>zu</strong> viel Offenheit am<br />

Ende möglicherweise gegen einen selbst und die eigene Arbeit wendet.<br />

„Ich habe in meinem Leben schon viele Angebote erhalten, mich <strong>zu</strong>r RAF <strong>zu</strong> äußern,<br />

das Angebot der Kunstwerke hat meine Leidenschaften getroffen.“ Das ist der<br />

persönlichste Satz, den er in den letzten Wochen öffentlich gesagt hat. Am Tisch im<br />

Café Bravo ist er nicht gefallen. Felix Ensslin geht, ohne sich <strong>zu</strong> verabschieden. Sein<br />

Wasserglas ist nach zweieinhalb Stunden noch immer halb voll.<br />

LITERATUREMPFEHLUNGEN ZU <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />

* Stefan Aust. Der Baader Meinhof Komplex. München: Goldmann, 1998.<br />

Erstausgabe 1985.<br />

Pieter H. Bakker Schut. Das Info. Briefe der Gefangenen aus der RAF 1973 - 1977.<br />

Kiel: Neuer Malik Verlag, 1987.<br />

Heinrich Breloer. Todesspiel: Von der Schleyer-Entführung bis Mogadischu: Eine<br />

dokumentarische Erzählung. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1997. Dritte Ausgabe.<br />

Peter Brückner. Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse. Berlin:<br />

Wagenbach, 2001 (Neuausgabe). Erstausgabe 1976.<br />

Georg Büchner. Dantons Tod. Stuttgart: Reclam, 2005.<br />

Albert Camus. Der Mensch der Revolte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993.<br />

Gretchen Dutschke. Rudi Dutschke. Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben.<br />

* Gudrun Ensslin. „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“. Hamburg: Konkret<br />

Literatur Verlag, 2005.<br />

Jörg Fauser. Rohstoff. Frankfurt: Ullstein, 1984.<br />

Manfred Funke. Extremismus im demokratischen Rechtsstaat. Bonn:<br />

Bundeszentrale für Bildung, 1978.<br />

Klaus Jünschke. Spätlese: Texte <strong>zu</strong> RAF und Knast. Frankfurt/Main: Verlag Neue<br />

Kritik, 1988.<br />

* Tony Kushner. Engel in Amerika. Zwei Teile. Frankfurt/Main: Fischer <strong>Theater</strong><br />

Verlag, 1993.<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

* Wolfgang Kraushaar (Hg.). Die RAF und der linke Terrorismus. Zwei Bände.<br />

Hamburg: Hamburger Edition HIS, 2006.<br />

Ulrike Marie Meinhof. Bambule. Berlin: Wagenbach, 1994 (Neuausgabe).<br />

Erstausgabe 1971.<br />

Ulrike Marie Meinhof. Die Würde des Menschen ist antastbar: Aufsätze und<br />

Polemiken. Berlin: Wagenbach, 1981.<br />

* Ulrike Marie Meinhof. Dokumente einer Rebellion: 10 Jahre konkret-Kolumnen.<br />

Hamburg: konkret Buchverlag, 1972.<br />

* Kurt Oesterle. Stammheim: Der Voll<strong>zu</strong>gsbeamte Horst Bubeck und die RAF-<br />

Häftlinge. München: Heyne, 2005.<br />

* Butz Peters. Tödlicher Irrtum: Die RAF in Deutschland. Scherz: 2004. Zweite<br />

Auflage.<br />

Klaus Pflieger. Die Rote Armee Fraktion - RAF. Baden-Baden : Nomos Verl.-Ges.,<br />

2004<br />

* Alois Prinz. Lieber wütend als traurig: Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie<br />

Meinhof. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz & Gelberg, 2003.<br />

Astrid Proll. Hans und Grete: Bilder der RAF 1967-1977. Berlin: Aufbau Verlag, 2004.<br />

Bettina Röhl e.a. So macht Kommunismus Spaß! Hamburg : Europ. Verl.-Anst., 2006<br />

Gabriele Rollnik und Daniel Dubbe. Keine Angst vor niemand: Über die Siebziger, die<br />

Bewegung 2. Juni und die RAF. Edition Nautilus. Hamburg: Verlag Lutz<br />

Schulenburg, 2003.<br />

* Friedrich Schiller. Maria Stuart. München: DTV, 1997. Nachdruck der Erstausgabe<br />

von 1804.<br />

Anne Siemens. Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere<br />

Geschichte des deutschen Terrorismus. München 20<strong>07</strong>.<br />

* Klaus Stern und Jörg Herrmann. Andreas Baader: Das Leben eines Staatsfeindes.<br />

München: DTV, 20<strong>07</strong>.<br />

Peter Waldmann. Terrorismus. Provokation der Macht. München 1998<br />

Albrecht Wellmer. „Terrorismus und Gesellschaftskritik: Kritik und Krise“ in Jürgen<br />

