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Mai 2012 - Bürgerblick

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Schicksale<br />

Von HENRIE LAIB<br />

Barßel – Erika Neuser ist eine<br />

bemerkenswerte Frau. Die<br />

Rentnerin lebt seit 2006 allein<br />

im Seemannsort in einer<br />

schmucken Dachgeschosswohnung.<br />

Wir haben uns in<br />

einer Physiotherapiepraxis<br />

kennengelernt. Ich war als<br />

Fotograf dort, sie als Patientin.<br />

Seit einer schweren<br />

Krankheit ist sie gehbehindert.<br />

Wäre ich nicht so neugierig<br />

gewesen, hätte ich<br />

nie erfahren, dass sich hinter<br />

der 68-Jährigen eine beeindruckende<br />

Lebensgeschichte<br />

verbirgt. Erika Neuser redet<br />

nicht viel. Vor allem nicht<br />

über ihr Schicksal, das sie<br />

schon seit ihrer frühesten<br />

Kindheit sehr geprägt hat.<br />

Ihre Lebensgeschichte ist die<br />

eines kleinen Mädchens, das<br />

sich von ihrer Mutter nie hat<br />

verstanden gefühlt. Gefühllos<br />

sei die Mutter gewesen.<br />

Kalt. „Sie hat mich immer<br />

spüren lassen, dass ich in ihren<br />

Augen nichts wert bin.<br />

Nein, Liebe habe ich nie von<br />

meiner Mutter erfahren.“<br />

Ihr Vater sei ein seelenguter<br />

Mensch gewesen, habe aber<br />

zu Hause nichts zu melden<br />

gehabt. Bei Spaziergängen<br />

habe sie immer mehrere<br />

Schritte hinter ihrer Mutter<br />

gehen müssen, damals in<br />

den 50er Jahren. „Sie hat<br />

mir immer zugezischt: ‚Bleib<br />

bloß hinter mir, die Leute<br />

sollen nicht sehen, dass du<br />

zu mir gehörst!‘“<br />

Erst viel später, als sie zur<br />

Schule ging, hat die junge<br />

Erika von einer Freundin erfahren,<br />

dass ihre Eltern nicht<br />

ihre leiblichen sind. „Meine<br />

Freundin hatte das von ihren<br />

Eltern erzählt bekommen,<br />

sollte mir aber nichts darüber<br />

sagen.“ Die Freundin<br />

hat es trotzdem getan. „Ich<br />

war zwar geschockt, aber<br />

Erika Neuser (68) aus Barßel durchlebte eine schlimme Kindheit!<br />

Wenn Mutterliebe ein Fremdwort ist<br />

ich habe eigentlich immer<br />

gespürt, dass mit meinen<br />

Eltern etwas nicht stimmte.<br />

Meinen Vater mochte ich,<br />

aber meine Mutter, nein, das<br />

konnte nicht meine richtige<br />

Mutter sein, habe ich immer<br />

gedacht. So geht doch eine<br />

Mutter nicht mit ihrem Kind<br />

um. Andere Kinder bekamen<br />

soviel Mutterliebe zu spüren,<br />

ich nie.“<br />

Anfang 20 machte sich die<br />

junge Frau dann auf die Suche<br />

nach ihren leiblichen<br />

Eltern. Und ein Verdacht,<br />

den sie schon immer hatte,<br />

erhärtete sich. „Meine leibliche<br />

Mutter war Französin.<br />

Mein leiblicher Vater ein Belgier.<br />

Kurz vor meiner Geburt<br />

1943 wurde er von deutschen<br />

Wehrmachtssoldaten<br />

erschossen. Er hat mich nie<br />

gesehen. Meine Mutter war<br />

während meiner Geburt in<br />

Kassel und musste die Stadt<br />

kurz danach verlassen. Ich<br />

kam als Baby in ein Heim und<br />

wurde von einer deutschen<br />

Familie adoptiert. So kam ich<br />

zu der Mutter, die mir immer<br />

zu spüren gegeben hat, dass<br />

ich nichts wert sei.“<br />

Erika Neuser ist selbst Mutter<br />

von drei Kindern. Sie<br />

hat zwei Töchter und einen<br />

Sohn. Sie hat vier Enkel und<br />

zwei Urenkel. Und ich denke,<br />

dass bei ihrem Schicksal ihre<br />

Kinder, Enkel und Urenkel<br />

eine wunderbare, eine liebevolle<br />

Oma haben, die ihnen<br />

viel Liebe schenkt. Ihre leibliche<br />

Mutter hat Erika Neuser<br />

lange gesucht – und 1965<br />

auch gefunden. Das Franzö-<br />

Erlebte eine schlimme Kindheit: Dr. phil. Erika Neuser<br />

sische Rote Kreuz hatte ihre<br />

geholfen. Es kam auch zu<br />

einem Treffen. Erika Neuser<br />

fuhr 1973 mit ihrem VW<br />

nach Südfrankreich, lernte<br />

Jeaninne, ihre leibliche Mutter,<br />

kennen. Und auch ihre<br />

Stiefgeschwister. Dabei blieb<br />

es. Eine richtige familiäre Beziehung<br />

wurde es nie.<br />

Doch durch ihre schwere<br />

Kindheit und die fehlende<br />

Mutterliebe entwickelte Eri-<br />

Seite 26<br />

ka Neuser einen unglaublichen<br />

Willen, es ihrer kaltherzigen<br />

Mutter auch nach<br />

deren Tode zu zeigen. „Du<br />

bist nichts wert!“. Dieser<br />

Satz hatte sich tief in die<br />

Seele von Erika Neuser gebrannt.<br />

Und so kam es, dass<br />

die gelernte Industrie-Fachwirtin,<br />

die bei einem großen<br />

japanischen Automobilhersteller<br />

in Hessen gearbeitet<br />

hatte, nach ihrer Rente einen<br />

Entschluss fasste: Sie begann<br />

im Alter von 63 Jahren<br />

noch zu studieren. Und zwar<br />

Philosophie, philosophische<br />

Theologie und Psychologie<br />

an den Universitäten <strong>Mai</strong>nz<br />

und Heidelberg. Damit nicht<br />

genug. Erika Neuser promovierte<br />

auch. Und so ist sie<br />

heute nicht einfach die Erika,<br />

sondern Frau Dr. phil. Erika<br />

Neuser. Darauf, so denke<br />

ich, kann sie sehr stolz sein.<br />

Zumal sie ihren Doktor 2006<br />

mit „summa cum laude“,<br />

also „mit höchstem Lob“,<br />

abgeschlossen hat. Soviel<br />

Engagement und Durchsetzungsvermögen<br />

im Alter nötigt<br />

einem den allergrößten<br />

Respekt ab.<br />

Jetzt, mit 68 Jahren, will Dr.<br />

Erika Neuser anderen Menschen<br />

helfen. „Nachdem ich<br />

mehrere schwere Erkrankungen<br />

überstanden habe,<br />

widme ich mich jetzt gerne<br />

hilfesuchenden Menschen.<br />

Meine selbstgewonnenen<br />

Erfahrungen lassen ein besseres<br />

Verständnis zu, dass<br />

auch aus einer Sackgasse der<br />

ein oder andere Weg gefunden<br />

werden kann.“<br />

Deshalb veröffentlichen wir<br />

hier einen Artikel der Barßeler<br />

Bürgerin Dr. Erika Neuser.<br />

Wer Ihre Hilfe als Gesprächstherapeutin<br />

in Anspruch<br />

nehmen möchte, kann Dr.<br />

phil. Erika Neuser unter der<br />

Telefonnummer (04499)<br />

918054 erreichen.

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