Habermas (Hg.) Stichworte <strong>zu</strong>r geistigen Situation der Zeit. Frankfurt/Main:<br />

Suhrkamp, 1979. P. 265-293.<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

FILMEMPFEHLUNGEN ZU <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />

Gerd Conradt. Starbuck Holger Meins. D, 2004.<br />

Heinrich Breloer. Todesspiel. D, 2003.<br />

Rainer Werner Fassbinder, Die dritte Generation. D, 1979.<br />

Reinhard Hauff. Messer im Kopf. D, 1978.<br />

Reinhard Hauff. Stammheim. D, 1986. Mit Sabine Wegner in der Rolle der Gudrun<br />

Ensslin; nach dem Buch von Stefan Aust.<br />

Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder, Alf Brustellin,<br />

Bernhard Sinkel u.a. Deutschland im Herbst. D, 1977.<br />

Christopher Roth. Baader. D, 2002.<br />

Jan Tilman Schade. Black Box BRD. D, 2002.<br />

Margarethe von Trotta. Die bleierne Zeit. D, 1981.<br />

INTERNETRESSOURCEN ZU <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART<br />

Für die Inhalte und das Angebot der hier angegebenen Web-Adressen übernimmt<br />

das <strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> keinerlei Verantwortung oder Haftung.<br />

http://www.rafinfo.de<br />

Allgemeine Informationen <strong>zu</strong>r RAF<br />

http://www.nadir.org/<br />

Texte und <strong>Material</strong>ien <strong>zu</strong>r RAF<br />

http://www.elfriedejelinek.com/<br />

Homepage von Elfriede Jelinek mit vielen Texten und Informationen <strong>zu</strong>r Autorin<br />

http://www.jva-stuttgart.de/<br />

Homepage der JVA Stuttgart-Stammheim<br />

http://www.ludwigsburg.strafvoll<strong>zu</strong>gsmuseum.de/<br />

Im Strafvoll<strong>zu</strong>gsmuseum Ludwigsburg lagern einige Habseligkeiten und in der Haft<br />

gebaute Gegenstände der RAF-Gefangenen.<br />

http://www.bundesarchiv.de/<br />

Reproduktionen von Original-Kassibern und Dokumenten der RAF<br />

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theater ulm <strong>ULRIKE</strong> MARIA STUART Begleitmaterial<br />

http://www.bettinaroehl.de/<br />

Homepage der Tochter von Ulrike Meinhof, sie ist Journalistin und Publizistin<br />

QUELLENNACHWEIS<br />

Georg Büchner, DANTONS TOD. Stuttgart: Reclam, 2005.<br />

Gudrun Ensslin, „ZIEHT DEN TRENNUNGSSTRICH, JEDE MINUTE“. Hamburg:<br />

Konkret Literatur Verlag, 2005.<br />

Stefanie Flamm und Barbara Nolte, VON DER MUTTER EINGEHOLT, von<br />

http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Die-Dritte-Seite;art705,2230306, 13.<strong>07</strong>.20<strong>07</strong>,<br />

12.00 CET.<br />

Erich Fried, Gedichte aus GRÜNDE: GESAMMELTE GEDICHTE. Berlin : Wagenbach,<br />

1989.<br />

Robert Frost, STOPPING BY WOODS ON A SNOWY EVENING, von<br />

http://www.loc.gov/exhibits/british/images/vc195c.jpg, 13.<strong>07</strong>.20<strong>07</strong>, 12.00 CET.<br />

Elfriede Jelinek, ICH MÖCHTE SEICHT SEIN, in: <strong>Theater</strong> Heute Jahrbuch 1983, S. 102.<br />

Elfriede Jelinek, IM ABSEITS, von www.elfriedejelinek.com, 13.<strong>07</strong>.20<strong>07</strong>, 12.00 CET.<br />

Jürgen König, „ETWAS ENTGLEIST" - BETTINA RÖHL ÜBER IHRE ELTERN <strong>ULRIKE</strong><br />

MEINHOF UND KLAUS RAINER RÖHL, von<br />

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kulturinterview/485960, 13.<strong>07</strong>.20<strong>07</strong>, 12.00<br />

CET.<br />

Rote Armee Fraktion, DAS KONZEPT STADTGUERILLA, von<br />

http://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php, 13.<strong>07</strong>.20<strong>07</strong>, 12.00 CET.<br />

Friedrich Schiller, MARIA STUART. München: DTV, 1997. Nachdruck der Erstausgabe<br />

von 1804.<br />

Michael Sommer, BIOGRAFISCHES ZU ELFRIEDE JELINEK, STATIONEN DER RAF BIS<br />

ZUM „DEUTSCHEN HERBST“,„DIE GÖTTER: SCHILLER, SHAKESPEARE, BÜCHNER,<br />

MARX“ – Originalbeiträge, ich zitiere aus Stefan Aust, Butz Peters, dem kritischen<br />

Lexikon der Gegenwartsliteratur.<br />

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